29. März 2024

Diane Ravitch-Blog: High-School Absolventin in New Orleans kann weder lesen noch rechnen

Sie kann nicht rechnen und liest wie eine Zweitklässlerin. Und trotzdem schliesst Denesha Gray die High-School in New Orleans ab. Wie so etwas möglich ist, erzählt uns das Behördenmitglied Lee P. Barrios im Diane Ravitch-Blog.

Dennis Lewis erinnert sich deutlich an den Moment. Es war der Beginn des Schuljahres, und er versuchte seine Frau davon zu überzeugen, dass ihre 18-jährige Tochter dringend zusätzliche Unterstützung benötigte, die ihr aber von der High School konsequent vorenthalten wurden. Er zog eine Handvoll Münzen aus seiner Tasche und fragte seine Tochter, wie viel Geld er habe.

Charter School Mc Donogh

“Sie konnte es nicht zählen”, erinnerte er sich. Der Gesichtsausdruck seiner Frau – die nur drei Tage später an einem Aneurysma sterben würde – war versteinert. Denesha Gray hatte gerade die 12. Klasse begonnen. Ein Jahr später, – sie war immer noch nicht in der Lage, grundlegende Rechenoperationen durchzuführen oder einfache Texte zu lesen – lief sie stolz und strahlend über die Bühne der McDonogh 35 Senior High School und erhielt dort ihren erfolgreichen Abschluss.

Denesha litt unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, konnte aber trotz mehrerer Vorstösse des Vaters und eines medizinischen Gutachtens den Unterricht an der High School besuchen. Sie konnte kein Geld zählen, und sie las nur so gut wie eine Zweitklässlerin. Sie hätte Anrecht gehabt auf einen individualisierten Stützunterricht. Aber die Schule nahm die Mahnungen nicht ernst.

Und so schloss Denesha Gray 2018 die High School ab, nachdem sie alle Tests bestanden hatte. Ein Sieg für das All-Charter-System, das sie im Stich ließ. Sie wurde fast ausschließlich in einem Schulsystem ausgebildet, das nach dem Hurrikan Katrina als Labor für Bildungsreformen umgebaut wurde. Und Denesha ist kein Einzelfall. Sie ist eines der vielen Opfer eines katastrophalen Schulumbaus, das unsere öffentlichen Schulen in New Orleans in Charter-Schulen umgewandelt hatte. Vernachlässigung oder absichtliche Verweigerung des Rechts eines jeden Kindes auf besondere Unterstützungsmassnahmen sind das eine. Der eigentliche Skandal aber war, dass unser auf Testen bestehendes System offensichtlich nicht in der Lage ist, die gravierenden Schwächen unserer Kind aufzuzeigen. Das wirft auch ein grelles Licht auf die Zahl der angeblich steigenden Abschlüsse.

Viele von uns (gut ausgebildete und erfahrene Bildungsexperten) haben den Fortschritt des als “Reform” bezeichneten Bildungsexperiments in New Orleans kritisch begleitet. Unsere Kinder wurden als Versuchskaninchen für das Experiment verwendet. Es besteht kein Zweifel daran, warum das Experiment fehlgeschlagen ist.

Falsche Hypothesen

Bild: Adobe Stock

Wie bei allen gescheiterten Experimenten war die Hypothese fehlerhaft. Es ist wie bei einem Experiment, das z. B. auf der Idee basiert, dass die Milchproduktion erhöht wird, wenn man das Futter einer Kuh mit Apfelessig ergänzt. Dies ist auch tatsächlich der Fall. Und so nahm man an, dass das Hinzufügen von Essig beim Gießen unserer blühenden Pflanzen die Blüte erhöht. Ein erfahrener Wissenschaftler wird bald einmal erkennen, dass die Übertragung nicht klappt. Die Pflanze wird getötet.

Tod durch Plan

Verantwortlich dafür sind die letzten paar US-Bildungsminister (Duncan, King, DeVos) und unser Staatssekretär John White. Sie liessen es zu, dass unausgegorene Integrationskonzepte, Privatisierungen und vor allem immer mehr unqualifizierte Lehrer (wie Teach for America Rekruten) in unseren Klassenzimmern tätig sind. Hinzu kommt der Mangel an Fachwissen sowie die Macht und das Geld der Geldgeber dieser Experimente wie Bill Gates, die Waltons und Jeb Bush, die darauf bedacht waren, ihre falschen Theorien voranzutreiben. Dann folgte schnell eine lange Liste von Investoren, Politikern und Scharlatanen, und Sie haben das, was wir heute sehen: Unsere Kinder, unsere öffentlichen Schulen und unsere Lehrer “sterben” – und manche von uns würden sagen: “Tod durch Plan”.

Viele Erzieher (und jetzt auch Eltern) auf lokaler, nationaler und sogar internationaler Ebene haben seit Jahren die Reformen und die orchestrierte Übernahme der Schulen von New Orleans nach dem Wirbelsturm Katrina kritisiert.

Die angeblich so guten Testresultate wurden durch ein völlig unbrauchbares Rechenschaftssystem möglich. Es wird manipuliert und getrickst, dass die Balken krachen.

Die wirksamste Waffe, die verwendet wird, um die Zerstörung unseres öffentlichen Schulsystems zu erleichtern, ist die Verwendung unseres standardisierten Tests HIGH STAKES.  Man stelle sich das mal vor. Ein einziger Test, der in Kombination mit den katastrophalen Common Core Standards, nach denen der Test ausgerichtet ist, und der unerprobte Lehrplan (nach dem im Klassenzimmer unterrichtet wird) erlangen die totale Kontrolle über unsere lokalen Schulbezirke.

Die angeblich so guten Testresultate wurden durch ein völlig unbrauchbares Rechenschaftssystem möglich. Es wird manipuliert und getrickst, dass die Balken krachen.

Wir haben die Beweise. Hier ist die Rede von Betrug, Unterlassung und Nötigung. Aber niemand ist da, der diesem Treiben ein Ende setzt, der diesen Skandal untersucht, der Massnahmen ergreifen will. Es ist, als würde man am Fuße des Berges stehen und warnen, dass eine Lawine droht, aber niemand in den Restaurants und teuren Häusern unten will glauben, dass hier eine Bildungskatastrophe ohnegleichen stattfindet.

Auf der Strecke bleiben unsere Kinder, bleiben Denesha Gray, die um ihre Lebenschance betrogen wurde. Lasst uns endlich mit diesem Irrsinn aufhören.

Lee P. Barrios, M.Ed., BESE  Distrikt 1, (BOARD OF ELEMENTARY AND SECONDARY EDUCATION)

Aufsichtsmitglied der Grundschule und des Sekundarschulwesens im Distrikt 1 (New Orleans)

 

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3 Kommentare

  1. Die Charter School wird in Europa als “Freie Schule” bezeichnet. Die Elternlobby Schweiz propagiert die vom Steuerzahler zu finanzierende “Freie Schule” als “freie Schulwahl”, die angeblich die Chancengleichheit fördern würde. Die Erfahrungen vieler Länder zeigen jedoch, dass die Chancengerechtigkeit sinkt, weil reichere Eltern ihre Kinder nicht in die nächste, sondern die beste, meist weiter entfernte, Schule bringen, während die weniger begüterten sich mit der nächsten Schule begnügen müssen. Die “freie” Schulwahl mit Bildungsgutscheinen vom Staat ist eine neoliberale Idee des Chicago Boys Guru Milton Friedman. Sie fördert in erster Linie die Milliardenumsätze der globalen Bildungskonzerne.

    1. Die Charter Schools der USA sind eine Schulform, die gemäss Website der elternlobby schweiz Vor- und Nachteile hat, die kritisch zu hinterfragen sind. Die Idee der “Freien Schulen” orientiert sich mehr an dem Vorbild von Ländern mit freier Schulwahl wie z.B. Finnland. Letztlich muss in der Schweiz aber ein eigenes Modell entwickelt werden. Was die elternlobby vertritt, ist, dass es vor allem in den staatlichen Schulen mehr Autonomie für Schulen und Lehrpersonen braucht. Wenn Lehrpersonen Vorgaben umsetzen müssen, mit denen sie nicht einverstanden sind oder die sie überfordern, kann das nicht im Interesse der Kinder sein. Wir brauchen Schulen und Lehrpersonen, die mit Engagement und Überzeugung unterrichten. Da Lehrpersonen verschiedene pädagogische Ansichten und Überzeugungen vertreten und Kinder verschiedene Bedürfnisse haben, ist Bildungsvielfalt die logische Konsequenz, die gezogen werden muss, wenn engagierter und bedürfnisgerechter Unterricht erreicht werden soll. Bildungsvielfalt mit verschiedenen Schul- und Unterrichtsmodellen hat wiederum die logische Folge, dass Erziehungsberechtigte ein Modell wählen können müssen. Damit eine umfassende Bildungsvielfalt entsteht, müssen ergänzend auch private Schulmodelle öffentlich finanziert werden. Für die öffentliche Finanzierung privater Schulmodelle braucht es Bedingungen: nur diejenigen Schulen sollen öffentlich finanziert werden, die kein Schulgeld verlangen und keine Kinder aus religiösen oder ethnischen Gründen ausschliessen. Unter diesen Bedingungen sind sie frei wählbar und als Freie Schulen zu bezeichnen.

  2. Ich bin tätig in der Führung einer Privatschule. Peter Aebersolds’s Argumentation ist undifferenziert und schwammig.
    Die Zweiklassengesellschaft in unserem Schulwesen besteht schon lange. Es gibt Eltern, die merken, ihr Kind wäre besser aufgehoben in einem anderen pädagogischen Konzept, sprich einer Freien Schule. Eltern mit einem dicken Portemonnaie ist dies ohne Probleme möglich und diese machen dies sofort, weil es die Lebensqualität der gesamten Familie stark verbessert. Das Knd kann eine Freie Schule oder eine Privatschule besuchen.
    Da es dem Normalbürger nicht einfach möglich ist, eine andere Schule zu bezahlen, (ich erlebe dies ja ganz real) verbleiben diese Kinder in den staatl. Schulen und kosten den Staat enorm viel – wenn Freie Schulwahl bestehen würde, wären die Kosten für das Bildungswesen nicht sinnifikant höher.
    Die Kosten des öffentlichen Schulwesens sind steigend, weil mit dem Lehrplan 21 und mit der Integration von Kindern mit besonderen Bedürfnissen die STAATLICH FINANIERTE SCHULE überfordert ist – und das ist verständlich.

    Freie Schulen arbeiten momentan viel KOSTENGÜNSTIGER als staatliche Schulen! Mit jedem Kind, das in einer Freien Schule aufgefangen werden kann, spart der Staat enorme Kosten, dies gerade während der Schulzeit (Begleitmassnahmen, Ärztekosten, Sondermassnahmen, schulischer Stützunterricht usw.)
    Die Kosten sind bei einem unglücklichen Kinde in der staatl. Schule nach der obligatorischen Schulzeit noch nicht zu Ende. Es fallen IV-Kosten, psychologische Begleitung, Coaching, Sozialhilfe, Medikamente und ärztliche Behandlungskosten an, und dies nur, weil das Kind in irgendeiner Form in die staatl. Schule integriert werden sollte, in die es nicht passt. Ebenso bedeutet diese Situation für die Lehrkräfte ein grosser Kräfeverlust. Sie kämpfen mit Burnout und vielem mehr. Ein grosser Ausgabeposten für uns alle. Sie sind nicht faul, sondern sind dem schulischen Alltag nicht gewachsen. Im gesamten betrachtet, eine sehr teure Variante und ein grosser Verlust für alle.
    In Freien Schulen orientieren sich Kinder wieder neu, können sich meist erholen und bauen auf. Dies ist für das Kind, seine Familie und auch für die gesamte Gesellschaft, eben für alle ein Gewinn, alle sind hier Gewinner.

    Für den Staat ist die Freie Schulwahl die günstigste und gleichzeitig die währschafteste Variante.

    Private Schulen kurbeln die Einnahmen der Bildungskonzerne an, diese aber werden wie am Bsp. der International School in Basel, St. Gallen, Zürich, Bern und auch an weiteren Orten paradoxerweise bereits heute staatlich unterstützt! Schulen für das dicke Portmemonnaie, wie geht das auf?
    Gerade umgekehrt ist es, wenn wir Freie Bildungswahl in der Schweiz haben. Da bekommen alle Eltern dasselbe Recht und diejenigen Eltern, die ihre Kinder in eine Privatschule schicken möchten wie die International School, können dies auf eigene Kosten nach wie vor tun.

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