Seit dem 1. Januar 2008 erfolgte die Umsetzung von Art. 17 des Volksschulgesetzes, das heisst, die Anzahl besonderer Klassen wurden stark reduziert. Dafür wurde der Spezialunterricht wie Integrative Förderung, Logopädie, Legasthenie, Dyskalkulie, Deutsch für Fremdsprachige und Psychomotorik massiv ausgebaut. Von diesem Förderunterricht sind in einigen Klassen bis die Hälfte aller Schüler/-innen betroffen.
Dieser Spezialunterricht findet oft innerhalb der Klasse statt. Heilpädagoginnen, Klassenhilfen, usw. betreuen während dem Regelklassenunterricht Kinder mit Defiziten, indem sie Erklärungen und Anweisungen geben, was sehr störend sein kann. Diese Unruhe führt ab und zu sogar dazu, dass Schüler/-innen mit Gehörschutz ausgerüstet werden müssen. Der Förderunterricht in Kleingruppen findet während der ordentlichen Unterrichtszeit ausserhalb des Klassenzimmers statt. Auch diese Massnahme führt zu Hektik und Unruhe, denn daraus resultiert ein stetiges Kommen und Gehen.
Die Konzentrationsfähigkeit der Kinder wird durch die Unruhe überstrapaziert, und gute Schulleistungen sind in einem solchen Umfeld schwierig zu erbringen. Da der Spezialunterricht ausserhalb des Klassenzimmers stattfindet, verpassen Kinder den Unterrichtsstoff der Regelklasse.
Auch darf es nicht sein, dass bald bei der Hälfte der Schulkinder ein Defizit diagnostiziert wird. Jedes Kind, das einen Spezialunterricht besuchen muss, ist stigmatisiert. Nicht nur die Kinder sind in einem solchen Schulklima überfordert, sondern auch manche Lehrperson. Ihre Lehrtätigkeit wird durch Koordination und Absprachen belastet. Die individuellen Arbeitspläne der Kinder und die heterogenen Klassen verlangen nach individueller Förderung, welche die Lehrperson nur ungenügend erfüllen können.
Ebenfalls belastend für die Lehrpersonen und die Kinder sind Mehrjahrgangsklassen. Insbesondere überfordert sind die Erstklässler beim selbständigen Arbeiten währenddem die Zweit- und Drittklässler am mündlichen Unterricht teilnehmen.
Zum Frühsprachenlernen
Bedenken von Sprachforschern und Lehrpersonen wurden ignoriert, und das Frühsprachenlernen wurde ohne Versuchsphase eingeführt. Dies obschon fremdsprachigen Drittklässler/innen die Standardsprache bereits grosse Probleme bereitet.
Von den Lehrpersonen wird fürs Frühfranzösisch eine anspruchsvolle Weiterbildung verlangt, und für die neue Dotation an Lektionen muss (im Kanton Bern) mit jährlich wiederkehrenden Kosten von 14 Millionen CHF gerechnet werden. Auch diese Reform wurde durchgesetzt, obschon unzählige Studien zum frühkindlichen Lernen immer zum gleichen Schluss kommen, nämlich: dass es möglich ist, Fertigkeiten in verschiedensten Bereichen früh zu erwerben, dass aber bei späterem Beginn dieser “Vorsprung” wieder eingeholt wird. Dass das Lernen einer Sprache über das Ohr, wie es bei einem Aufenthalt in einem anders sprachigen Land stattfindet, mit zwei/drei Lektionen pro Woche nicht möglich, und das teure Lehrmittel “Milles feuilles” unbrauchbar ist, war von Anfang an klar. Von einem “Sprachbad” zu reden, ist absurd, muss doch ein Kind ungefähr 40% seiner Wachzeit mit einer Fremdsprache konfrontiert sein, damit sein Gehirn diese speichern kann.
Die Sprachforscherin Simone Pfenninger, welche die Sprachkompetenzen der Frühenglisch- mit Spätenglischlernenden verglichen hat, kam zu folgendem Fazit:
- Spätlernende sind motivierter und holen den Vorsprung der Frühlernenden in kurzer Zeit auf.
- Wegen den Defiziten der Frühlernenden in der deutschen Sprache fällt den Kindern das Fremdsprachenlernen schwerer
- Eine gefestigte Sprachbasis ist positiv für den Fremdsprachenerwerb,
Unsere Mittelstufenschulkinder sind mit einem übervollen Stundenplan belastet. Insbesondere Kindern mit Migrationshintergrund (ca. 30%) sind oft überfordert, denn sie müssen neben ihrer Heimatsprache, die Mundart, dann die Standartsprache und im dritten Schuljahr bereits die französische oder englische Sprache erlernen.
Einschulung von Vierjährigen
Dem Bildungsziel der linken Politik: Jedem das Gleiche, anstatt jedem das Seine konnte mit der Früheinschulung näher gerückt werden. Die Behauptung, eine obligatorische Früheinschulung führe zu besseren Leistungen, konnte jedoch widerlegt werden: Die Kinder, die bei der Pisa-Studie am besten abgeschnitten haben, stammen aus dem Kanton Freiburg, wo nur gerade 19% einen zweijährigen Kindergarten besuchten. Die Kinder des Kantons Tessin hingegen gehen alle zwei bis drei Jahre lang in den Kindergarten und schlossen die Pisa-Tests mit den schlechtesten Ergebnissen ab.
Mit der obligatorischen Einschulung von Vierjährigen wurde die in diesem Alter eminent wichtige Aufgabe einer individuellen motorischen und sprachlichen Förderung den Familien weggenommen. Auch die beste Kindergärtnerin kann nicht auf die vielen Fragen, die jedes Kind in diesem Alter stellen möchte, eingehen. Sie wird zudem kaum den Bewegungsdrang dieser Kinder stillen können, sie auf Mäuerchen klettern und in ihre Arme springen lassen. Mit diesen zwei Beispielen soll gezeigt werden, wie die Kinder in einer Gruppe in ihrer persönlichen Entwicklung behindert werden.
Defizite in Sprache und Motorik verlangen vermehrt Förderunterricht, also auch Kostenfolgen. Dass bei einer Verlängerung der Schulzeit von neun auf elf Jahre auch mehrere hundert Lehrpersonen mehr nötig sind, wurde im Bernischen Grossen Rat zwar vorgerechnet, aber von der Bildungsdirektion kaum zur Kenntnis genommen. Die finanzielle Belastung von Gemeinden durch zusätzliche Schulräume, Schulmaterial und Anstellungen ist enorm.
Gezwungenermassen müssen nun diese kleinen Kinder einen umfangreichen Blockzeitenstundenplan von vier Lektionen pro Morgen absolvieren, anstatt, wie für sie angepasst, einmal in der Woche eine Spielgruppe besuchen zu können.
Eltern beklagen, dass ihre Vierjährigen unter Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Aggressionen leiden, ein Zeichen ihrer psychischen Überforderung.
Ein weiteres Problem ist für viele Vierjährige der Schulweg, entweder ist er zu lang oder zu gefährlich. Mit dem Schulbeginn bereits nach acht Uhr, ist die Dunkelheit im Winter ebenfalls eine Zumutung. Trotzdem wagen es viele Eltern und Kindergärtnerinnen nicht, ihre Erfahrungen mit den vierjährigen Kindern offenzulegen, da sie sonst als Versager/-innen abgeurteilt werden.
“Unselbständigkeit, Trennungsängste hinsichtlich der Bezugsperson, sowie wenig Interesse und Bereitschaft in einer Gruppe gemeinsam etwas zu machen sind Thematiken, die unsere Arbeit erschweren bis verunmöglichen.”
Ursina Zindel, Präsidentin des Verbands Kindergarten Zürich (VKZ)
Mutig weist hingegen die Präsidentin des Verbands Kindergarten Zürich (VKZ) auf die Probleme von und mit Vierjährigen hin: “Unselbständigkeit, Trennungsängste hinsichtlich der Bezugsperson, sowie wenig Interesse und Bereitschaft in einer Gruppe gemeinsam etwas zu machen sind Thematiken, die unsere Arbeit erschweren bis verunmöglichen.” Auch Erziehungswissenschafterin Prof. Stamm meint: “Der vorverlegte Schulbeginn hat entwicklungspsychologisch durchaus seine Nachteile.” Zwar würden früh instruierte Kinder einen Vorsprung gegenüber anderen bekommen, aber dieser wachse sich relativ schnell aus. Eine ausgewogene physische und mentale Gesundheit, emotionale Stabilität und ein gutes Selbstwertgefühl seien ebenso wichtige Grundlagen für eine erfolgreiche Schullaufbahn.
Zwei Kantone, nämlich Schwyz und Nidwalden, haben bereits auf die Klagen von Eltern und Lehrpersonen reagiert. Und in den Kantonen Graubünden, den beiden Appenzell und Zug gibt es keinen obligatorischen zweijährigen Kindergarten.
Es ist erwiesen, dass Vorschulkinder in den Bereichen motorische, kognitive, emotionale und soziale Kompetenz noch grosse Unterschiede aufweisen, die sich bis zum 6./7. Lebensjahr – dem aus diesem Grund gewählten Einschulungstermin – immer mehr angleichen. Meist sind erst ca. sechsjährige Kinder fähig, während längerer Zeit zuzuhören oder selbstständig für sich zu spielen oder zu arbeiten.
Auch die Erziehungsdirektion hat im Rahmen eines Controllings die Anzahl Kinder mit einem reduzierten Pensum (was im Kanton Bern z.T. möglich ist) erhoben. Von 9633 Kindern wurde für 5956 Kinder, also für 62%, ein reduziertes Pensum verlangt und 9,6% zurückgestellt.
Selbstgesteuertes, digitales Lernen
Das im Lehrplan propagierte selbst gesteuerte Lernen überfordert viele Kinder und verlangt zusätzlichen Förderunterricht. Dies führt zu Chancenungleichheit, indem Kinder von wohlhabenden Eltern Privatunterricht oder eine Privatschule besuchen können.
Mit der Einführung des Lehrplans 21 wurden die Lehrpersonen beauftragt, nicht primär Wissen zu vermitteln, sondern nur noch als Coaches das selbstgesteuerte Lernen der Kinder organisatorisch zu begleiten.
Das selbstgesteuerte, digitale Lernen gelingt nicht allen Kindern gleich gut. Gemäss einer in der Fachzeitschrift «The Lancet» veröffentlichten kanadischen Studie mit 4520 Kindern zwischen acht und elf Jahren sind die kognitiven Fähigkeiten wie wahrnehmen, denken und verstehen schon ab zwei Stunden vor dem Bildschirm beeinträchtigt. Digitales Lernen ist asozial und kann bei Kindern zu psychischen Problemen führen.
Als Folge des individualisierten Unterrichts mit dem mühsamen Zusammentragen von Unterrichtsstoff durch die Kinder selbst, brauchen die Kinder mehr Zeit. Diese Mehrlektionen haben im Kanton Bern mehrere hundert neue Vollzeitstellen erfordert. Die Aufstockung der Lektionen belastet nicht nur die Schulkinder und Lehrpersonen, sondern auch die Finanzen (im Kanton Bern von jährlich 30 Mio. CHF). Neu entwickelte Lehrmittel sollten nicht zwingend die Arbeit mit Tablets oder Hanys voraussetzen. Diese digitalen Lernhilfen müssen jedoch im Zyklus 3 – vom Kanton finanziert – jedem Kind zur Verfügung gestellt werden, um die Chancengerechtigkeit zu garantieren.
Sind Jugendliche und Kinder häufig und lange digital unterwegs, geraten viele wegen der Reizüberflutung in eine Lust- und Interessenlosigkeit.
Entwicklungspsychologisch steht im Zyklus 1 und 2 das analoge Lernen über den direkten Austausch, die Nachahmung, das Ansprechen aller Sinne und Erlebnisse in der Natur im Vordergrund. Das Prinzip des Lernens über Kopf, Herz und Hand, aber auch die verschiedenen Lerntypen müssen berücksichtigt werden. Dies als Ausgleich zum zunehmenden Gebrauch von digitalen Medien in der Freizeit.
Sind Jugendliche und Kinder häufig und lange digital unterwegs, geraten viele wegen der Reizüberflutung in eine Lust- und Interessenlosigkeit. Dies zeigte sich in der Schweiz bei den digitalen Unterrichtshilfen zu den Lehrmitteln “Mille Feuilles” und “Clin d’Oeil”. Was nicht sofort per Klick geht, wird verworfen.
Immer mehr Jugendlichen fehlt die Ausdauer
Das Phänomen “lazy brain” tritt auf und zeigt sich längst bei den Ausbildungsplätzen. 798 Personalverantwortliche von Schweizer Ausbildungsbetrieben gaben bei einer Umfrage an, dass immer öfter die Ausbildungen abgebrochen würden und vielen Jugendlichen die Ausdauer fehle. Aufgaben und Probleme im Berufsalltag liessen sich eben nicht mit einem Wisch auf dem Touchscreen lösen.
Die Digitalisierung wirkt sich auch gesundheitlich aus. Professor Dr. Norbert Pfeiffer, Direktor der Augenklinik des Universitätsspitals Mainz, weist auf die Zusammenhänge zwischen Bildschirmarbeit und zunehmender Kurzsichtigkeit von Kindern und Jugendlichen hin. Weitere gesundheitliche Folgen des immer exzessiveren Computer-, Tablet- und Handygebrauchs sind Fehlbelastungen, insbesondere der Halsmuskulatur, was zu degenerativen Veränderungen an Wirbelkörpern oder Bandscheiben führen kann.
An (Berner) Schulen muss die heute vorhandenen Erfahrungswerte und neusten Erkenntnisse zum Einsatz von digitalen Hilfsmitteln berücksichtigt werden. Das Ziel muss ein Mehrwert beim Lernen der Kinder sein, aber nicht auf Kosten ihrer Gesundheit. Die Meinung, dass in unserer digitalen Welt kein eigentliches Wissen mehr gefragt sei, weil sich alles im Internet finden lässt, muss revidiert werden.
Spezielles Curriculum für zukünftige Lehrpersonen (Kindergärtnerinnen) für 4- und 5- Jährige, sowie Einführung einer 4-jährigen Berufslehre für Lehrpersonen mit einem Berufsmaturabschluss
Mit der Forderung, dass alle zukünftigen Kindergärtnerinnen das Gymnasium und die Matura machen müssen, war absehbar, dass damit geeignete, sozialkompetente, musisch begabte und auf die besondere Pädagogik für Kleinkinder Ausgebildete fehlen würden.
Mit der Lehrpersonenausbildung an Seminaren, mit allgemeinbildenden Fächern und einer vierjährigen Einführung ins Berufsleben konnten die Absolventen bereits als 20-Jährige eine Schulklasse übernehmen.
Heute stehen den Absolventinnen und Absolventen eines Gymnasiums mit der Matura alle Studienrichtungen offen. Somit hat sich der Einstieg ins Berufsleben und die Eigenständigkeit für Lehrpersonen drei bis vier Jahre hinausgeschoben. Oft sind der Umgang und die Arbeit mit Kindern den Absolventinnen und Absolventen des Gymnasiums fremd.
Deshalb müsste insbesondere für die Lehrpersonen für 4- und 5-Jährige eine spezielle Ausbildung analog der Kindergärtnerinnenausbildung geschaffen werden. Beginn nach der obligatorischen Schulzeit mit einem mindestens einjährigen Sozialpraktikum/ Praktikum mit Kindern, dann einer 2- bis 3-jährigen Ausbildung an der PH.
Für zukünftige Lehrpersonen der Zyklen (1), 2 bis 3 ist ein Curriculum für eine Berufslehre nach der obligatorischen Schulzeit mit einem Berufsmaturaabschluss auszuarbeiten.
Ich bin nicht Lehrer, sondern Vertreter der Institutionenökonomie. Deshalb ist meine Perspektive auf dieses fatale Reformversagen institutionell. Wie ist es in unserem Bildungssystem möglich, dass Reformen von oben gegen längst bekannte wissenschaftliche Erkenntnisse, gegen den “gesunden Menschenverstand” und gegen den Widerstand der Lehrkräfte an der Front durch gesetzt werden können? Und erst nach einem riesigen Ressourcenverschleiss nach vielen Jahren voraussehbar schlechter Erfahrungen gegen Widerstände der Bürokratie und von Interessengruppen teilweise wieder korrigiert werden können? Offenbar braucht es auch institutionelle Reformen, damit solche Fehlentwicklungen schon früh erkannt und gestoppt werden können.
Wieso?
Weil Bildung in höchstem Mass top down organisiert ist. Auf der untersten professionellen Stufe stehen die Lehrpersonen, denen bei Nichtbefolgen der sinnlosen Reformen mit Kündigung gedroht wird.
So einfach ist das.
Es braucht dringend auch institutionelle Reformen. Die Gängelei und Administration von oben ist auch in Deutschland äußerst stark.