Yasemin Dinekli: Ich muss es zugeben, wir hatten in der Condorcet-Redaktion etwas ambivalente Gefühle, als wir erfuhren, dass du dich entschlossen hattest, wieder zu unterrichten und das noch als Klassenlehrer an einer 3. Klasse.
Alain Pichard: Ich ahne, was da kommt (lacht).
Wir haben ja grosse Dinge vor mit dem Blog, und jetzt ist der Antreiber dieses ganzen Ausbaus wieder voll am Unterrichten. Da leidet doch alles, oder?
In der Tat ist der Spagat als Publizist, Bloggründer, Grossrat und jetzt noch Klassenlehrer ohne Abstriche nicht zu bewältigen … vor allem, wenn man bedenkt, dass ich ja nicht jünger werde.
Und wo machst du die Abstriche?
Überall: im Grossrat, im Blog und auch beim Unterrichten.
Kommt deshalb der lange geplante Podcast nicht zustande?
Unter anderem, ja. Aber auch im kantonalen Parlament und in der Bildungskommission musste ich Projekte zurückstellen. Und – das war immer meine Überzeugung – die Tätigkeit als Klassenlehrer verträgt sich nicht mit einem politischen Mandat wie dem Kantonalen Parlament.
Warum? Es gibt doch im Parlament viele Lehrer.
Ich spreche für mich. Ich hätte ja 2014 schon in den Grossen Rat nachrutschen können, verzichtete aber, da ich kurz zuvor eine 7. Sekundarklasse übernommen hatte. Ein guter Unterricht muss immer noch gründlich vorbereitet werden, und zwar fast jede Lektion, und eine Klassenführung beansprucht dich ja ohnehin stark.
Und warum bist du nicht aus dem Parlament ausgetreten bzw. warum hast du diese Stelle übernommen?
Ich arbeite mit einem reduzierten Pensum von 60%, das ist der Kompromiss. Eigentlich benötigt diese Klasse, die ich jetzt führe, meine volle Kraft, will heissen, 100%! Hier in Pieterlen bin ich als Notnagel tätig, im Grossrat vom Volk gewählt. Ein Dilemma bleibt es …
Wie ist es zu diesem Engagement gekommen?
Die Situation in Pieterlen ist bekannt. Kurz vor den Sommerferien standen 12 der 18 Klassen des 2. Zyklus ohne Lehrkräfte da. Auch die Schulleitung hatte gekündigt. In Ihrer Not rief die kantonale Bildungsdirektion meine Frau an, die lange Zeit die Geschicke des OSZ-Mett-Bözingen leitete (der Condorcet-Blog berichtete darüber) und ebenfalls seit einem Jahr pensioniert ist. Sie sagte nach reiflicher Überlegung zu und es gelang ihr, innert kürzester Frist fast 20 Lehrkräfte zu finden: Pensionierte, PH-Studenten in Ausbildung und Leute ohne ein Lehrdiplom. Eine Stelle konnte nicht besetzt werden. Dort löste man die Klasse auf und verteilte sie auf die beiden anderen Klassen.
Ist das der Grund für die extrem hohe Schülerzahl von 29?
Genau. Und bei einer dieser Klassen gab es wieder einen Ausstieg einer Lehrkraft und dann noch einen. Schliesslich bat mich meine Frau einzusteigen.
Was ist in Pieterlen passiert?
Die Gemeinde hat auf fast allen Ebenen falsche Entscheidungen getroffen. Aber sie befindet sich in einer Neuaufstellung. Deshalb möchte ich hier nicht Vergangenes interpretieren. Nur so viel: Ein Neustart wird ohne Aufarbeitung des Vergangenen kaum möglich sein.
Dann kommen wir zur Gegenwart. Man ist sich von dir ja schon einiges gewohnt. Aber du hast noch nie in einer 3. Klasse unterrichtet. Kannst du das überhaupt?
Nun, die Lehrtätigkeit unterliegt ja gewissen Regeln, die sich aus der Pädagogik und der Psychologie herleiten. Ein völlig anderer Beruf ist es nicht, und ich gehöre noch zu der «Aebli-Generation» und habe im staatlichen Seminar eine umfassende Ausbildung – sprich ein Generalpatent – erworben. Aber du hast recht. Das Unterrichten an einer 3. Klasse unterscheidet sich stark vom Unterricht an der Oberstufe.
Ich denke, da könnte die Flughöhe ein Problem darstellen?
Genau, mir fehlte zu Beginn die Messlatte. Und natürlich musste ich auch meine zuweilen etwas forsche und sarkastische Kommunikation im Zaume halten (lacht)!
Da ist mir aufgefallen, dass viele Texte, viele Mathaufgaben voller Fehler, aber kaum korrigiert waren. Die Klasse war verwildert. Die Kinder hatten die Segnungen der Schulreformen genossen, lagen oft am Boden und machten selbstorganisiert irgendetwas.
Kinder in diesem Alter nehmen alles ernst, Ironie funktioniert nicht …
Als ich einem Schüler, der wiederholt seine Sachen zu Hause vergessen hatte, fragte: «Wo möchtest du eigentlich lernen? In der Schule oder zu Hause?», antwortete dieser: «Darf ich nach Hause gehen?»
Wie bist du vorgegangen?
Grundsätzlich – und das gilt auch für die Oberstufe – muss jede Unterrichtsstunde ordentlich vorbereitet werden. Ich habe die geplanten Herbstferien sausen lassen, mir mit Christine Staehelin (ebenfalls Condorcet-Autorin und langjährige Unterstufenlehrerin) einen Coach besorgt, mich in die Lehrmittel vertieft und die Hefte der Schülerinnen und Schüler angeschaut. Da ist mir aufgefallen, dass viele Texte, viele Mathaufgaben voller Fehler, aber kaum korrigiert waren. Die Klasse war verwildert. Die Kinder hatten die Segnungen der Schulreformen genossen, lagen oft am Boden und machten selbstorganisiert irgendetwas.
Es herrschte Chaos?
Ich will hier nicht alles schlechtreden, aber es stimmt, ein Unterricht, in dem die Kinder im üblichen Rahmen gelernt hätten, war nicht möglich. Und dann kamen noch die vielen Lehrerwechsel dazu, einige ohne Lehrdiplom.
Wie kommst du darauf, du hattest ja keine Ahnung von den Leistungserwartungen an 3.-Klässler?
Erstens habe ich meiner Kollegin Christine Staehelin Texte und kleinere Übungen gezeigt. Sie ist eine langjährige erfahrene Primarlehrerin. Dann haben wir – vor allem durch das energische Handeln der zuständigen Schulleiterin (Frau Wiederkehr, die Frau von Alain Pichard, Anm. der Redaktion) – ein Screening gemacht, das den Stand nach der 2. Klasse eruieren sollte, und zwar im Lesen, Schreiben und Rechnen. Diese Ergebnisse hatten es in sich. Es gab 2 Schüler, die sehr gut waren und zwei weitere, die gut abschnitten. Im Fach Mathematik gab es insgesamt 8 Schüler und Schülerinnen mit guten und sehr guten Ergebnissen. Doch der Hammer war, dass es kaum einen Mittelbau gab, also kaum Lernende, die genügende bis gute Leistungen erzielten. Die grosse Mehrheit von 20 Schülerinnen und Schülern erreichte die geforderten Leistungen nicht, viele von ihnen waren weit entfernt von den Standards. Und das deckte sich auch mit meinen ersten Korrekturen der eingehenden Arbeiten.
Nun, es entspricht genau dem, was wir immer wieder sagen, wenn wir diese «Neoreformen» der Bildungselite kritisieren. Die guten Schülerinnen und Schüler haben Eltern, die ihre Kinder unterstützen, ihnen über diese Zeit hinweggeholfen und zum Teil selbst zu unterrichten begonnen haben – und diese Eltern sind allesamt aus dem Mittelstand und deutschsprachig.
Ein starkes Stück, wie interpretierst du das?
Nun, es entspricht genau dem, was wir immer wieder sagen, wenn wir diese «Neoreformen» der Bildungselite kritisieren. Die guten Schülerinnen und Schüler haben Eltern, die ihre Kinder unterstützen, ihnen über diese Zeit hinweggeholfen und zum Teil selbst zu unterrichten begonnen haben – und diese Eltern sind allesamt aus dem Mittelstand und deutschsprachig. In der Klasse hingegen lernen 80% der Kinder, die zu Hause kein Deutsch sprechen und überdies teilweise in sozioökonomisch schwierigem Umfeld aufgewachsen sind. Alle diese Kinder sind in der turbulenten Zeit unter die Räder geraten.
Von dem Augenblick an waren sie in dem Raum, in dem meine Regeln galten.
Noch einmal die Frage: Wie bist du mit dieser Situation umgegangen?
Meine Vorgängerin hatte mit den Schülern die «Räume» durchgenommen und dabei viele Blätter kopiert, die überall herumlagen. Darauf gab es Fragen und Aufträge, die weit über dem Verstehensvermögen der meisten Kinder lagen. Ich erklärte ihnen einen Raum: das Klassenzimmer. Ich stellte die Sitzordnung zum Hufeisen um, was nicht vollständig gelang, weil das grosse Klassenzimmer 29 Schülerinnen und Schüler beherbergen musste. Sie konnten nicht mehr einfach hereintrudeln, sondern mussten vor der Türe warten, bis mein Team und ich die Türe aufschlossen. Dann gaben wir jedem die Hand und begrüssten sie. Von dem Augenblick an betraten sie den Raum, in dem meine Regeln galten.
Ich muss lachen, du bist doch sonst eher gegen Verbote und Regeln. Gab es ein Regelplakat?
Du meinst diese lächerlichen ellenlangen Regelplakate … Nein, dann hätte ich gar nicht unterrichten können. Ich erklärte es Ihnen mit «Learning by Doing» und sie lernten schnell. Es gab einen strikt geführten, gut vorbereiteten und stark strukturierten Unterricht. Der Lärmpegel musste sinken, er war zu Beginn schrecklich. Sämtliche Arbeiten wurden korrigiert, ein Aufgabenheft geführt, die Eltern wurden stets einbezogen und informiert. Und diese Eltern zogen mehrheitlich vollkommen mit, viele von Ihnen unterstützten mich tatkräftig, begleiteten mich auf Ausflügen oder organisierten einen Apéro zu unserer Vernissage. Das hatte ich so noch selten erlebt.
Wie gehen die Kinder mit dem Wandel um?
Viel besser als angenommen. Der Lärmpegel ist zwar immer noch zu hoch, aber nicht mehr vergleichbar. Die Kinder merken, dass es jetzt gilt, dass ihr Handeln Konsequenzen hat und – dass sie Erfolge erzielen konnten.
Ich gebe keine Strafaufgaben. Und die beste Disziplinierungsmethode ist immer noch ein interessanter, gut vorbereiteter und strukturierter Unterricht mit einem präsenten Lehrer, der für sein Handeln und damit auch für den Lernerfolg die Verantwortung übernimmt.
Was meinst du mit Konsequenzen? Strafaufgaben?
Ich gebe keine Strafaufgaben. Ich führe zwar eine Strichliste, aber nur für mich, für Standortgespräche. Mit Konsequenzen meine ich, dass die Schüler spüren, dass das, was sie machen, einen Wert hat, beurteilt wird. Bei den eigenständigen Texten, die ich sie in grosser Kadenz schreiben lasse, mahne ich immer an: Das ist eure Botschaft, ihr müsst stolz darauf sein. Mein Team und ich – ich habe zwei Hilfslehrkräfte – korrigieren und geben ohne Unterbruch Rückmeldungen. Es gibt Überarbeitungen noch und noch. Und die Eltern werden immer informiert. Es hat fast einen Monat gebraucht, bis die Elternkommunikation für alle funktionierte. Das lag aber nicht an den Eltern, sondern auch an dem nicht immer funktionierenden Kommunikationssystem der Schule.
Aber wie reagiertest du bei Disziplinlosigkeiten, wenn du keine Strafaufgaben gibst?
Ich kann laut werden, aber das nutzt sich bald einmal ab. Ich setze störende Kinder mit Aufträgen vor die Türe. Am Anfang gab es tatsächlich solche, die sich zuerst weigerten oder einfach abhauten. Hier drohte ich mit ernsthaften Konsequenzen, wie der Versetzung in ein Sondersetting einer Oberstufenklasse und zitierte sofort die Eltern zu mir. Das wirkte. So etwas kommt überhaupt nicht mehr vor. Der Rest ist Beziehung … die Schüler wissen, dass ich mich für sie interessiere. Und die beste Disziplinierungsmethode ist immer noch ein interessanter, gut vorbereiteter und strukturierter Unterricht mit einem präsenten Lehrer, der für sein Handeln und damit auch für den Lernerfolg die Verantwortung übernimmt. Die grösste Angst der Schüler war bald einmal, dass ich gehe. Als ich sie in die Turnstunde schickte, fragte mich eine Schülerin, ob ich danach noch da sei …
Lehrerzentriert?
Und ob, absolut lehrerzentriert. Das geht gar nicht anders.
Wie hast du es denn geschafft, ein so riesiges Projekt wie die römische Stadt zu realisieren? (Der Condorcet-Blog berichtete darüber: https://condorcet.ch/2025/01/rom-in-pieterlen/ )
Ich bin ja gar nicht gegen partizipative, selbstorganisierte und konstruktivistische Lerneinheiten. Aber die Basis muss sein: Ruhe, Ordnung, Disziplin – oder einfach: Unterricht muss stattfinden können. Die Klasse hat sich enorm schnell dem neuen Stil angepasst. Sie interessierte sich für die Römer, die Geschichten packten sie und dann fielen mir die kreativen Fähigkeiten einiger Kinder auf. Heute gehen wieder einfache Gruppenarbeiten. Mitte Februar fange ich sorgfältig und in Dosierungen wieder mit Wochenplan-Aufträgen an. Mittlerweile führe ich schon echte Physikexperimente durch, welche die Kinder begeistern. Sie kommen gerne in die Schule, trotz meiner Strenge, und sind mächtig stolz auf ihr Werk.
Wie steht es mit den anderen pensionierten Kolleginnen und Kollegen? Wie ist die Zusammenarbeit?
Ich arbeite vor allem mit zwei noch älteren Kollegen in meiner Parallelklasse zusammen, beide über 70! Beide arbeiteten auch an der PH und beide sind Autoren von Lehrmitteln. Dass die beiden ihre Komfortzone verlassen haben, um diesen Kindern zu helfen, ist ihnen hoch anzurechnen. Das sind richtige Cracks, ich profitiere enorm von ihnen. Und da wäre noch meine Freundin Ester Meier. Sie war Leiterin des Erwachsenen- und Kinderschutzes der Stadt Bern und liess sich aufgrund eines Konflikts ein halbes Jahr vor ihrer Pensionierung beurlauben. Sie besass ein Primarlehrerdiplom und half mir mit meiner Klasse an vielen Tagen, gratis und franko. Es zeigt sich eben, dass es immer noch Leute gibt, die handeln, tatkräftig einsteigen und unterrichten.
Ohne meine beiden Klassenhilfen, die einen Superjob machen, wäre das nicht möglich gewesen.
Wie war die Reaktion der Eltern?
Es ist mir etwas peinlich, aber ich muss sagen, dass die Reaktionen der Eltern ausnahmslos positiv waren, obwohl ich ihnen einiges zumuten musste. Und vor allem am Anfang alles andere als fehlerfrei agierte. Auch sie stellten mir die grosse Frage: Wie lange bleiben Sie?
Was meinst du mit zumuten?
Nun, meine Rückmeldungen waren klar und deutlich … und sie wissen jetzt, wo die Defizite liegen. Aber die Leistungen steigen, sie erzielen viel bessere Resultate, schreiben wieder Texte, lesen Bücher und verstehen, was sie lesen. – Wenn Unterricht funktioniert, können bei den meisten viele Defizite wieder bereinigt werden.
Aber die Leistungsunterschiede sind doch sicher gewaltig.
Natürlich, die Aufträge sind auch abgestuft, sowohl vom Schwierigkeitsgrad her als auch vom Umfang und Zeitaufwand. Einfach nur damit du weisst, wovon ich rede: Die Klasse zählt 29 Schülerinnen, 80% mit einem Migrationshintergrund, drei mit einem speziellen Betreuungsbedarf. Und für diese drei gibt es keine Heilpädagogin, sondern eine IF-Lehrerin ohne Lehrdiplom, die an zwei Tagen kommt. Dieser Effort ist nur leistbar, weil es in der Unterstufe noch nicht so komplexe Arbeiten zu korrigieren gibt und ich zwei Klassenhilfen habe, die einen sensationellen Job machen.
Eigentlich unglaublich …
Die Galaschwätzer in den Steuerzentralen der Bildungspolitik und privaten Thinktanks wie Intrinsic und Co. gefallen sich in ihrem praxisfernen Moraldiskurs, ohne deren Folgen in der Praxis zu thematisieren.
Ich kann dir sagen, mit diesen Kindern zu arbeiten, aber wirklich als Klasse zu arbeiten und Verantwortung zu übernehmen, gehört immer noch zu den schönsten Tätigkeiten, die man sich vorstellen kann.
Noch ein Schlusswort?
Ja, die Schule Pieterlen benötigt dringend neue Lehrkräfte. Und ich kann ihnen sagen, mit diesen Kindern zu arbeiten, aber wirklich als Klasse zu arbeiten und Verantwortung zu übernehmen, gehört immer noch zu den schönsten Tätigkeiten, die man sich vorstellen kann. Im Übrigen hat es hier wirklich ausgezeichnete Lehrkräfte, vor deren Leistungen ich nur den Hut ziehen kann.