6. Januar 2025
Kommentar zur Abschaffung der ABU-Prüfung

Reformwahn gefährdet das Schweizer Bildungssystem

Obschon das duale Prinzip weltweit bewundert wird und funktionsfähig ist, fördert der Staat umfassende Veränderungen in den Schulen – meistens gegen den Willen der Profis: der berufserfahrenen Lehrer. Ein Kommentar von Sebastian Briellman, dem ehemaligen BAZ-Journalisten, der neuerdings für die NZZ schreibt, wo dieser Artikel auch erschienen ist.

Normalerweise, müsste man glauben, ändert sich ein System, wenn es nicht mehr (genügend gut) funktioniert. Kenner der Materie stellen Mängel fest – und fordern folgerichtig Verbesserungen. Im Schweizer Bildungssystem geschieht seit Jahrzehnten das Gegenteil. Obschon es gut funktioniert hat, das duale Prinzip weltweit bewundert – und nachgeahmt – wird, muss es verändert werden. Reform reiht sich an Reform, meistens gegen den Willen der Profis, die das System am besten kennen: der berufserfahrenen Lehrer.

Sebastian Briellmann, neuerdings bei der NZZ arbeitend: Hauptsache, alle sind gleich – wenn auch nur gleich schlecht?

In akademischen Elfenbeintürmen tüfteln Theoretiker an einer Utopie: Die Schüler sollen, natürlich, weiterhin gut ausgebildet und aufs Berufsleben vorbereitet werden. Aber bitte ohne Druck, ohne Leistungsgedanken. Noten? Weg damit. Diese fördern doch bloss einen ungesunden Konkurrenzkampf. Der Lehrer ist ja auch nicht mehr Autoritätsperson, sondern in der Klasse ein Teil des Teams. Wissen ist ohnehin nicht mehr wichtig, vermittelt werden sollen Kompetenzen.

Dieser Reformwahn führt zum Verlust von Schulfächern – oder zur Abschaffung von klassischen Prüfungen. Im KV gibt es kein Rechnungswesen mehr, sondern es steht «Smalltalk», eine sogenannte Handlungskompetenz, auf dem Stundenplan. Dann braucht es, ganz praktisch, auch keine Tests mehr. Es überrascht also nicht, dass in den Berufsschulen dieses Landes ab 2026 keine Abschlussprüfungen mehr im allgemeinbildenden Unterricht (ABU) stattfinden sollen. Warum den Kenntnisstand abfragen in Themen wie Gesellschaft, Wirtschaft, Recht oder Sprache, wenn es auch eine Abschlussarbeit tut (vielleicht noch, ganz gemütlich, verfasst mit KI)?

Das ist so unverständlich, dass kein triftiger Grund für die Reform genannt werden kann. Auch der Bund kann’s nicht, hält aber eisern an der Umsetzung fest. Obschon eine Mehrheit der Kantone, der Parteien, der Verbände, Konferenzen, Ämter und Bildungsinstitutionen sich gegen die Abschaffung wehrt.

Was jedoch klar ist: Wenn die Anforderung sinkt, wird auch das Niveau sinken. Das ist den Verantwortlichen vielleicht gar nicht so wichtig, denn Ideengeber und Umsetzer sind oft dieselben: private Bildungsfirmen. Diese haben naturgemäss ein Interesse an Veränderungen: Wenn es Geld einbringt, ist eine Reform, auch wenn sie inhaltlicher Unfug ist, stets genehm. Es dürfte niemanden wundern, dass die Abschaffung der Abschlussprüfungen an den Berufsschulen ein Vorschlag von privater Seite war, wie in einem Protokoll festgehalten ist.

Abgenickt werden diese Verschlimmbesserungen des Bildungssystems von Beamten, die kaum je in einer Schule gearbeitet haben. Und die pädagogischen Hochschulen, die die künftigen Lehrer ausbilden, machen mit. Weil sie, erstens, abhängig sind von Drittmitteln und, zweitens, weil auch sie oftmals geführt werden von hochdekorierten Technokraten ohne Praxiserfahrung.

Zu welchem Unsinn die Geisteshaltung im Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) führt, zeigen offizielle Dokumente: Das SBFI ist tatsächlich der Ansicht, dass es in den Berufsschulen «eine Veränderung zum Status quo» brauche, weil mit einer schriftlichen Prüfung «nach wie vor die Gefahr» bestehe, «keine Kompetenzen, sondern Wissen abzufragen».

Die Folgen sind katastrophal: Schweizer Schüler schneiden in Leistungsvergleichen immer schlechter ab. Fast zwei Millionen Erwachsene sind mit einfachsten Aufgaben überfordert. Und am verheerendsten: Der Staat fördert aktiv – indoktriniert via Schulen – eine Gesellschaft, in der Leistung und Ambition verpönt sind. Hauptsache, alle sind gleich – wenn auch nur gleich schlecht?

 

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3 Kommentare

  1. Perfekt beschrieben.
    Ich habe mich vor etwa 15 Jahren anlässlich der AKK-Konferenz des Kantons Baselland für einen sofortigen Reformstopp eingesetzt mit Kurzreferat und provozierter Abstimmung.
    Die Dinge laufen immer mehr aus dem Ruder. Und das ist so gewollt. Ziel ist die Verblödung und damit “Versklavung” der Bevölkerung.

  2. Was im SBFI abgeht ist eine Katastrophe, und der zuständige Bundesrat hat keine Ahnung, was ihm seine Bildungstheoretiker und Beamten für Mist unterbreiten. Der Widerstand muss von der Basis bzw. von den Praktikern her kommen bevor es zu spät ist. Das Niveau sinkt laufend und die fähigen Lehrpersonen springen ab, statt sich endlich zu wehren

  3. Die Allgemeinbildung hat heute ausserhalb der Gymnasien einen schweren Stand. Der unmittelbare Nutzen dieses wichtigen Kulturauftrags ist nicht unmittelbar ersichtlich und die Ausbildung der Lehrkräfte dafür ist aufwändig. Dass nun ausgerechnet Bildungstheoretiker den engagierten ABU-Lehrpersonen mit einer leistungshemmenden Reform in den Rücken gefallen sind, ist bedenklich. Die Berufsschullehrer hatten nie die Absicht, den anspruchsvollen allgemeinbildenden Unterricht durch die Abschaffung der ABU-Prüfung abzuwerten. Geradezu empörend ist, auf welche Weise ihre klare Mehrheitsmeinung bei diesem Umbauprojekt missachtet wurde.

    Das Durchdrücken einer Reformidee gegen den Willen einer erfahrenen Lehrerschaft passt ins Bild der Schulreformen der letzten Jahre. In der Volksschule glaubte man, mit dem Zusammenlegen des Geschichts- und Geografieunterrichts eine Abkürzung für erfolgreiches Lernen gefunden zu haben. Man formulierte hochtrabende Kompetenzziele, nahm Abschied von einem soliden Aufbau des Basiswissens und sparte Lektionen ein. Das ernüchternde Resultat ist ein magerer allgemeinbildender Unterricht in unzähligen Sekundarschulklassen.

    Man würde meinen, die gebrannten Bildungstheoretiker hätten ihre Lehren aus den unerfreulichen Erfahrungen gezogen. Leider gehört es nicht zu den Stärken vieler Bildungsexperten, sich mit der Wirksamkeit ihrer eigenen Reformen gründlich auseinanderzusetzen. Es mangelt am Willen zum offenen Dialog auf Augenhöhe mit den Schulpraktikern. Die übergangene Lehrerschaft ist zwar spät erwacht, aber der heftige Widerstand dieser Tage zeigt, dass diese unsinnige ABU-Reform noch gestoppt werden kann.

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