30. April 2024
Kompetenzen im Deutsch und Pisa-Resultate

Es braucht Lehrer und Lehrerinnen, die eine Leidenschaft fürs Lesen haben

Die Veröffentlichung der PISA-Resultate, die – wieder einmal – offengelegt hat, dass rund ein Viertel unserer Schülerinnen und Schüler nach der obligatorischen Schulzeit einfachste Texte nicht verstehen kann, also als Illetristen die Schule verlassen, hat eine Flut von Artikeln und Kommentaren ausgelöst. Gefragt sind dabei vor allem Einschätzungen von Bildungsforschern, Journalistinnen, PH-Dozenten oder Verbandsfunktionären. Höchste Zeit, einmal eine Person aus der Praxis zu Worte kommen zu lassen. Yasemin Dinekli, Redaktionsmitglied und Präsidentin des Condorcet-Trägervereins, hat sich mit der ehemaligen Schulleiterin aus Biel, Ruth Wiederkehr, unterhalten. Ruth Wiederkehr arbeitete bis letzten Sommer im Oberstufenzentrum Mett-Bözingen in Biel. In dieser Schule sitzen Real- und Sekundarschüler und Schülerinnen ausser in den Niveau-Fächern in derselben Klasse. Im Deutschunterricht bleiben sie zusammen.

Yasemin Dinekli, Mittelschullehrerin, Präsidentin des Trägervereins des Condorcet-Blogs, stellte die Fragen.
Ruth Wiederkehr, Schulleiterin bis letzten Sommer 2023: Es ist ein Knochenjob.

Condorcet

Frau Wiederkehr, wie interpretieren Sie die letzten PISA-Resultate?

Ich denke, sie bilden die Realität ab. Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler ist nach 8 Schuljahren nicht in der Lage einen einfachen Text zu verstehen, darunter auch  Sekundarschüler oder Schülerinnen.

Und was ist Ihrer Meinung nach die Ursache?

Es gibt nicht die Ursache. Die Situation ist komplex. Bereits die erste Pisa Studie von 2001 zeigte, dass die Schulen in Sachen Leseverstehen etwas ändern müssen.

Und wie habt ihr als Schule darauf reagiert?

Wir begannen kurz nach der ersten Pisa-Studie mit der Unterstützung von zwei Lese-Spezialistinnen, die ich anlässlich einer Weiterbildung kennengelernt hatte, am Thema Leseverstehen zu arbeiten. Zu Beginn waren das einzelne Projekte, die wir mit der ganzen Schule durchführten. Dazu gehörten auch Diskussionsrunden über gelesene Jugendbücher innerhalb des Kollegiums. Die zwei Lese-Spezialistinnen führten mehrere Fortbildungen mit dem ganzen Kollegium durch, also nicht nur mit den Deutschlehrpersonen. Später stellten wir sie dann im Rahmen der Lektionen im Angebot der Schule für einige Lektionen fest an. Sie erarbeiteten unser Lese-Konzept, das wir im Laufe der Jahre immer weiterentwickelten.

Gibt es neben der Weiterbildung und der Erarbeitung eines Lesekonzeptes weitere wichtige Voraussetzungen, die eine Verbesserung der Lesekompetenzen der Jugendlichen fördern?

Zunächst einmal braucht es Deutschlehrpersonen, die Leser und Leserinnen sind, also eine Leidenschaft fürs Lesen haben, so dass sie ihre Begeisterung weitergeben können. Sie müssen auch bereit sein, immer wieder neue Jugendbücher zu lesen, so dass sie selber auf dem neusten Stand sind, was Kinder- und Jugendbücher angeht.

Und die hattet ihr?

Ich denke ja. Die gemeinsame Arbeit mit den zwei Lese-Spezialistinnen half sicher viel. Wir suchten immer wieder nach spannenden, interessanten Texten, Kurzgeschichten, Büchern, Gedichten, die die jungen Leute packen, mit denen sie sich identifizieren können. Dabei haben uns die zwei Lese-Spezialistinnen während vieler Jahre sehr unterstützt, indem sie uns informierten, uns auf gute und geeignete Bücher hinwiesen, für uns Projekte entwickelten.

Es muss den Lehrpersonen der Oberstufe bewusst sein, dass es in jeder Klasse solche Jugendlichen hat und dass sie im Laufe der ersten 6 Schuljahre gelernt haben, ihr Problem zu kaschieren.

Das leuchtet mir ein, ist aber meiner Meinung nach noch keine Garantie, dass am Ende der Schulzeit 25% der Schülerinnen und Schüler immer noch nicht richtig lesen und schreiben können.

Das ist ein sehr wichtiger Hinweis. Vor 20 Jahren war es der Schulleitung und den Lehrpersonen noch nicht bewusst, dass wir in der 7. Klasse mehrere Schülerinnen und Schüler haben, die zu dieser Gruppe gehören. Oft entdeckten wir das Problem, wenn überhaupt, erst Mitte der 8. oder sogar erst in der 9. Klasse. Es muss den Lehrpersonen der Oberstufe bewusst sein, dass es in jeder Klasse solche Jugendlichen hat und dass sie im Laufe der ersten 6 Schuljahre gelernt haben, ihr Problem zu kaschieren. Wir begannen mit Hilfe von Lesescreenings, Antolin oder anderen offiziellen Tests, uns einen Überblick über die Lesefertigkeit, d.h. das Leseverstehen der Schülerinnen und Schüler zu verschaffen. Nur so kann gezielt mit den Leseschwachen gearbeitet werden.

Aber dann muss sich ja eine Lehrperson auf genau diese Jugendlichen konzentrieren, wie soll sie das mit einer Klasse von 20 und mehr schaffen?

Stimmt, das geht nicht. Um gezielt mit den Leseschwachen an ihren Defiziten arbeiten zu können, ist es unabdingbar, dass zwei Lehrpersonen während des Deutschunterrichts in der Klasse sind. Sie müssen beide die Schülerinnen und Schüler und ihre Stärken und Schwächen kennen.

Mit Vorteil befasst sich eine der Lehrpersonen regelmässig während zwei Wochenlektionen mit den leseschwachen SuS und arbeitet in kleinen Gruppen am Leseverstehen.

Also Teamteaching?

Ja, ein Teamteaching, in dem beide Lehrpersonen eingebunden sind, sich mit ihrer Arbeit identifizieren und sich zu gleichen Teilen einsetzen!

Mit Vorteil befasst sich eine der Lehrpersonen regelmässig während zwei Wochenlektionen mit den Leseschwachen und arbeitet in kleinen Gruppen am Leseverstehen. Die Lehrperson muss wissen, dass Vorlesen und Leseverstehen zwei unterschiedliche Kompetenzen sind. Diese Gruppe arbeitet mit Texten und Büchern, die ihren Lesefähigkeiten und ihrem Alter entsprechen. Der Weg geht von einfachen zu anspruchsvolleren Texten. Die andere Lehrperson kann in dieser Zeit z.B. mit dem Rest der Klasse an einer Klassenlektüre arbeiten. Sie muss ein für diese Klasse passendes Jugendbuch zur Hand haben.

Gibt es noch etwas, was Sie als wichtig erachten?

Es hilft sehr, wenn die Schülerinen und Schüler regelmässig, am besten wöchentlich, kurze Texte schreiben, Tagebucheinträge, Texte zu vorgegebenen Themen etc. Die Texte müssen sofort von den Lehrpersonen korrigiert und zurückgegeben werden. Auch das schafft eine einzelne Lehrperson nicht. Die Jugendlichen müssen ihre Texte korrigiert und überarbeitet ins Reine schreiben und zusammen mit dem neuen Text wiederum abgeben. Damit dies funktioniert, ist es von Vorteil, dass vor dem Abgabetermin eine Aufgaben- oder SOL-Lektion stattfindet, so dass die Lehrpersonen immer alle Texte zum vorgegebenen Termin erhalten. So wird nicht nur das Schreiben, Festhalten von eigenen Gedanken etc. verbessert, sondern nebenbei auch die Rechtschreibung.

Das ist ein enormer Aufwand

In der Tat, es ist Knochenarbeit, aber sie bringt etwas. Nichts ist so wirksam wie der Erfolg.

Das Lesekonzept muss sich über den gesamten Zyklus erstrecken und die Termine müssen für alle verbindlich sein.

Und noch eine Frage: Verfügt Ihre Schule über eine eigene Bibliothek?

Ja, und zwar über eine, die auf dem neusten Stand ist. Wir kaufen ungefähr dreimal pro Jahr neue Jugendbücher und es finden regelmässig Lektionen in der Bibliothek statt. Die Lernenden können selbständig Bücher auswählen, d.h., sie wissen, wie sie Bücher, die sie persönlich interessieren, in der Bibliothek finden: Cover, Klappentexte lesen, Rückseite lesen, Seite 99 lesen. Gefällt ein Buch nicht, wird es sofort zurückgebracht und ein neues ausgewählt. Die Lehrperson muss die Schülerinnen und Schüler beraten können. Ferienlektüren sind Pflicht. Klassen- oder Gruppengespräche zu Büchern und Texten finden immer wieder in der Bibliothek statt.

Wir kaufen ungefähr dreimal pro Jahr neue Jugendbücher und es finden regelmässig Lektionen in der Bibliothek statt.

Und da machen wirklich alle Deutschlehrpersonen engagiert mit?

Es braucht immer wieder Überzeugungsarbeit und jährlich mindestens eine gemeinsame Sitzung mit jedem Jahrgangsteam Deutsch, die die oder der Verantwortliche für das Lesekonzept leitet. Hier geht es auch um Anpassungen, Mitsprache, Rückmeldungen, Einbinden der neuen Lehrpersonen. Die Schulleitung muss voll hinter dem Konzept stehen und dafür sorgen, dass es weitergeführt wird, sonst funktioniert es nicht. Am besten ist es natürlich, wenn ein Schulleitungsmitglied selber Deutschlehrperson ist und auch noch unterrichtet. Und noch etwas Wichtiges: Das Lesekonzept muss sich über den gesamten Zyklus erstrecken und die Termine müssen für alle verbindlich sein.

Wie bei den Schülerinnen und Schülern ist es auch bei den Lehrpersonen, es sind nicht immer alle gleich gut drauf oder haben manchmal andere Prioritäten.

Gab oder gibt es keinen Widerstand aus dem Kollegium?

Nicht so direkt. Natürlich hat es Lehrpersonen, die nicht immer alles ganz genau so wie vorgesehen durchführen. Aber das gehört dazu, da muss man manchmal auch wegsehen können. Wie bei den Schülerinnen und Schülern ist es auch bei den Lehrpersonen, es sind nicht immer alle gleich gut drauf oder haben manchmal andere Prioritäten. Sie müssen aber schon wissen, was sie mindestens erfüllen müssen.

Gibt es weitere Kernpunkte in eurem Konzept?

Wir führen jedes Jahr mit der ganzen Schule einen Lesewettbewerb durch, den man als Klasse bestehen muss. In der 8. und in der 9. Klasse finden literarische Gespräche statt, die Jugendlichen führen ab der 7. Klasse ein Lesejournal, wir lesen ihnen auch Bücher vor etc. Ab und zu organisieren wir Dichterlesungen oder Literaturnächte oder es lasen zu bestimmten Zeitpunkten alle Lehrpersonen während ihres Unterrichts einen Abschnitt aus ihrem gegenwärtigen Lieblingsbuch vor, was auch zu interessanten Diskussionen und Gesprächen mit den Klassen führte. Das zeigte auch allen, dass die Lehrpersonen selber Lesende sind.

Da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.

Ob wir mit unserem Lesekonzept Erfolg haben? Mindestens die Zahlen sagen ja. Aus den 63% schwachen oder unterdurchschnittlichen Leseleistungen wurden Ende der 9. Klasse noch 28,7%, jedoch nur noch 4.5% davon waren schwach.

Und? Habt ihr Erfolg? Überprüft ihr das?

Ende des 9. Schuljahres führen wir nochmals mit allen ein Lesescreening durch. Und da sieht man jeweils die Fortschritte. Ich erhielt von den Lehrpersonen die Resultate ihrer Klasse und hielt das Ganze in einer Tabelle fest. Da sieht man übrigens auch, dass sich in den letzten Jahren die Lesekompetenz der neuen Siebtklässler kontinuierlich verschlechtert hat, d.h. Schülerinnen und Schüler mit schwachen und unterdurchschnittlichen Leistungen nahmen von Jahr zu Jahr zu. So waren im Jahr 2020 63.5 % aller Schülerinnen und Schüler der neuen siebten Klassen schwach oder unterdurchschnittlich und drei Jahre später waren es bereits 72 %.

Ob wir mit unserem Lesekonzept Erfolg haben? Mindestens die Zahlen sagen ja. Aus den 63% schwachen oder unterdurchschnittlichen Leseleistungen wurden Ende der 9. Klasse noch 28,7%, jedoch nur noch 4.5% davon waren schwach.

Wie steht es übrigens mit der «verpönten» Grammatik und der Rechtschreibung? Wie sehen Sie deren Bedeutung?

Die Arbeit daran darf nicht vergessen werden. Solide grammatikalische Kenntnisse helfen den Schülerinnen und Schülern, vor allem den fremdsprachigen, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Auch Diktate ergeben gegenwärtig wieder Sinn. Und noch etwas: Das vielkritisierte «Wörter Lernen» in den Fremdsprachen hilft, und zwar nicht nur den fremdsprachigen Kindern, den Wortschatz zu erweitern.

Was erachten Sie eher als nicht wirkungsvoll?

Texte schreiben hilft. Aber sie müssen sofort korrigiert und ins Reine geschrieben werden.

Ich beobachtete immer wieder, wie Lehrpersonen in ihren Klassen vorfabrizierte Lese-Verstehen-Tests durchführten. Ich denke, dass man damit vor allem das Vorwissen der Einzelnen überprüft, doch dass damit keine Verbesserung der Lesekompetenz stattfindet.

Gibt es noch etwas, was Sie an dieser Stelle sagen möchten?

Ja, dass es sehr wichtig ist, dass sich Lehrpersonen für ihre Schüler und Schülerinnen interessieren, bei den vorherigen Lehrpersonen nachfragen, den Problemen wirklich auf den Grund gehen. Je mehr Erfolg die Jugendlichen haben, desto mehr Freude entwickeln sie. Es ist zum Teil wirklich wie bei Knospen, die aufgehen. Einer von meinen ehemalig sehr schwachen Lesern hat letzthin das Anwalt Patent bestanden.

Die umfangreiche Beschreibung unseres Lesekonzepts für die Oberstufe finden Sie übrigens auf der Homepage des OSZ Mett-Bözingen in Biel (www.OSZMB.ch) unter der Rubrik «Leseförderung», dann «Lesekick». Hier finden Sie alle Unterlagen und können sich bei Fragen an die Schulleitung wenden.

Ich danke Ihnen für das Gespräch

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2 Kommentare

  1. Wegweisendes Lesekonzept für die Oberstufe. Herzlichen Dank für die Knochenarbeit!
    Mit ihrer Arbeit beweisen Sie, dass es möglich ist, den Anteil Schulabgänger*innen (25%) mit ungenügenden Sprachkompetenzen stark zu reduzieren. Und das während der obligatorischen Schule.
    Ein ermutigendes Beispiel, wie kompetente Lehrpersonen mit gezielter Unterstützung Unterricht weiter entwickeln können. Ein grundlegender Impuls für den Sprachunterricht, der nicht hoch genug gewürdigt werden kann.

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