18. November 2024
Probleme im Bildungssystem

Stefan: “Der Leistungsdruck an der Schule ist riesig”

Wie erleben Schülerinnen und Schüler in Deutschland ihren Schulalltag? FAZ-Redakteurin Franziska Pröll hat die Wahrnehmung von dreien aus unterschiedlichen Landesteilen und Altersklassen protokolliert. Ihr Leiden scheint grösser als ihre Freude. Neben Schilderungen über die Auswirkungen von Lehrer- und Zeitmangel, Leistungsdruck, Rassismus oder Überforderung gibt es aber auch Lichtblicke.

Den Lehrermangel spüre ich an meiner Schule jeden Tag. Morgens öffne ich auf dem Handy unseren Vertretungsplan. Zurzeit bin ich meistens frustriert, weil ich sehe: Von acht Stunden, die mein Stundenplan vorsieht, finden nur zwei bis drei statt.

Gastautorin Franziska Pröll, Redakteurin bei der FAZ

Lehrkräfte, die krank sind, stellen uns Aufgaben in einer Cloud bereit. Wir sollen sie dort abrufen und bearbeiten. Doch das funktioniert nicht: Die Lernaufträge sind meist nicht so ausführlich, dass man sich 90 Minuten damit beschäftigen kann. Viele Schülerinnen und Schüler nutzen Künstliche Intelligenz, um sie zu bearbeiten. In Physik ist eine Aufgabe damit innerhalb von fünf Minuten erledigt, bei einer Übersetzung in Latein geht es ähnlich schnell. Und die meisten Schüler wissen: Die Lehrerin wird es sich sowieso nicht angucken, wenn sie zurück ist. Lernaufträge fühlen sich für uns an wie Beschäftigungstherapie.

Es gibt noch etwas, was mich daran ärgert: Das Ministerium stellt ein System bereit, in das die Schulleitung einträgt, wie viele Stunden vertreten werden und wie viele ausfallen. Lernaufträge können aber nur als Vertretungsstunde erfasst werden, also als Unterricht durch einen Vertretungslehrer – obwohl sie kein Unterricht sind, sondern selbständige Lernzeit. Das Ministerium kriegt also gar nicht mit, wie die Lage an Schulen ist.

Stefan Tarnow, 18 Jahre, geht in die 11. Klasse eines Gymnasiums im ­brandenburgischen Lübben.

Noch ein Jahr, dann mache ich Abitur. Ich spüre großen Druck bei uns Schülern und bei den Lehrern. Sie haben den Anspruch, uns gut vorzubereiten. Sie wissen, dass die Prüfungen nicht angepasst werden, wenn Unterricht ausgefallen ist. Sie müssen es irgendwie schaffen, uns den Stoff in kurzer Zeit zu vermitteln. Viele meiner Mitschüler haben Angst, es nicht zu schaffen.

Wenn Unterricht stattfindet, fühlt er sich so sich an, als würden wir durch alle Themen galoppieren, ohne uns wirklich mit ihnen zu befassen. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr Zeit hätten. Mehr Zeit, um Inhalte wirklich zu verstehen, und mehr Zeit, um Rücksicht zu nehmen auf diejenigen, die länger brauchen. Ein Teil von ihnen versucht, durch Nachhilfe aufzuholen, was er oder sie nicht versteht. Aber nicht jeder kann sich Nachhilfeunterricht leisten. Das ist ungerecht. Aber es passt ins Bild, das PISA und andere Studien offenlegen: Deutschland hat eines der ungerechtesten Bildungssysteme der Welt.

Ein Teil meiner Mitschüler hat gar nichts anderes mehr im Kopf außer Schule. Sie kommen nach Hause, machen Hausaufgaben und üben, üben, üben. Dann gehen sie schlafen. Freizeit haben sie nicht. Die Zahl der Depressionen unter Schülerinnen und Schülern geht aktuell durch die Decke. Ich würde schätzen, dass die Hälfte der Leute in meiner Klasse psychische Probleme hat. Auch soziale Ängste haben deutlich zugenommen, was sich bei Vorträgen äußert. Viele haben Hemmungen zu sprechen.

Ich habe mir Hilfe in einer Klinik gesucht und eine Therapie gemacht. Jetzt geht es mir besser, und ich kann wieder viel freier, viel lebendiger sprechen.

 

Mir ging es selbst so. Nach der Corona-Zeit wurde ich auf einmal sehr zurückhaltend bei Vorträgen. Ich hatte eine Hemmung, aus mir rauszukommen. Die Fröhlichkeit, die eigentlich immer da war, war plötzlich weg. Es kam mir vor, als ob ein grauer Schleier über mir liegt.

An der Schule hilft in solchen Fällen leider niemand. Schulpsychologen kommen nur in Notfällen dorthin. In Brandenburg gibt es einen Schulpsychologen pro Landkreis, er sitzt in der Beratungsstelle in der Kreisstadt. Der Landkreis, in dem meine Schule liegt, ist 100 Kilometer lang. Man muss also weit fahren, um zum Schulpsychologen zu kommen. Ich habe mir Hilfe in einer Klinik gesucht und eine Therapie gemacht. Jetzt geht es mir besser, und ich kann wieder viel freier, viel lebendiger sprechen.

Auch wenn mich vieles an der Schule stört – es gibt auch etwas, was mich zufrieden macht: dass es Strukturen für Schüler gibt, um sich zu beteiligen. Ich engagiere mich im Schülerrat meiner Schule und bin auch Landesschülersprecher in Brandenburg. Mein Eindruck ist, dass Politiker zunehmend versuchen, uns zu fragen, was man besser machen kann.

 

Hannah: Solche Vergleiche geben mir das Gefühl, nicht gut genug zu sein.

Was ich an meiner Schule besonders mag, ist die Vielfalt. In meiner Klasse sind 28 Leute. Bei 25 von ihnen kommt mindestens ein Elternteil aus einem anderen Land – aus Tunesien, Italien, Griechenland oder der Türkei. Im Unterricht sprechen wir oft über unsere Kulturen und Religionen. Das finde ich cool.

Es gibt Momente, in denen ich die Schule nicht mag. Einer meiner Mitschüler hat sich vor Kurzem im Kunstunterricht mit schwarzer Farbe einen Hitlerbart aufgemalt. Ein anderer hat die Hand zum Hitlergruß gehoben. Ich höre in der Schule auch öfter Witze über Juden. Das war schon vor dem 7. Oktober 2023 so. Ich bin Jüdin, und wenn so etwas passiert, fühle ich mich unsicher. Ich glaube nicht, dass Antisemitismus immer als solcher gemeint ist. Die meisten denken, sie machen einen Witz – und verstehen nicht, dass sowas kein Witz ist.

Hannah, 13 Jahre, geht in die 8. Klasse einer Realschule in Süddeutschland.

Mein Ethiklehrer hat vor Kurzem unsere Ordner kontrolliert und gesehen, dass ein paar Schüler durchgestrichene Israelflaggen auf Arbeitsblätter gemalt hatten. Manche schrieben dazu “existiert nicht”. Er hat die Arbeitsblätter dann mit der digitalen Tafel an die Wand projiziert und mit der Klasse besprochen, warum er so etwas nicht akzeptiert. Ich glaube, es gab auch ein Gespräch mit den Schülern und ihren Eltern. Seine Reaktion fand ich sehr gut. In Chemie lief es anders: Als ein Hakenkreuz auf einem Kittel war, hat die Lehrerin gesagt: “Ja, egal, nicht so wichtig.”

Wir wollten einen “Safe Space” schaffen für diejenigen, die anders sind als die meisten.

 

Nicht nur für Antisemitismus, auch für andere Themen wünsche ich mir mehr Raum: Rassismus ist an unserer Schule ein ständiger Begleiter. Viele Schüler benutzen das N-Wort, es gehört für sie einfach zum Sprachgebrauch dazu. Ich finde das nicht okay.

Zum Glück gibt es Leute, die so denken wie ich. Mit einer Freundin habe ich eine Gruppe gegründet. Wir wollten einen “Safe Space” schaffen für diejenigen, die anders sind als die meisten. Manche in der Gruppe erleben Rassismus, eine Person ist nonbinär, ins­gesamt sind wir 18 Leute. Wir treffen uns zum Reden oder gehen zusammen zu ­Fridays-for-Future- oder Anti-AfD-Demos.

Der Leistungsdruck an der Schule ist riesig. Wenn wir eine Arbeit zurückbekommen, entsteht ständig so ein Konkurrenzding. Wenn ich zum Beispiel eine 3,7 habe, sagt die Person neben mir: “Ich habe ’ne 2,1.” Und der Lehrer sagt: “Die beste Note der Klasse war ’ne 1. Und die schlechteste Note war eine 4.” Solche Vergleiche geben mir das Gefühl, nicht gut genug zu sein.

 

Jonathan Marte Frias wünscht sich mehr Vertrauen in die Schüler

Freunden und Mitschülern geht es oft schlecht, manche verletzen sich selbst. Wenn sie davon erzählen, frage ich mich: Was kann ich tun, um zu helfen? Darüber würde ich gerne im Unterricht sprechen. Und ich finde, es bräuchte eine Vertrauensperson an der Schule. Wir haben zwar eine Schul­sozialarbeiterin, aber sie muss alles, was ein bisschen schlimmer ist, an Lehrer, Schulleitung und Eltern weitergeben. Viele scheuen sich, zu ihr zu gehen.

Manchmal denke ich: Die Welt läuft weiter, aber die Schule bleibt gleich. Im Unterricht sitzen wir 45 Minuten lang am Platz, hören zu und lösen Aufgaben. Das ist nicht nur eintönig, es passt auch nicht mehr in die heutige Zeit. Es gibt so viele Technologien, die wir nutzen könnten. Oder wir könnten rausgehen in den Wald. Mit meinem früheren Englischlehrer haben wir das ein paar Mal gemacht. Jeder hat sein Buch mitgenommen, wir sind herumspaziert und haben Vokabeln gelernt. So konnte ich mir die Wörter viel besser merken. Das war cool.

Jonathan Marte Frias, 17 Jahre, geht in die 10. Klasse einer ­Sekundarschule im Rheinland.

Trotz Stress und Druck bin ich froh, dass es die Schule gibt. Hier habe ich eine Struktur. Es gibt “richtig” und “falsch”. Jemand sagt mir, was ich machen soll. Wenn ich in die Zukunft schaue, habe ich Angst, diese Struktur zu verlieren.

Ich habe Glück mit meiner Schule, die Lehrer unterstützen uns sehr. Gleichzeitig finde ich, die Schule sollte mehr Vertrauen in uns Schüler haben. Ich gehe in die zehnte Klasse. Vielen in meiner Klassenstufe ist bewusst, dass wir nicht für die Schule lernen, sondern für uns selbst. Dass es um unsere Zukunft geht. Trotzdem gibt es im Alltag viele Regeln, die ich als zu streng oder unnötig empfinde. Zum Beispiel dürfen wir das Schulgelände nicht verlassen. Klar, die Lehrer haben die Aufsichtspflicht und müssen auf uns achtgeben. Aber ich denke, man kann damit auch anders umgehen und uns einfach mal machen lassen. Nur wer Vertrauen bekommt, kann auch Verantwortung übernehmen.

Wie gehe ich mit Lebensmitteln um? Wie ernähre ich mich gesund? Praktische Fächer kommen aus meiner Sicht in der Schule viel zu kurz.

 

Ein anderes Beispiel sind Lernpläne: In Deutsch, Mathe und Englisch bekommen wir für jedes neue Thema Aufgaben, die wir in einer bestimmten Zeit – zum Beispiel in einem Quartal – bearbeiten müssen. Dafür bekommen wir eine oder zwei Stunden Zeit, also das sieht der Stundenplan so vor. Ich finde, man könnte den Schülern auch sagen: Den Lernplan macht ihr zu Hause, er ist eure Verantwortung. Die Zeit, die dadurch frei würde, könnte man ganz anders nutzen. Anstatt still vor sich hin zu arbeiten, könnte man in dieser Zeit guten und wichtigen Unterricht machen.

Hauswirtschaft, zum Beispiel, halte ich für ein wichtiges Fach. Darin unterrichtet werden aber nur die Zehner und nur ein Halbjahr lang. Dieser Zeitraum ist zu kurz, um all die Dinge zu lernen, die nach der Schule wichtig sind: Wie gehe ich mit Lebensmitteln um? Wie ernähre ich mich gesund? Praktische Fächer kommen aus meiner Sicht in der Schule viel zu kurz.

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