7. November 2024
Grundfehler der Erziehung

“Man muss manche Kinder und Jugendliche eng führen und strenger kontrollieren”

Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach stellt einen grundlegend falschen Ansatz in der deutschen Pädagogik fest: Die Folgen der bei den 68ern beliebten antiautoritären “Emanzipation” schade vor allem leistungsschwachen Kindern. Reichenbach zeigt Auswege für ratlose Eltern auf. Das Interview erschien in der WELT.

WELT: Herr Reichenbach, steckt Deutschland in einer Erziehungskrise?

Roland Reichenbach: Hannah Arendt führte 1958 in ihrem berühmten Vortrag “Krise in der Erziehung”, das, was sie als Erziehungskrise bezeichnete, auf eine strukturelle Krise der Moderne zurück. Sie glaubte, dass Erziehung ein konservatives Geschäft sei.

Man könne, so Arendt, nur das weitergeben, was sich irgendwie bewährt hat, was man kennt, was man weitergeben möchte. Das Neue dagegen “bringen die Neuen”, das heisst Kinder und Migranten, sie verändern die Welt. Wenn die Erziehung ihre konservierende Aufgabe vergisst, ist, was sich eigentlich verbirgt hinter deren Krise, eine Autoritätskrise und eine Traditionskrise. Das hat Arendt so konstatiert, aber so pauschal kann man das, glaube ich, nicht bestätigen.

WELT: Aber?

Reichenbach: Aber es gibt eine Krise des Gemeinsinns und eine Krise der Repräsentation. Es ist den Eltern kaum mehr klar, wofür sie eigentlich einstehen sollen und wofür die Schule steht. Das hat zu tun mit der modernen Bewegung hin zum Individuum, hin zur an sich ja großartigen Bedürfnisorientierung. In deren Engführung sieht man plötzlich nur noch das Individuum, das Kind, das Hirn.

Es ist den Eltern kaum mehr klar, wofür sie eigentlich einstehen sollen und wofür die Schule steht.

 

Die Schule als Ganzes und ihre Funktion in der Gesellschaft gerät aus dem Blick – bis dahin, wo Kinder, Schüler als Ansammlung frei flottierender Atome betrachtet werden. Die Eltern sind, wenn überhaupt, primär am eigenen Kind interessiert. Und dazu kommt noch, dass es weniger und mehr privilegierte Familien und Kinder gibt und dass die herrschende individualisierte Pädagogik zugespitzt eigentlich eine Pädagogik für Gewinner ist.

Roland Reichenbach (61) ist Professor der Allgemeinen Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich (Bild: Roland Reichenbach/zvg)

WELT: Was bedeutet “Pädagogik für Gewinner”?

Reichenbach: Es herrscht die Annahme, selbst organisiertes Lernen, individualisiertes Lernen sei universell ein probates Mittel. Das passt für jene, die von zu Hause aus irgendwie wissen, dass sie in der Welt einen Platz erhalten. Jene aber, die leistungsschwach sind, aus welchen Gründen auch immer, mangelnde Motivation, familiärer Hintergrund und so weiter, für die ist eine andere Pädagogik nötig.

Es gibt manche Kinder und Jugendliche, die muss man eng führen. Man muss sie aber auch ermutigen, und man muss sie strenger kontrollieren. Und das tönt für moderne pädagogische Ohren überhaupt nicht attraktiv.

WELT: Weil?

Reichenbach: Weil in Debatten der Nachkriegszeit über Autorität, besonders durch die 68er, der Begriff der “Emanzipation”, der Befreiung der Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt der Pädagogik gerückt wurde. Man könnte auch sagen, die Pädagogik ist politisiert worden.

WELT: Adorno etwa postulierte, kurz gesagt, nach dem Krieg den “autoritären Charakter” durch falsche Erziehung als Ursache des Erfolgs der Nazis, durch andere Erziehung sei er zu überwinden. 

Reichenbach: Vor Adornos Studien gab es noch den Psychologen Kurt Lewin, aber ja: Zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die autoritäre Erziehung als ein Problem gefunden. Autorität in der Erziehung galt als schlecht. Demgegenüber gestellt ist bis heute, das werden Sie in allen möglichen Leitlinien und Bildungskonzepten finden, die gute “demokratische Erziehung”.

Alles soll verhandelbar, auf Augenhöhe sein. Pädagogik ist aber nun mal eine asymmetrische Angelegenheit.

 

Nun sind beide Begrifflichkeiten, Demokratie und auch Autorität, politische. Man kann sich auch fragen, warum und woher kommt eigentlich die Idee, dass die Erziehung demokratisch, also volksherrschaftlich, sein soll? Was soll das bedeuten?

WELT: Von Ihnen gibt es ein Buch, “Pädagogische Autorität. Macht und Vertrauen in der Erziehung”. Woran denken Sie bei Autorität in der Erziehung?

Reichenbach: Daran, dass ohne irgendeine Bereitschaft, sich führen zu lassen, es überhaupt nicht geht mit dem Zusammenleben in einer Gesellschaft. Das ist eine Kompetenz, die man nur gegenüber einer glaubhaften Autorität erwerben kann. Ob man sie erwirbt, hängt fundamental davon ab, dass es sich für mich lohnen muss, mich führen zu lassen. Das jemand ausgeübte Autorität annimmt, ist abhängig von einem Versprechen. Eine bestimmte Ökonomie muss stimmen, irgendwo muss die Möglichkeit eines Tauschakts gesellschaftlich vorhanden sein.

WELT: Was erhält man im Tausch gegen das Sich-führen-Lassen?

Reichenbach: Man könnte so sagen: Die ältere Generation muss es schaffen, der jüngeren glaubhaft zu vermitteln, dass sie, wenn sie sich in deren Führung begibt – an der Schule heisst das: sich anstrengen, wohl verhalten, lernen – eine individuell attraktive Zukunft erwarten kann. Schulische Bildung ist somit nicht Selbstzweck, sondern ganz konkret Mittel zum Zweck, auch wenn Pädagogen das heute nicht gerne hören.

WELT: Erziehung also als Gütertausch – du lässt dich erziehen, dafür bist du später in der Lage, dir ein Häuschen zu leisten. Das aber stimmt für ganz viele Kinder nicht mehr.

Reichenbach: Es ist ganz evident, dass es Segmente der Gesellschaft gibt und also Kinder und Jugendliche, die vielleicht aus gutem Grund nicht an die Wirksamkeit der Bildung glauben können. Warum sollte ich mich dann einem schulischen Regime unterwerfen? Letztlich haben wir ein also ein Sinnproblem.

WELT: Nur in dem Sinn, dass materielle Tauschgüter unerreichbar sind? Oder auch in einem immateriellen Sinn, dass es einen Mangel sinnstiftender Arbeit gibt?

Reichenbach: Mir ist Richard Sennetts (amerikanisch-britischer Soziologe, d. Red.) “passiver Nihilismus” näher. In Umfragen äußert sich das so: Menschen, die ihren Job und den Lohn als in Ordnung beschreiben, antworten auf die Frage, ob sie dort noch in fünf Jahren arbeiten wollen: “Auf keinen Fall.” Und auf die Frage, was Sie nun dagegen tun wollen: “Keine Ahnung”.

Die Leute haben sich daran gewöhnt, dass sie in einer Art Krise sind, nicht wissen, wohin die Reise geht, und das verläuft relativ störungsfrei, ohne Leiden.

 

In einer hochflexiblen, hoch veränderlichen Arbeitswelt ist es für Arbeitgeber auch von Vorteil, wenn die Angestellten gar nicht wissen, was sie eigentlich wollen; dieser passive Nihilismus ist somit funktional, es handelt sich dabei um eine kulturell adaptive Identitätsdiffusion. Das heißt, die Leute haben sich daran gewöhnt, dass sie in einer Art Krise sind, nicht wissen, wohin die Reise geht, und das verläuft relativ störungsfrei, ohne Leiden.

WELT: Das meinen Sie also, wenn Sie sagen, die Eltern wüssten kaum, wofür sie einstehen sollen?

Reichenbach: Wer nicht weiss, wohin er will, hat ein pädagogisches Problem, denn das Zeigen ist die Grundoperation in der Pädagogik, wie der Erziehungswissenschaftler Klaus Prange schrieb. Die ältere Generation muss also wissen, was sie zeigen will. Stattdessen verhält es sich immer häufiger so, als ob die Älteren ihre Verantwortung an die Jüngeren abgeben wollten.

Statt “Ich habe dich immer unterstützt, du konntest machen, was du willst” wäre besser, wenn man sagt: “Studier’ BWL!” oder “Übernimm den Hof!”. Dann kann das Kind entgegnen: “Nein!”, und sich überlegen, was es stattdessen will. Ich will sagen: Freiheit ohne Befreiung funktioniert nicht.

WELT: Und die Befreiung erfolgt als Negation des Erzieherwillens?

Reichenbach: Ja, oft; es geht also nicht darum, ob man schafft, wie vielfach heute das Leitbild, dass die Jungen von sich aus herausfinden, was sie wollen. Sondern darum, dass die ältere Generation sagt, was ihr wichtig ist – und dass sie weiss, dass die Jungen es dann eh machen, wie sie wollen. Das ist der Kern von Friedrichs Schleiermachers Pädagogik.

Womöglich haben wir es in der Gegenwart nicht mit der “falschen” Pädagogik zu tun, sondern mit einer “fehlenden” Pädagogik.

 

Die pädagogische Frage würde lauten, meinte er: Was will denn die ältere Generation von der jüngeren? Zur gleichen Zeit wusste er, dass die Jüngeren nicht so rauskommen, wie die Älteren es wollen. Genau das ist modern. In diesem Sinne würde ich abschließend die These wagen: Womöglich haben wir es in der Gegenwart nicht mit der “falschen” Pädagogik zu tun, sondern mit einer “fehlenden” Pädagogik.

WELT: Weil die Alten das “Zeigen” scheuen? Warum ist das so?

Reichenbach: Heute wollen Führungspersonen, Lehrpersonen, auch Professoren von ihren Studierenden oder Mitarbeitern geschätzt, am besten noch geliebt werden. Das ist eine Krankheit, die habe ich auch ein bisschen, auch als Vater von vier erwachsenen Kindern. Man möchte geschätzt werden, aber das ist vielleicht nicht so gut.

Ich bin mir ganz sicher, dass das für meine Eltern nie eine Frage war: Ob ihre Söhne sie lieben. Wir waren ihre Söhne, sie haben uns geliebt, das war es. Und nun haben wir ein fundamentales Bestreben, alle Kommunikation zu symetrisieren und halten es kaum aus, wenn das nicht der Fall ist – alles soll verhandelbar, auf Augenhöhe sein. Pädagogik ist aber nun mal eine asymmetrische Angelegenheit.

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Ein Kommentar

  1. Roland Reichenbach erinnert zu Recht daran, dass Lernbeziehungen im Unterricht asymetrisch sind. Das hat überhaupt nichts mit fehlendem gegenseitigem Respekt zu tun, sondern mit dem Wissens- und Erfahrungsvorsprung von Lehrkräften gegenüber ihren Schülern. Fruchtbare Lernbeziehungen haben ein natürliches Gefälle, das nicht negiert werden kann. Jugendliche wünschen sich kompetente Lehrer, die ihnen im Unterricht etwas Wesentliches vermitteln und sie für eine Sache begeistern können. Das fachliche Können, unterstützt durch methodische Kompetenz, ist durch nichts zu ersetzen. Es ist deshalb ein Affront, wenn Lehrpersonen grundsätzlich in der Rolle von Begleitern gesehen werden. Dieses künstliche Abwerten der pädagogischen Führungsaufgabe hat bereits grossen Schaden angerichtet. Wir brauchen an unseren Schulen keine grauen Mäuse, sondern Lehrerinnen und Lehrer mit ermutigender Ausstrahlung. Es ist höchste Zeit, dass die Pädagogischen Hochschulen in dieser Frage für mehr Klarheit sorgen.

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