21. Dezember 2024
Homescooling

“Der Lehrplan 21 gehört in den Kübel”

Heimunterricht boomt Neue Zahlen zeigen: Homeschooling liegt in vielen Kantonen im Trend – auch nach der Pandemie. Zwei Familien erzählen, warum sie ihre Kinder nicht in die Schule schicken. Wir bringen einen Artikel der Journalistin Nina Fargahi, der zuerst in der Tamedia erschienen ist.

Lernen ohne Schule: 4160 Kinder in der Schweiz werden zu Hause von ihren Eltern oder einer Lehrperson unterrichtet. Das ist mehr als je zuvor. Das Phänomen erhielt während der Corona-Pandemie einen starken Schub, ist vielerorts aber nicht abgeflacht. Im Gegenteil: Neue Zahlen zeigen, dass in Kantonen wie Bern, Zürich, Waadt, Neuenburg oder Luzern immer mehr Kinder zu Hause beschult werden. Hingegen sind manche Kantone wie Zug, Basel-Stadt, St. Gallen oder Uri sehr strikt und bewilligen nur selten Ausnahmen für Homeschooling.

Gastautorin Nina Fargahi, Journalistin bei Tamedia

Yolande Scrocco und Gilbert Studinger sind Eltern von drei Kindern, die nie in der Schule waren. Sie war früher selbstständige Übersetzerin, er arbeitet als Grafiker. Die Kinder sind heute 19, 22 und 23 Jahre alt. Die Familie lebt direkt am Rhein in Basel-Stadt. Weil in diesem Kanton Homeschooling nur in seltenen Ausnahmen bewilligt wird, bezahlten die Eltern eine Busse.

Tausend Franken pro Kind und Jahr. Auch Kinderzulagen gab es keine. Das Haus der Familie ist eine Art Villa Kunterbunt. Die Zimmer sind auf drei Stockwerken verteilt, die Wände sind voller Zeichnungen, der Holzboden knarrt, auch mehrere Katzen leben hier. Eines der Zimmer ist voller Instrumente: zwei Harfen, ein Klavier, ein Vibrafon, ein Saxofon, ein Schlagzeug, Piccoloflöten, Gitarren. Im Gang hängen farbige, selbst genähte Fasnachtskostüme.

Gute Bindungen und viel Freiheit

“Statt in die Schule zu gehen, haben Lina, Leo und Maria ihre Kindheit mit Musizieren, Basteln, Malen, Sport und kreativem Zeugs verbracht”, sagt Mutter Yolande.

Sie habe keine Lehrmittel verwendet, nie Vorgaben gemacht. Ein Lehrdiplom hat sie nicht. Die pure Anarchie also? Nur ein Vorurteil, sagt Lina. Die Jüngste ist Harfenspielerin und hat ihren ersten Roman geschrieben. Sie sagt: “Wir sind wie alle anderen auch, haben Freunde aus der Nachbarschaft und dem Sportverein, streiten manchmal mit unseren Eltern und haben die gleichen Probleme wie alle anderen Jugendlichen auch.”

Ihre Schwester Maria pflichtet ihr bei. Nur geflogen seien sie nie, im Unterschied zu vielen anderen. “Menschen gehören nicht in die Luft und nicht unter Wasser, sonst hätten wir Flügel oder Kiemen.” Die Runde lacht. Irgendwann würden sie schon das Flugzeug nehmen, relativiert Maria. Sie möchte Paläontologie studieren, die Wissenschaft von urgeschichtlichen Lebewesen.

Nur schon dafür müsse sie eines Tages in die USA fliegen. Derzeit bereitet sie sich als freie Kandidatin auf die Maturitätsprüfung vor. Bis sie 13-jährig war, konnte sie nicht lesen. Heute aber sei sie ein Bücherwurm.

Befreit vom Druck

Warum aber haben die Eltern ihre Kinder nicht in die Schule geschickt? “Zwei von ihnen waren einen einzigen Tag im Kindergarten und haben nur geweint, also habe ich sie rausgenommen”, sagt die Mutter. Je mehr sie sich mit Homeschooling befasst habe, desto überzeugter wurde sie. “Kinder lernen am besten, wenn sie gute Bindungen haben, frei von Druck sind und ihren Interessen nachgehen können.”

In der Schule kämen die einzelnen Kinder zu kurz, es werde zu wenig auf die individuellen Talente und Bedürfnisse eingegangen.

“Diese Art der Kindheit, die wir hatten, ist ein grosses Geschenk.”

Leo, Homescooler

 

“Der Lehrplan 21 gehört in den Kübel”, sagt Scrocco. Und weiter: Schulkinder würden oft unter Stress leiden, verlören ihre Freude und Kreativität und lernten, sich einzufügen und anzupassen, statt sich frei zu entfalten. Handelt sie aus politischen oder religiösen Motiven? Yolan de Scrocco winkt ab. Sie war früher bei Greenpeace, später auch Mitglied der SVP, stieg aber bei beiden aus. Auch Maria und Leo engagierten sich zu Beginn der Pandemie bei Massvoll – und kehrten der Bewegung schnell wieder den Rücken. “Wir haben es versucht mit der Politik und wurden enttäuscht”, sagen sie.

Leo nimmt die schwarze Katze auf den Arm, die während des Gesprächs auf den Schrank gesprungen ist. “Diese Art der Kindheit, die wir hatten, ist ein grosses Geschenk”, sagt er.

Nicht warten, bis die Kinder krank sind

Ähnlich, aber doch ganz anders klingt es bei Jeanine Keller in Zürich. Die geschiedene Mutter unterrichtet ihre beiden Kinder seit 2015 zu Hause. Zuerst nur die ältere Tochter Amy, die im Kindergarten ihre Freude verloren hatte, oft weinte, mit Albträumen kämpfte und immer häufiger krank wurde.

Die Lehrerin habe Massnahmen verweigert, die der schulpsychologische Dienst angeordnet. “So nahmen wir sie raus, worauf sie wieder richtig aufblühte. Die Entdeckerfreude kehrte zurück”, sagt Keller an einem Vormittag im zürcherischen Bubikon, während ihre jüngere Tochter Junia andere Homeschooler in einem Pop-up-Café unterstützt. Und weiter: “Wir dürfen nicht warten, bis die Kinder krank sind, bevor wir ins Handeln kommen.”

Natürlich braucht es Ressourcen, um Kinder zu Hause zu unterrichten.

Jeanine Keller, gelernte Kinderkrankenschwester, eignete sich das Wissen rund ums Homeschooling selbst an. Ein Diplom hat sie nicht, doch sie verwendet Lehrmittel, hält sich an den Lehrplan 21, wird durch eine Lehrperson begleitet und organisiert ihren Unterricht zu Hause, auf Exkursionen oder in der Natur.

“Die meisten Eltern entscheiden sich für Homeschooling, wenn es den Kindern in der Schule nicht gut geht, sie krank oder im schlimmsten Fall suizidal werden.”

Jeanine Keller, unterrichtet ihre beiden Kinder zuhause

 

“Alltagssituationen lassen sich mit dem Lernstoff verbinden – so lernen Kinder am nachhaltigsten, weil sie auch den Sinn des Gelernten verstehen.” Zum Beispiel: Masseinheiten beim Backen anwenden, die Nebenkostenabrechnung zusammen studieren, Sachen gemeinsam flicken oder herstellen. Bastel-, Handarbeits- oder Zeichenmaterial muss Keller selbst berappen.

Natürlich braucht es Ressourcen, um Kinder zu Hause zu unterrichten. “Ich habe das Privileg, von zu Hause berufstätig zu sein”, sagt Keller. Sie berät Eltern und Lehrkräfte, die sich fürs Homeschooling interessieren. Hierfür hat sie eine Informations- und Vernetzungsplattform aufgebaut. Es gebe zwar Familien, die aus ideologischen Gründen ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen. Aber: “Die meisten Eltern entscheiden sich für Homeschooling, wenn es den Kindern in der Schule nicht gut geht, sie krank oder im schlimmsten Fall suizidal werden.”

Kinder leiden oft in der Schule

Das Schulsystem bezeichnet Keller nicht per se als schlecht, “es passt einfach nicht für alle Kinder”. Grosse Klassen, verschiedene Leistungsniveaus, dauernd wechselnde Fächer, keine Wahlmöglichkeit, wenig Bezug zum Alltag und der Berufswelt, wechselnde Lehrpersonen, asoziales Miteinander, Druck durch Noten  und Hausaufgaben, lange Präsenzzeiten und dadurch wenig Erholung. Das seien Gründe für viele überforderte Schülerinnen und Schüler. “Gerade für sensible Kinder ist es wichtig, dass sie ihre Grenzen nicht ständig überschreiten müssen.”

Auf die Kritik, dass Kinder Gleichaltrige bräuchten und nicht ständig die Eltern um sich herumhaben mögen, sagt sie: Beim Homeschooling haben die Kinder viel mehr Freiräume als in der Schule, sie können Hobbys und Kontakte intensiver pflegen und meistens sogar bessere soziale Fähigkeiten und Beziehungen entwickeln. Keller kritisiert: “Viele Menschen haben sich gar nie richtig damit auseinandergesetzt, wie soziale Fertigkeiten in Wahrheit entstehen, sonst würde diese Frage nicht immer wieder auftauchen.” Ausserdem: Homeschooling bedeutet nicht, dass die Türen für eine klassische Ausbildung für immer versperrt sind. Weil Kellers ältere Tochter Amy Lehrerin werden möchte, besucht sie seit November eine öffentliche Schule.

“Ich hatte Angst, dass wir im Homeschooling nicht genug gemacht hatten, aber Amy schreibt Bestnoten – meine Sorgen waren unbegründet”, so die Mutter. Keller erhält regelmässig Hausbesuche von der kantonalen Schulaufsichtsbehörde. Im Schuljahr 2023/24 wurden im Kanton Zürich 142 Aufsichtsbesuche bei Homeschoolern durchgeführt.

“Die Erfahrung zeigt, dass die meisten Schülerinnen und Schüler im Privatunterricht die Lernziele gut erreichen.”

Myriam Ziegeler, Amtschefin beim Kanton Zürich

 

Dabei wurden Kinder aus 214 Familien besucht. Amtschefin Myriam Ziegeler sagt auf Anfrage: “Die Eltern, welche ihre Kinder privat unterrichten, sind in der Regel stark an der Bildung ihrer Kinder interessiert.” Die grosse Mehrheit der Schülerinnen und Schüler im Privatunterricht würden gute schulische Leistungen erbringen, und “die Erfahrung zeigt, dass die meisten Schülerinnen und Schüler im Privatunterricht die Lernziele gut erreichen”.

Oberste Lehrerin kritisiert den Heimunterricht

Doch Homeschooling wird in manchen Kantonen kritisch gesehen. So heisst es etwa beim Kanton Zug: “Eine Isolation durch den Einzelunterricht muss vermieden werden.” Die Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit “Enkulturation”) müsse gewährleistet sein. “Kann kein besonderer Grund geltend gemacht werden, wird Privatschulung in der Regel nicht bewilligt.”

Dagmar Rösler, LCH-Präsidentin: “Eine strikte einheitliche Politik wäre in meinen Augen sinnvoll.”

Auch die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler, hält nicht viel von Homeschooling: “Kinder, die zu Hause unterrichtet werden, haben oft wenig Umgang mit Gleichaltrigen. Sie erfahren damit weniger Lernen, Gemeinschaft und Sozialisierung in einer Gleichaltrigengruppe.” Da ausserdem nicht in allen Kantonen eine pädagogische Ausbildung für Homeschooling verlangt wird, sieht Rösler die Bildungsqualität für die betroffenen Kinder und Jugendlichen gefährdet. Sie fordert: “Eine strikte einheitliche Politik wäre in meinen Augen sinnvoll.”

So sieht es auch Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm. Sie sei “grundsätzlich dafür, dass die Bedingungen für Homeschooling strikter und einheitlicher werden.” Als Contra-Punkt erwähnt sie den enormen zeitlichen und finanziellen Aufwand, den es für Homeschooling brauche. Und weiter: “Der Sonderstatus Homeschooling führt oft dazu, dass Kinder später unter einen Rechtfertigungsdruck geraten.”

 

Legende zu Beitragsbild:

“Zwei von ihnen waren nur einen einzigen Tag im Kindergarten”: Yolande Scrocco mit ihren Kindern (v.l.) Maria, Leo und Lina im Musikzimmer des Hauses. (Bild: Kostas Maros)

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Die Schulpflicht ausdehnen? “Ich halte das für eine sinnvolle Maßnahme”

Eine Erhebung der OECD unter Industrienationen offenbart einen verblüffenden Zusammenhang: Je später Kinder nach Deutschland einwandern, desto besser sind hier ihre Bildungsabschlüsse. Warum ist das so? Und was läuft schief mit dem Konzept der Willkommensklassen für Zuwandererkinder? Die WELT-Journalistin Freia Peters im Interview mit Havva Engin, Professorin für Pädagogik und Leiterin des Heidelberger Zentrums für Migrationsforschung.

Heinrich Pestalozzi – Pionier der politischen Pädagogik

Ist Pestalozzi in Vergessenheit geraten oder passt er nicht mehr zu unserem Zeitgeist? Hat er uns nichts mehr zu sagen? Haben wir alle seine Hausaufgaben gelöst? Ist die revisionistische Geschichtsschreibung in den pädagogischen Elfenbeintürmen, die neben Pestalozzi u.a. auch die „unwissenschaftlichen“ Lehrerseminare angreift, mehr als blosse Selbsterhöhung? Peter Aebersold sucht die Antworten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert