28. April 2024
Deutschland - Bertelsmann-Studie

Warum es an Grundschulen bald einen grossen Lehrer-Überschuss geben könnte

Eine neue Studie kommt zu dem Schluss, dass in den kommenden Jahren deutlich mehr Grundschullehrer zur Verfügung stehen werden, als von der Politik berechnet. Die Forscher sehen darin eine “seltene Gelegenheit”, eine zentrale Weichenstellung vorzunehmen. Sabine Menkens, Journalistin der Welt, kommentiert eine überraschende Studie der Bertelsmann-Stiftung.

Es kommt derzeit selten vor, dass Bildungsforscher auch einmal etwas Gutes zu berichten haben. Die schlechten Schulleistungen bei gleichzeitig enormem Lehrkräftemangel bieten dafür wenig Gründe – aber: Nach einer neuen Studie der Bildungsforscher Klaus Klemm und Dirk Zorn für die Bertelsmann-Stiftung könnte der Lehrkräftemangel zumindest in der Grundschule schon bald behoben sein.

Sabine Menkens, Gastautorin und WELT-Journalistin

Entwickeln sich die Geburten weiter auf dem Niveau von 2022 sowie 2023 und beginnen weiterhin so viele Abiturienten ein Lehramtsstudium wie derzeit, könnte es schon ab dem kommenden Schuljahr erstmals einen leichten Überschuss an Grundschullehrkräften geben – der zum Ende des Jahrzehnts immer grösser wird.

Nach den Berechnungen von Klemm und Zorn dürften von 2023 bis 2035 insgesamt rund 96’250 fertig ausgebildete Lehrkräfte fürs Grundschullehramt zur Verfügung stehen. Der Bedarf an neuen Einstellungen im selben Zeitraum werde jedoch voraussichtlich nur etwas mehr als 50’000 Personen umfassen. Bis zum Jahr 2035 würden also zusammengenommen 45’800 Grundschullehrer mehr bereitstehen, als erforderlich wären, um den Unterricht abzudecken. Das sind deutlich mehr, als die Kultusministerkonferenz (KMK) in ihrer im vergangenen Monat veröffentlichten Prognose ermittelt hat. Sie geht den Forschern zufolge nur von einem Gesamtüberschuss von 6300 Absolventen aus.

Trendwende in der demografischen Entwicklung

Ihre Berechnungen stützen die Forscher auf eine Trendwende in der demografischen Entwicklung: Während 2021 in Deutschland noch 795’500 Kinder geboren wurden, waren es 2022 nur noch 738’800 und 2023 hochgerechnet nur noch 689’300. Diese Geburtendelle hatten die Kultusminister in ihrer Prognose noch nicht berücksichtigt. “Wir haben uns bei unseren Berechnungen auf die Prognose der Kultusminister gestützt und diese an die sinkenden Geburtenziffern in 2022 und 2023 angepasst und fortgeschrieben. Dadurch kommen wir zu einem deutlich größeren Überschuss an Grundschullehrkräften, als von der KMK errechnet”, sagt Bertelsmann-Bildungsexperte Dirk Zorn.

Die Prognosen der Kultusministerkonferenz zu Schülerzahlen und Lehrkräfteentwicklung hätten sich gegenüber der Vergangenheit zwar deutlich verbessert, so Zorn. Derzeit dauere der Prozess, bis sich veränderte Geburtenzahlen auch in einer angepassten Schülerprognose niederschlügen, aber noch deutlich zu lange. Allerdings könne es natürlich auch in Zukunft Unwägbarkeiten geben, etwa durch verstärkte Zuwanderung, so Zorn. “Wir stützen uns dabei auf die Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes.”

“Es besteht die seltene Gelegenheit, die Schulen mit den grössten Bedarfen personell deutlich besser auszustatten.”

Bildungsforscher Dirk Zorn

 

Laut den Berechnungen wird der Bedarf an Grundschullehrkräften im Jahr 2025 mit mehr als 213’000 seinen Höchststand erreichen und dann bis 2035 auf rund 180’000 abnehmen. Der Bedarf an Neueinstellungen wird demnach vor allem in den Jahren 2029 bis 2032 stark sinken, danach allerdings wieder etwas ansteigen, da mehr Lehrkräfte in den Ruhestand eintreten.

Ausgebildetes Personal wird es dann aber in ausreichender Zahl geben, wie die Prognosen darlegen. Denn offensichtlich waren die Bemühungen erfolgreich, wieder mehr Abiturienten für den Beruf des Grundschullehrers zu begeistern und auch die Studienplätze entsprechend aufzustocken. Wurden 2015 in den ersten beiden Semestern des Hauptstudiums im Primarstufenstudiengang nur 6005 Studenten gezählt, waren es 2021 schon 9255 und 2022 bereits 9947.

“An Gymnasien eher eine Überversorgung”

Zorn sieht den sich anbahnenden Lehrkräfteüberschuss an Grundschulen als Chance. “Ich hoffe, dass politisch die Gelegenheit wahrgenommen wird, gezielt in die pädagogische Qualität zu investieren – vor allem bei Schulen in herausfordernder Lage.” So könnten die zusätzlichen Lehrkräfte etwa das ab dem Schuljahr 2024/2025 geplante Startchancen-Programm verstärken, mit dem 4000 Schulen mit einem besonders hohen Anteil sozial benachteiligter Schüler gefördert werden sollen. “Es besteht die seltene Gelegenheit, die Schulen mit den grössten Bedarfen personell deutlich besser auszustatten.”

Zudem könnten die zusätzlichen Lehrkräfte auch für Förderangebote im Rahmen des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz eingesetzt werden, der ab dem Schuljahr 2026/27 sukzessive in Kraft tritt, oder auch zur Verstärkung in den fünften und sechsten Klassen.

Denn in anderen Schulformen ist der Lehrermangel enorm. “Derzeit betrifft der Lehrkräftemangel an den weiterführenden Schulen vor allen Dingen die nicht-gymnasialen Schulen, während es an den Gymnasien eher eine Überversorgung gibt”, sagt Zorn.

“In Jahren, in denen Lehrkräftemangel besteht, beginnen junge Leute ein Lehramtsstudium, in der Hoffnung, dass dieser Mangel auch nach Abschluss ihres Studiums noch existiert – dabei riskieren sie, Teil eines Überangebots zu werden.”

Zitat aus der Bertelsmann-Studie

 

Die Forscher mahnen deshalb an, die Bedarfsplanung noch sehr viel akkurater zu gestalten als in der Vergangenheit: Durch sehr zeitnahe Beobachtung der Geburtenentwicklung, eine darauf abgestimmte Planung möglichst flexibler Ausbildungskapazitäten und die Bereitschaft, Phasen des personellen Überangebots für pädagogische Verbesserungen zu nutzen, anstatt ausgebildete Lehrkräfte in die Arbeitslosigkeit zu schicken.

Eines der weltweit längsten Lehramtsstudien

Abschreckende Beispiele gibt es dafür aus der Vergangenheit genügend. Auf dem Lehrkräftemarkt ist der “Schweinezyklus” genannte Wechsel zwischen Mangel und Überfluss besonders ausgeprägt – auch wegen der langen Ausbildungszeit, die mit Studium und Referendariat sieben Jahre beträgt. “In Jahren, in denen Lehrkräftemangel besteht, beginnen junge Leute ein Lehramtsstudium, in der Hoffnung, dass dieser Mangel auch nach Abschluss ihres Studiums noch existiert – dabei riskieren sie, Teil eines Überangebots zu werden”, heisst es dazu in der Studie. Umgekehrt wählten in Jahren, in denen ein Überangebot von Lehrkräften bestehe, deutlich weniger Studienberechtigte ein Lehramtsstudium – aus Furcht davor, nach dem Abschluss arbeitslos zu werden.

“Der Zyklus aus Überschuss und Mangel bei Lehrkräften ist in Deutschland auch deshalb so ausgeprägt, weil wir eines der längsten und zudem das am stärksten nach Schulformen differenzierte Lehramtsstudium weltweit haben”, so Bertelsmann-Experte Zorn. “Das erschwert es, akkurat zu steuern und flexibel zu reagieren.”

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3 Kommentare

  1. ”Nach den Berechnungen von Klemm und Zorn dürften von 2023 bis 2035 insgesamt rund 96’250 fertig ausgebildete Lehrkräfte fürs Grundschullehramt zur Verfügung stehen.”
    Da haben unsere Experten von Bertelsmann aber eine ganz genaue Zauberformel, um so eine exakte Aussage treffen zu können, etwaige zukünftige Flüchlingsströme inklusive. Wie in jeder B-Studie arbeitet man hier mit unseriös gesetzten Stellparametern mit der Intention von außerhalb zu steuern.

    Bislang studierte der Kluge bei variablen Interessen stets antizyklisch und tut es heute noch. Bertelsmann behauptet nun das Gegenteil und argumentiert pseudowissenschaftlich mit dem viel zu groß angesetzten Fenster 2023 – 2035 von 12 Jahren – das entspricht zwei voll ausgebildeten Lehrergenerationen.
    Mein Rat an junge Leute, die jetzt Grundchullehrer werden wollen: Studieren Sie Grundschullehramt!

    Zu Bertelsmann-Studien insgesamt: Meist sind sie weder valide noch reliabel, d.h. sie messen nicht, was sie vorgeben zu messen, und sind weiters nicht reproduzierbar (Finnland lässt grüßen). Diese ist von der dritten, auch nicht so seltenen Art. Die zusammengetragen Zahlen sind bekannt – hier ist die Dokumentation der Bildungsministerien durchaus transparent. Sie erzählen also nicht Neues. Dem Zauberlehrling gleich panscht dann der Bertelsmann ein Gebräu, was man besser gleich wegkippt. Nicht trinken!

  2. Bertelsmann will im Bildungsbereich verdienen und sagt einen Überschuss an Lehrern voraus. Da fragt man sich, wie viele Leute 1 + 1 zusammenzählen können. Bei der WELT anscheinend nicht viele.

  3. In einer anderen B-Studie
    https://schule21.blog/2023/10/04/flexiblere-wege-ins-lehramt-dritte-phase-lehrkraeftebildung/
    vom Oktober 23 lesen wir:
    ”Bis 2035 fehlen laut dem Bildungsforscher Klemm bis zu 158.000 Lehrkräfte an deutschen Schulen. Der Lehrkräftemangel wird Schule über Jahre hinweg lähmen, wenn es nicht gelingt, ihm wenigstens in Teilen beizukommen.”
    Dass auch diese Zahl gar nicht stimmen kann, ist jedem offensichtlich, der auch nur flüchtig Einblick in die offiziellen Daten geworfen hat: Gesamtbestand an Lehrern 820,000, Laufzeit pro Kopf etwa 38 Jahre, Zeitfenster 12 Jahre, leicht nachteilige Demographie, Anzahl der Abschüsse im Normbereich.
    Kurz, die B-Experten widersprechen sich systematisch im eigenen Zahlensalat. Erst dies, dann gleich wieder das, immer schön PingPong zur gänzlichen Verwirrung.

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