Ich komme schon bei dieser Anrede ins Straucheln. Denn angenommen, ich lebte in einer muslimisch geprägten Umgebung und würde in einem Artikel mit «liebe Christen» angesprochen werden, würde ich mich als Konfessionsloser gar nicht erst angesprochen fühlen. So musste ich zum Beispiel zur Kenntnis nehmen, dass gemäss einer Studie, der Anteil der Konfessionslosen bei Ihnen höher liegt als bei den Christen. Wer hätte das gedacht?
Über 5000 Mitbürgerinnen und Mitbürger, die als Muslime bezeichnet werden, leben derzeit in Biel. Das sind 10%. Die Zusammensetzung dieser Population unterscheidet sich stark von der in Frankreich. Während unser westliches Nachbarland über 7 Millionen Menschen vorwiegend mit maghrebinischen Wurzeln aufweist, zählen wir in unserer Stadt wesentlich mehr Leute aus dem Balkan und der Türkei. Dieses Zusammenleben ist nicht spannungsfrei, aber weit von den Zuständen in den französischen Banlieues entfernt.
Die Beziehung zwischen uns beiden war nicht immer spannungsfrei. 2006 veröffentlichte ich mit drei Kollegen einen Artikel, in dem ich Sie daran erinnerte, dass die Integration keine Einbahnstrasse sei und den mangelnden Lernwillen zahlreicher Migrantenkinder beklagte. Anders als bei den Leuten, die sich Sorge um eine allfällige Überfremdung unseres Landes machen, ging es mir immer um die mir anvertrauten Kinder. Und ich sagte Ihren Kindern immer, dass sie mehr arbeiten müssten als ihre Schweizer Kameraden, das Los jeder Migration. Ein paar Jahre später deckte ich die Machenschaften des Islamrats auf, der Jugendliche aus Biel indoktrinierte und sie in sogenannte Koranschulen schickte, wo einige von ihnen für den Dschihad rekrutiert wurden. Im linken Milieu warf man mir eine Islamophobie vor. Die Informationen zu diesen Vorgängen erhielt ich aber von muslimischen Eltern von Betroffenen, die völlig verzweifelt waren. Und viele von Ihnen kamen später auf mich zu, um sich bei mir zu bedanken.
Anders als bei den Leuten, die sich Sorge um eine allfällige Überfremdung unseres Landes machen, ging es mir immer um die mir anvertrauten Kinder.
Egal ob Bosnier, Albaner, Pakistaner, Türken oder Kurden, die meisten Kinder und Eltern, mit denen ich zusammenarbeiten durfte, haben meine Anliegen verstanden. Während die Integrationsbehörden Ihnen die Umkehr aller Werte predigten, wonach bei einem Scheitern nicht Sie
sondern unser fremdenfeindlicher Staat die Verantwortung trägt, haben Sie erkannt, dass der Weg der Eigenverantwortung vielversprechender war. Sie haben mich an Ihre Feste und Hauseinweihungen eingeladen, Ihre Kinder haben in meinem Lehrlings- und Migrantentheater mitgewirkt und sind heute stolze Berufsleute.
Wir sprechen viel über Integration, aber viel zu wenig über Selbstständigkeit. Ein Fehler, denn punkto Gründungsmentalität können wir viel von Ihnen lernen. Sie tragen erheblich zum Gründungsgeschehen in unserem Land bei. Hüseyn stellte zum Beispiel sein Kebabrestaurant ohne zu zögern einer Orpunder Klasse zur Verfügung, die eine Woche lang die harte Berufserfahrung im Gastronomiegewerbe kennenlernen durfte. Der Gemüseladen, den Akif und seine Familie betreiben und der natürlich auch an einem Sonntag geöffnet ist, bietet nicht nur spezielle Waren und eine überaus freundliche Bedienung, er ist ein Symbol Ihrer Schaffenskraft. An einer kürzlichen Klassenzusammenkunft erzählte mir Erdan, dass er jetzt endlich für seine Familie ein Haus kaufen konnte. Er kaufte es nicht hier, sondern in Kloten, wo der Fluglärm die Häuser billiger und die Steuern niedriger macht. Gleichzeitig gründete er eine Computerfirma. Nehat, der mir als Schüler den letzten Nerv ausgerissen hatte, ist nach einer Automechanikerlehre heute ein stolzer Carrosseriebesitzer. Wir fuhren oft zusammen an die Fussballmatches des FCB, in schicken Autos, die er mir mit Augenzwinkern präsentierte. Birsen, die stolze Kurdin, die nach einer Pflegefachlehre weiterstudierte und eine eindrückliche Karriere absolviert hat, vertraute mir an, dass sie dieses Dschihadgeschwätz nicht mehr ertragen könne. Ich erinnere mich an die Mazedonierin Pajtime, die zusammen mit einer Jüdin die BESA-Ausstellung in Biel moderierte. Die BESA-Ausstellung, welche die Rettung der Juden im 2. Weltkrieg durch die Albaner würdigte, hat mir das ganze Ausmass Ihres Erfolgs aufgezeigt.
Kurz, Sie wurden in unseren Arbeitsmarkt integriert, meistens durch eine Lehre. Nicht auszudenken, wie der Fachkräftemangel sich ausgewirkt hätte, wenn Sie und Ihre Kinder nicht wären.
Ich lernte Architekten, Ärzte, Juristinnen und Ingenieure kennen, Leute, die das Aufstiegsversprechen unseres Landes eingelöst haben, und natürlich immer wieder solide Handwerker. Während unsere Generation Z mit Teilzeitarbeit und Worklife-Balance durchs Leben schreitet und staunt, dass sie mit 30 kein Eigentum erwerben kann, arbeiten Sie in Schichten und mithilfe der ganzen Familie, um sich mit diesem Netz ein Haus leisten zu können. Als ich bei einer Hauseinweihung eingeladen war, schwärmte der frischgebackene Hausbesitzer, dass er schon wenige Wochen nach der Unterschrift im Grundbuchamt eingetragen war. In seinem Herkunftsland wäre dies, so sagte er mir, nicht ohne Schmiergeld gegangen und hätte mehr als ein Jahr gedauert. Kurz, Sie wurden in unseren Arbeitsmarkt integriert, meistens durch eine Lehre. Nicht auszudenken, wie der Fachkräftemangel sich ausgewirkt hätte, wenn Sie und Ihre Kinder nicht wären. Viele von Ihnen sind immer noch sehr israelkritisch. Sie akzeptieren aber, dass der Autor dieser Zeilen, der ehemalige Lehrer Ihrer Kinder, für dieses Land einsteht. Damit haben Sie auch ein wesentliches Prinzip unseres erfolgreichen Staates verstanden. Der Respekt vor anderen Meinungen. Es ist nicht der Islam, der zu uns gehört, es sind Sie, mit Ihrer grossen Anpassungsleistung und dem Willen, die Chance, die Ihnen unsere Gesellschaft bietet, zu ergreifen. Das ging nicht immer reibungslos und erforderte oft harte Arbeit. Und vor dieser kann man nur den Hut ziehen!