Notendebatte

Sind Noten wirklich das grösste Problem? Eine Leistungsbeurteilung mit Worten birgt grössere Risiken

Die heutigen Ansprüche an die Schule sind hoch: Jedes Kind soll optimal lernen können. Weil Noten die Motivation von guten wie schlechten Schülern schädigen können, stehen sie in der Kritik. Doch wie praxistauglich ist die Alternative? Ein Beitrag von Eveline Geiser, der kürzlich in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erschienen ist.

Luzern wird die Noten zur Leistungsbeurteilung in allen Primarschulen der Stadt abschaffen. Wie immer, wenn es um Schule geht, erregt das die Gemüter: Die einen sehen in der Abschaffung der Schulnoten eine zeitgeistige Kuschelpädagogik, die anderen die Erlösung von Leistungsdruck und Schulängsten. Doch beide Seiten liegen falsch.

Gastautorin Eveline Geiser, Journalistin der NZZ

Erstere liegen falsch, weil eine Schule ohne Noten nicht auf Leistungsbeurteilung verzichtet. Es geht in der Diskussion nur um deren Ausgestaltung. Letztere hingegen könnten mit ihren Idealen in der Praxis scheitern.

Die Kritiker der Schulnoten fordern individualisierte Rückmeldungen, die nachweislich den Lernprozess besser unterstützen: eine Beurteilung mithilfe von Worten statt Zahlen also.

Doch im Alltag der Volksschule fehlt dafür häufig die Zeit und manchmal auch das Fachwissen der Lehrperson. Und dann schadet die Rückmeldung in Worten der Motivation der Schüler möglicherweise mehr, als es eine schnöde Note getan hätte.

Das Ideal einer individuellen Betreuung

Gute Argumente sprechen gegen die Noten: Sie bilden den individuellen Lernfortschritt nicht ab. Vor allem aber verliert der Schüler mit Blick auf die Noten die eigentlichen Lernziele aus den Augen.

Das geschieht nicht sofort. In den ersten Schuljahren ist die Motivation, zu lernen und auszuprobieren, noch ungetrübt. Doch sprechen Eltern und Lehrpersonen nur noch von Noten, so beginnen Kinder, ungewöhnliche und kreative Herangehensweisen an Probleme und anspruchsvolle Themen zu meiden. Soll am Ende eine Note stehen, so gehen sie lieber auf Nummer sicher.

In der Praxis sieht das dann so aus: Schüler A ist von der Anzahl Fehler in seinem Text zum Thema “Meine Ferien” derart überfordert, dass er sich lieber auf Fächer konzentriert, in denen er gut ist. Schüler B hingegen ruht sich schon jahrelang auf der guten Note in seinen Aufsätzen aus. Er ignoriert, dass er die Kommaregeln immer noch nicht beherrscht, und vermeidet lieber komplexe Sätze. Die Leistung reicht ja aus.

Den Blick wieder für den individuellen Lernprozess frei zu machen, dabei hilft aus pädagogischer Sicht das individuelle Feedback. Im Idealfall erkennt der Lehrer, wo der Schüler Schwierigkeiten hat, und erklärt ihm, wie er diese lösen kann. Immer wird das auch dem besten Lehrer nicht gelingen. Denn in einer Volksschule ist individuelle Förderung nur begrenzt möglich.

Worte können mehr verletzen als abstrakte Zahlen

Als Aussenstehende und Eltern können wir allenfalls erahnen, was es bedeutet, 25 neugierigen, nach Anerkennung lechzenden Neunjährigen ein individuelles Feedback zu ihrem Text mit dem Titel “Meine Ferien” zu geben. Dass der eine oder andere Lehrer wenig differenziert vorgeht und pauschale Standardsätze verwendet, ist zumindest denkbar. Doch gerade hier wäre die Note vielleicht die bessere Lösung.

Denn die Note hat einen Vorteil: Sie ist abstrakt, und Primarschüler identifizieren sich weniger damit. Die Fallstricke beim Feedback mit Worten sind nicht abzuschätzen. Aussagen wie “Deine Sätze sind unlogisch” oder “Du rechnest zu langsam” können für einige Schüler schnell zur Tatsache werden, die sie nicht mehr zu ändern suchen. Kurz, Worte können die Psyche der Kinder mehr verletzen, als es Noten je tun könnten.

Guten Lehrern gelingt die pädagogische Kunst des individuellen Feedbacks zumindest punktuell – unabhängig davon, ob sie Noten setzen oder nicht. Ob die schlechteren Lehrer durch das Abschaffen der Noten hingegen besser werden, ist fraglich. Gerade suchen Volksschulen landauf, landab händeringend nach Lehrpersonen. Um eine lernförderliche Feedback-Kultur in den Primarschulen zu gewährleisten, sollten wir vor allem überlegen, woher in Zukunft gut ausgebildete Pädagogen kommen sollen.

Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen

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