Die Zeitschrift der evangelisch-reformierten Landeskirche «reformiert» informiert ihre Schäfchen regelmässig über gesellschaftliche Themen und vertritt dort meistens die rot-grüne Agenda, was ihr unbenommen sein soll. Es geht ja um den Glauben und auch in unserem Blog haben rot-grüne Thesen ihre Anhänger, sofern die Argumente stichhaltig sind. Nun hat sich Veronica Bonilla Gurzeler, vormals Redaktorin bei «Wir Eltern» die schulische Integration vorgenommen und schreibt in der August-Ausgabe über die zunehmende Kritik an der integrativen Schule. Brav tadelt sie den Bildungsentwurf der FDP-Schweiz, der die Weichen in der Bildungspolitik neu stellen will. Und speziell widmet sie sich der dort enthaltenen Forderung, Kinder mit besonderen Bedürfnissen wieder vermehrt zu separieren. Nicht fehlen darf der Hinweis, dass es in mehreren Kantonen sogar Volksinitiativen gibt, die in die ähnliche Richtung streben.
Danach arbeitet die Redaktorin, die «mit 13 Jahren wusste, dass sie Journalistin werden wollte» (Webseite «Wir Eltern)» nach bewährten Kriterien des Haltungsjournalismus. Drei Telefonate bei Gleichgesinnten, ein paar Zahlen aus dem Netz und die anschliessend wohlbekannte Glücksformel «Es braucht mehr Geld» – und fertig ist der Beitrag. Nachgeschoben wird noch ein Kommentar der «reformiert»-Redaktorin Cornelia Krause, die von Chancen, wertvollen Erfahrungen spricht und natürlich – Sie werden es unschwer erraten – mehr Ressourcen für die Schule fordert.
Der als «Recherche» übertitelte Beitrag von Bonilla Gurzeler beschränkt sich wie besagt auf drei Telefonate. Zu Worte kommen Dorothé Miyoshi, Geschäftsleitungsmitglied des LCH, und eine wahre Integrationsfanin («Integration ist eine gesellschaftliche Aufgabe») die bündnerischen Kirchenratspräsidentin Erika Cahenzli («Wir brauchen die Sockelerfahrung der Volksschule») und Sabine Gade, Koordinatorin Heilpädagogik bei der Zürcher Landeskirche («Leistungsbegriff neu definieren»).
Unfreiwillig beweisen hier die beiden «Journalistinnen», woran die gegenwärtige Debatte um die schulische Inklusion krankt: Leute, die den Herausforderungen des Unterrichts fernbleiben, formulieren eine ideologische Wunschprosa, ohne sich über die Belastungsfolgen für die Lehrkräfte und Kinder die geringsten Gedanken zu machen. Und überdies dokumentieren die beiden kirchlichen «Influencerinnen» auch eine stupende Unkenntnis über die Wirklichkeit der Umsetzung in den Schulen und den Finanzierungsfragen. Man hätte vielleicht den einen oder anderen Gesprächspartner der «anderen Seite» anrufen können. Z.B den ehemaligen SP-Parteipräsidenten und Heilpädagogen Roland Stark, der in Basel die Initiative für Förderklassen mit dem dortigen Lehrkräfteverband (Basler Schulsynode) lancierte. Dort hätten sie erfahren können wie die Erklärung von Salamanca, die eine Integration aller Schüler in unsere Schulsysteme forderte, auch noch interpretiert werden könnte. Man hätte die Schulleiterin Ursula Fehlmann des OSZ-Mett-Bözingen, einer Aussenquartierschule in Biel mit 80% Migrationsanteil kontaktieren können. Bei dieser Gelegenheit wäre man informiert worden, warum das linke Biel weiterhin an den Kleinklassen festhält und wie dort trotz allem der Integrationsgedanke gelebt wird. Oder man hätte beim Bildungsökonomen Wolter der Uni Bern nachfragen können, was er von der litaneihaften Forderung nach mehr Ressourcen halte.
Ein echter Lacher ist der Schlusssatz von Redaktorin Krause: «Statt undifferenzierte Kritik zu üben sollte die Politik mehr Ressourcen zur Verfügung stellen». Ressourcen wofür? Kleinere Schulklassen, mehr Heilpädagoginnen, mehr individuelle Betreuung? Woher sollen denn die zusätzlichen Lehrkräfte kommen? Sie fehlen uns schon heute tausendfach! Und was die Finanzierung betrifft, so darf ich Frau Krause darauf hinweisen, dass die Ausgaben pro Schüler innerhalb von zwei Jahrzehnten um 52,15 Prozent gestiegen sind. (Nebelspalter 22.7.23, https://condorcet.ch/2023/07/mehr-geld-aber-nicht-mehr-qualitaet-im-bildungssystem/) Der Bildungssektor ist – zusammen mit dem öffentlichen Verkehr und den Sozialausgaben – der Bereich, wo die Ausgaben exponentiell wachsen. Der Artikel in «reformiert» ist ein Monument der Undifferenziertheit. Er geht mit keinem Wort auf die Intentionen der Initianten ein, die keineswegs ein Zurück in die Zeit der Separation wollen. Ihnen ist es ein Anliegen, Übertreibungen zu vermeiden, Auswüchse zu bekämpfen und vor allem – die Unterrichtsqualität zu gewährleisten. Der Kompromissvorschlag, den der neue Bildungsdirektor in Basel vorgeschlagen hat, hat beispielsweise bewirkt, dass die Initianten in Aussicht stellen, ihre Volksbegehren zurückzuziehen. Davon liest man bei den beiden Damen nichts, sie bevorzugen das unterkomplexe schwarz-weiss-Spiel, entweder man ist dafür oder dagegen. Die Situation ist schon schwierig genug, da braucht es nicht noch ideologiegetränkte kirchliche Botschaften, die von einer bestürzenden Praxisferne geprägt sind.
Mein Vorschlag zur Güte an die evangelische Landeskirche: Reduzieren sie das Erscheinen ihres Verbandsblättchen auf vier Mal im Jahr und investieren sie die freiwerdenden Ressourcen in eine Umschulung ihrer beiden Redaktorinnen als Heilpädagoginnen oder noch besser als Lehrerinnen. Das hilft der Sache der Integration einiges mehr und, man muss erst noch weniger Bäume fällen.
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Hallo Alain, kannst du mir die Quelle für die Aussage, dass seit 2018 die Ausgaben pro Schüler um fast 30 % gestiegen sind, angeben?
Ich habe beim Bundesamt für Statistik nur Daten von 1990 bis 2021 gefunden und die sind deutlich weniger spektakulär:
– Der Bildungsanteil an den öffentlichen Gesamtausgaben betrug 1990 15.7%, 2000 14,8%, 2009 16.9%, 2018 17,7%, 2021, 17,7%
-Die Bildungsausgaben am BIP betrugen 1990 4.5%, 2000 4,9%, 2018 5,5%, 2021 5,6%
Dabei ist zu beachten, dass die Bevölkerungszahl zugenommen hat. Ferner wurde die Gesellschaft komplexer und individueller. Die Fachhochschulen wurden aufgebaut und die Maturquote hat zugenommen. Also genau jene Teile, die besonders teuer sind.
Wenn ich von mehr Geld rede, dann basiert dies auf meiner Telefonberatung:
Lehrpersonen, die mich verzweifelt anrufen (unmittelbar vor der Krankschreibung), weil sie vier Kinder in der Klasse mit nachgewiesenem Sonderschulbedarf haben. Es gibt zu wenig Sonderschulplätze. Diese sind ja besonders teuer (in einer Gemeinde hat eine Sonderschule Kinder als “untragbar” der Regelschule zurückgegeben).Der Schulleiter hat aber den Ressourcenpool bereits aufgebraucht, weshalb es nicht mal mehr eine Assistentin gibt (von Heilpädagogik rede ich schon gar nicht).
Na Alain, was meinst du? Braucht es hier mehr Geld?
Lieber Beat, in der Tat, die 30% beziehen sich auf den Kanton Bern. Ich habe die Aussage im Text etwas geändert. Die ausführliche Quelle für meine Angaben entnehme ich der IWP-Studie vom 26.7.2023. Der Condorcet-Blog hat darüber berichtet: https://condorcet.ch/2023/07/mehr-geld-aber-nicht-mehr-qualitaet-im-bildungssystem/. Die Ausgaben stiegen deutlich und sie steigen immer noch. Die Frage ist natürlich, wohin das Geld fliesst.Fliesst es in die Praxis oder den Überbau, fliesst es in die Volksschule oder in die Steuerzentralen im Bildungswesen. Und eine weitere Frage ist, wohin führt das, wenn bis zu 80% einer Klasse in Basel einen therapeutischen Befund haben. Und ist es eine Lösung, dass Heilpädagoginnen (oft sind es ja solche ohne Ausbildung) lektionenweise in den Unterricht kommen, um eine Einzelbetreuung vorzunehmen und dann wieder ins Büro zu verschwinden, um Förderberichte zu schreiben.
Alain Pichard hält treffend fest, dass die Antwort der Befürworter einer unbedingten Integration stets die gleiche ist. Man fordert bedenkenlos weiteres Fachpersonal und mehr finanzielle Mittel. Zufrieden wäre man wohl erst, wenn jeder Regelklasse eine zusätzliche Heilpädagogin fest zugeteilt würde. Über die riesigen Kostenfolgen scheint man sich dabei kaum Gedanken zu machen.
Als Mitinitiant einer Zürcher Volksinitiative für kleinere Regelklassen mit maximal 20 Schülern habe ich mich vor zehn Jahre dafür eingesetzt, die Rahmenbedingungen für die Integration zu verbessern. Leider hat die Initiative im Kanton keine Mehrheit gefunden und ist klar gescheitert. Dennoch gilt es, die Lernsituation für möglichst alle Kinder ohne unverhältnismässigen Mehraufwand zu verbessern. So könnte viel erreicht werden, wenn unnötige Überforderungen leistungsschwächerer Schüler vermieden und der völlig überladene Lehrplan entschlackt würde. Doch die zweite Frühfremdsprache ist bisher noch nicht aus dem Bildungsprogramm der Primarschule gekippt worden.
Es ist unsinnig, eine Integration aller Kinder zu fordern, wenn einige im Rahmen einer Regelklasse zu wenig gefördert werden können oder die Mitschüler so sehr belasten, dass dauernde Unruhe im Klassenzimmer entsteht. Moderne Kleinlassen, geführt von Fachpersonal, sind kein Fremdkörper in einem Schulhaus, wenn die Zusammenarbeit im Schulteam klappt. Wir können die Volksschule nur weiterentwickeln, wenn wir auf starre Dogmen verzichten und im Rahmen des Möglichen die besten Lösungen suchen.