28. April 2024
Bologna-Prozess

Humboldt geht es an den Kragen

Mit der „Bologna-Erklärung“ begann im Jahr 1999 die große Umwälzung des deutschen Hochschulsystems. Seither geht es jedoch nicht nur in puncto Freiheit bergab. Auch die Qualität bleibt auf der Strecke – und das kritische Denken. Pat Christ, Journalistin von Cicero, analysiert die Wirkung dieses Reformprojekts schonungslos.

Viele Studenten fühlen sich ständig unter Druck. Nach der Klausur ist vor der Klausur. Ununterbrochen heisst es, sich mit Wissen vollzupumpen und Credit Points nachzujagen. Zwischenrein macht das Studium sicherlich noch Spass; wird es interessant sein. Nur eines ist es nicht mehr: frei. Dafür sorgte ein Prozess, der im Jahr 1999 mit der Unterzeichnung der „Bologna-Erklärung“ eingeleitet wurde. Seither geht es jedoch nicht nur in puncto Freiheit bergab. Auch die Qualität bleibt auf der Strecke. Und das kritische Denken.

Gastautorin Pat Christ, Journalistin beim Cicero

Von dem, was da komme, sei einstweilen nur so viel erkennbar, dass es “mit dem herkömmlichen, uns Älteren noch wohlvertrauten Universitätsleben nichts mehr zu tun haben wird”. Das schrieb Konrad Adam, ehemals Bildungsredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2008 in einem Beitrag zum Bologna-Prozess unter der Überschrift “Hochschule als Warenhaus”. Damals, als der Umgestaltungsprozess noch in vollem Gange war, hagelte es bereits vielerorts Kritik.

Im selben Jahr, als Adam auf das in seinen Augen “gefährliche” Unternehmen Bologna-Prozess hinwies, protestierte auch der Deutsche Hochschulverband. Der forderte eine Reform der Reform, da er die “konkrete Umsetzung des Bologna-Prozesses, wie sie in Deutschland betrieben wird, als weitgehend misslungen “ansah. Zum Beispiel, weil man es, anders als erwartet, nicht geschafft habe, die Zahl der Studienabbrecher zu senken.

“Aus dem aktuellen Bildungsbericht von Bund und Ländern geht hervor, dass an einer Universität 25 Prozent der Bachelor-Studierenden ihr Studium aufgeben, an der Fachhochschule sind es sogar 39 Prozent,” hiess es im Brandbrief von 2008. Die Situation ist keineswegs besser geworden. Dies geht aus einer im August 2022 präsentierten Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) hervor. Demnach wird das Studium noch immer sehr oft geschmissen.

Viele Abbrecher an Unis und FHs

Von jenen Studenten, die 2016 und 2017 ins Bachelor-Studium einstiegen, brachen laut DZHW 28 Prozent ab. Besonders eklatant waren die Abbrecherzahlen an den Unis: Sie betrugen 35 Prozent. An den FHs beendeten 20 Prozent ihr Bachelor-Studium nicht. Theodor Berchem gehört zu jenen Hochschulmenschen, die den Bologna-Prozess von Anfang an erlebt haben. Der heute 88-Jährige stand von 1975 bis 2003 an der Spitze der Uni Würzburg. “Am Bologna-Prozess war ich zu Beginn beteiligt”, erzählt der ehemalige Vizepräsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz.

Bereits in den 80ern machte sich der Romanist Gedanken über neue Modelle der akademischen Ausbildung. Das unterschiedliche Niveau des Abiturs sah er als Crux an. Theodor Berchem trat für ein propädeutisches Jahr zwischen Gymnasium und Beginn des regulären Studiums ein. Daran sollten sich zwei Jahre Fachstudium anschließen: “In diesen zwei Jahren hätte man die Studenten auch noch an die Leine nehmen sollen.”

“Freiheit ist unerlässlich”

Auf der soliden Basis eines viersemestrigen Fachstudiums hätte man nach seinem Modell dann zwei Jahre lang völlig frei studieren können. Ganz “nach Gusto und Fähigkeiten”, so Berchem. Und übrigens ganz im Sinne des Humboldtschen Bildungsideals. Für Wilhelm von Humboldt war Freiheit die Conditio sine qua non im ganzheitlichen Bildungsprozess. Davon schrieb er zum Beispiel 1792 in seinem Aufsatz „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen (im Original; Anm. d. Red.) der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“. Wörtlich heisst es: “Der wahre Zweck des Menschen (…) ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung.“

Torre Asinelli (der höhere Turm) und Torre Garisenda (der kleinere, schiefere Turm) im Herzen der Stadt Bologna

Durch den Bologna-Prozess wurde das Studium verschult und das Niveau schlechter, beklagt Theodor Berchem. Obwohl er schon lange emeritiert ist, steht er noch in lebendigem Austausch mit Uni-Kollegen. Nicht zuletzt interessiert ihn, wie sich deren Studenten entwickeln. Gar nicht gut, erfährt er: “Viele meiner Kollegen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen.”

Es braucht Freiräume

Theodor Berchem selbst hatte ab 1956 in Genf, Köln und Paris ad libitum Romanistik, Anglistik und Slawistik studiert: “Wir durften machen, was wir wollten, am Ende mussten wir halt alle Scheine vorlegen können.” Niemand hätte ihm vorgeschrieben, dass er nun drei Kapitel Flaubert oder zwei Kapitel Balzac lesen müsse. Theodor Berchem ging in völliger Freiheit seinen Interessen nach. Er vertiefte sich in die französische Sprache. Lernte Russisch und Polnisch: “Auch in Sanskrit hab ich reingerochen.”

“Wir haben eine sehr brave Generation, das kann gefährlich sein.”

Theodor Berchem, ehemaliger Rektor Universität Würzburg

 

Nun erschöpft sich die Freiheit im Studium nicht darin, sich, ohne gegängelt zu werden, neue Kenntnisse einverleiben zu können. Freiräume sind wichtig, um einmal länger über ein Problem nachzudenken. Angehende Akademiker sollten sich auch nicht nur in ihrem engen Fachgebiet den nötigen Durchblick verschaffen. Es braucht Freiräume, um sich, etwa vor der cum tempore beginnenden Vorlesung, mit Kommilitonen und Dozenten über das, was in der Welt geschieht, auszutauschen. Nicht zuletzt die Entwicklung eines kritischen Denkens scheint durch “Bologna” auf der Strecke zu bleiben. “Wir haben eine sehr brave Generation, das kann gefährlich sein”, meint Theodor Berchem.

Eine Mammutaufgabe

Die neuen, gestuften Studiengänge einzuführen, hatte für die Universitäten eine Mammutaufgabe bedeutet. Viele halfen mit, damit das gelang. Auch der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), dessen Präsident Berchem einst war, hatte von 2004 bis 2013 eine entsprechende Expertengruppe. Die unterstützte die Fakultäten bei der Studiengangsgestaltung, der Modularisierung und der Nutzung von ECTS-Instrumenten.

Vom Gros dieser Experten kassierten die Bologna-Macher kurz vor Auflösung des Gremiums Kritik. Hochschulen, erklärten sie, seien Orte zur Bildung der wissenschaftlichen Persönlichkeit. Sie dürften nicht “allzu sehr auf die unmittelbare Verwertbarkeit von Qualifikationen am Arbeitsmarkt reduziert” werden. Die Bildungsziele der Hochschulen, hieß es in einem Bericht, der im DUZ – Magazin für Wissenschaft und Gesellschaft erschien, seien “vielfach mit dem Qualifikationsbedarf der Wirtschaft als mehr oder weniger identisch gehandelt” worden.

Ausgerichtet am Bedarf

Für die Wirtschaft läutete der Bologna-Prozess dagegen eine positive Entwicklung ein. “Dadurch ist nichts schlechter geworden”, betont Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der VBW – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, gegenüber Cicero. Einiges habe sich vielmehr verbessert. So gebe es nun zusätzliche Bildungsangebote: “Der Bachelor-Abschluss bietet allen einen qualifizierten Abschluss, die nicht oder nicht gleich zum Master übergehen.”

Studierende kämen durch Bologna früher auf den Arbeitsmarkt: “Davon profitieren unsere Unternehmen für ihre Fachkräftesicherung.” Wichtig ist Brossardt nun, dass “die Stossrichtung durch die Bologna-Reform” entschlossen weiterverfolgt wird. Die Hochschulen müssten “noch stärker an den Arbeitsmarktbedarfen” ausgerichtet werden.

Kritik der Hochschullehrer

Das Volk der Dichter, Denker und Pädagogen drohe bildungspolitisch “in die Falle des blanken Verwertungsdenkens” zu tappen, warnte im selben Jahr, als sich die DAAD-Expertengruppe kritisch zu Wort meldete, Josef Kraus. Der Gymnasiallehrer war einst Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Auch er monierte die Verschulung und Standardisierung durch Bologna. An die Stelle einer Orientierung an Wissenschaft trete “eine modulare workload- und credit-point-Orientierung an Bildungshäppchen”. Wilhelm von Humboldt gehe es “endgültig an den Kragen”.

Hans-Georg Weigand, Mathe-Professor an der Uni Augsburg, gehört zu jenen Wissenschaftlern, die den Bologna-Prozess, wenngleich nicht ohne jedes Wenn und Aber, von Anfang an befürworteten. Er, der schon immer viel auf Achse war, musste, wie er erzählt, früher im Ausland immer wieder das Diplom erklären. Das kannte kein Mensch: “‘Bachelor’ und ,Master‘ hingegen waren in der internationalen Szene stehende Begriffe.” Nachdem Weigand dem Diplom wie auch dem Staatsexamen schon immer kritisch gegenüberstand, fand der Mathe-Didaktiker die internationale Vergleichbarkeit der Abschlüsse von Anfang an gut.

Explosion der Studiengänge

Doch nicht nur als wissenschaftlicher Weltbürger befürwortete er, anders als, wie er zugibt, viele seiner Kollegen, die Reform des Studiums. Durch Bologna zählten nun endlich alle während des Studiums erbrachten Leistungen, erläutert er. Früher habe nur gezählt, was am Ende des Studiums geleistet worden war. In punkto “Freiheit “habe sich das Studium der Mathematik ebenso wie das der Informatik kaum verändert. Im Master könne man zwischen verschiedenen Optionen wählen. Nur im Grundstudium nicht. Doch schon früher seien die Veranstaltungen in den ersten sechs Semestern ziemlich genau festgelegt gewesen: “Das mag bei den Geisteswissenschaften anders sein.”

An den Unterschieden zwischen Geistes- und Naturwissenschaften liegt es vor allem, warum Bologna für die einen ein schmerzvoller Abschied von etwas war, das sie als weitgehend gut empfunden hatten, während andere Vorteile aus der Reform zogen. Ein Studium der Germanistik ist nun mal nicht mit einem Mathe- oder Medizinstudium vergleichbar. Was allerdings auch Hans-Georg Weigand kritisch sieht, ist die Explosion der Studiengänge. Über 19’000 gibt es inzwischen. Vielfalt werde jedoch nur vorgegaukelt: “Viele unterscheiden sich kaum”, sagt Weigand.

Ein “Riesenbürokratieaufwand”

Auch wenn er vieles kritisch sieht, wäre es für Andreas Goerdt, Professor für theoretische Informatik an der TU Chemnitz, fatal, würde man den Bologna-Prozess wieder rückgängig machen. Die Rückabwicklung, äussert er gegenüber Cicero, würde neuerlich einen “Riesenbürokratieaufwand” nach sich ziehen. Letztlich, meint Goerdt, komme es auf das System ohnehin nicht an. Dürfte er sich eine Nachbesserung wünschen, würde dies den Studienaufbau betreffen. “Die Möglichkeit, seinen Bachelor in einem Fach zu machen und dann den Master in irgendetwas Verwandtem, ist nicht sinnvoll”, sagt er. Ein Fach, das seinen Namen als Wissenschaftsgebiet verdient, habe einen inneren Aufbau.

Anders, als versprochen, ist zum Beispiel der Bachelor in Geschichte kein Abschluss, der in der Praxis für einen Beruf als Historiker qualifiziert.

Lars Adler, Honorarprofessor für mittelalterliche Geschichte an der TU Darmstadt

 

Lars Adler, seit 2020 Honorarprofessor für mittelalterliche Geschichte an der TU Darmstadt, hat selbst noch im alten System studiert. Nun lehrt er unter Bologna-Bedingungen. Er kann also beide Systeme miteinander vergleichen. Bei seinen Kollegen, die anfangs durchaus positiv in den Bologna-Prozess hineingegangen seien, nimmt er mehrheitlich Enttäuschung wahr. Aber auch Studenten seien enttäuscht. Anders, als versprochen, sei zum Beispiel der Bachelor in Geschichte kein Abschluss, der in der Praxis für einen Beruf als Historiker qualifiziere. Für den gehobenen Dienst in einem Archiv brauche man mindestens den Master. Dasselbe gelte für Bibliotheken.

Qualitativer Rückschritt

Die Klage darüber, dass Freiheit verloren ging und es zur Verschulung und Reglementierung kam, ist nach Lars Adlers Beobachtungen durchaus richtig. Mit Blick auf die zu erbringenden Studienleistungen sei es im Fach Geschichte gleichzeitig zu einem “qualitativen Rückschritt” gekommen. Was Adler diesbezüglich berichtet, frappiert. Studenten, erklärt er, müssen nicht mehr jene handwerklichen Fähigkeiten entwickeln, die es ihnen ermöglichen würde, sich kritisch mit Lehrinhalten auseinanderzusetzen. Das betrifft vor allem die Befähigung zum Quellenstudium.

Studenten lernen Adler zufolge im Geschichtsstudium nicht mehr, Handschriften zu lesen. Der  Umgang mit Originalquellen sei im Curriculum nicht mehr vorgesehen: “Das geschieht höchstens über Honorarprofessoren und Gastdozenten.” Nicht selten schlössen Studenten nach zwölf Semestern ihr Masterstudium in Geschichte ab, ohne jemals im Archiv gewesen zu sein: “Auch für akademische Arbeiten wird kein Quellenstudium mehr gefordert.” Die Auseinandersetzung mit Sekundärliteratur genüge.

“Früher hat man Studenten handwerkliche Kompetenzen beigebracht und sie dann zu ihrer Meinung zum jeweiligen Thema gefragt. Heute heisst es, lest dies oder jenes durch und erzählt mir, was ihr verstanden habt.”

Lars Adler, Honorarprofessor für mittelalterliche Geschichte an der TU Darmstadt

 

Lars Adler begann seine Lehrtätigkeit vor genau zehn Jahren. Seither habe er eine einzige Doktorarbeit, vier Bachelorarbeiten und eine Masterthesis mit archivalischem Quellenmaterial bekommen. Das Gros der Geschichtsstudenten gehe mit publizierten Quellen um. Verständlich sei dies angesichts der Forderung, nach sechs Monaten mit der Arbeit fertig zu sein: “Bei quellengestützten Themen ist das nicht machbar.” Deutschlandweit sinke der Anteil von Promotionen in der Geschichtswissenschaft mit unveröffentlichten Quellen.

Früher habe man Studenten handwerkliche Kompetenzen beigebracht und sie dann zu ihrer Meinung zum jeweiligen Thema gefragt. “Heute heisst es, lest dies oder jenes durch und erzählt mir, was ihr verstanden habt”, so Lars Adler. Der Wille, sich kritisch mit Inhalten auseinanderzusetzen, habe spürbar nachgelassen. Das verschulte Studium komme den jungen Leuten entgegen. Kritische Rückmeldungen zu Lehrinhalten seien ihm während den zehn Jahren seiner Lehrtätigkeit noch nicht begegnet.

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