18. November 2024
USA: Helikoptereltern

Die amerikanische Manie, die Kinder permanent zu überwachen, zu betreuen und zu fördern, kann Angststörungen auslösen

Das Phänomen der omnipräsenten Helikopter-Eltern schwappt immer mehr aus den USA nach Europa über. Doch nun wird Kritik an diesem Erziehungsstil laut. Manche Forscher vermuten sogar einen Zusammenhang mit den zunehmenden Angststörungen und Depressionen unter Jungen. Wir bringen einen Artikel des NZZ-Journalisten David Signer.

Zieht man mit Kindern in die USA um, sticht einem der andere Erziehungsstil ins Auge. Was man in der Schweiz spöttisch Helikopter-Eltern nennt, ist hier normal. Ständig kreisen Mütter und Väter in einer Mischung aus Überbehütung und Kontrolle über ihren Kindern.

Gastautor David Signer, NZZ-Journalist

Das beginnt schon beim Schulweg: Im Gliedstaat Illinois dürfen Kinder erst ab 14 Jahren allein zur Schule gehen, selbst wenn es sich nur um eine Viertelstunde zu Fuss handelt. Allein zu Hause lassen darf man sie in Illinois ebenfalls erst ab 14. Ebenso wenig dürfen Kinder ohne Aufsicht draussen spielen, nicht einmal im Hinterhof oder auf dem Rasen vor dem Haus. Es besteht das reale Risiko, dass ein Nachbar die Polizei oder die Kinderschutzbehörde anruft. Auch auf dem Spielplatz weichen die meisten Eltern kaum von der Seite ihres Nachwuchses.

Die Vorbereitung auf das College beginnt kurz nach der Geburt

Aber die meisten Kinder haben sowieso kaum Zeit zum Spielen, weil die Eltern sie nach der Schule gleich zum Schwimmunterricht, ins Ballett, zur Geigenstunde oder in den Nachhilfeunterricht bringen. Treffen mit anderen Kindern beschränken sich auf organisierte “play dates”, bei denen die Erwachsenen daneben sitzen und für Anregungen und Leitplanken sorgen.

Viele Eltern sind besessen von der Idee der Frühförderung und sorgen sich, kaum ist das Kind geboren, ob es wohl den Sprung in ein gutes College schaffen wird. Zur Nonstop-Erziehung passt auch das permanente Lob. Der häufigste Satz auf Spielplätzen ist: “Good job, buddy!”, selbst wenn das Kind bloss die Rutschbahn heruntergekommen ist. Wohlgemerkt: Das hat eine sympathische, liebevolle, positive und förderliche Seite; es zeigt aber auch, wie Eltern sich in den Mittelpunkt stellen und alles bewerten. Eigentlich sollte man auf dem Spielplatz ja nicht Mutter oder Vater zufriedenstellen, sondern Spass haben.

Zusammenhang zwischen Überbetreuung und Angststörungen

Nun gibt es jedoch zunehmend Kritik an diesem Erziehungsmodell, das nicht nur in den USA, sondern mit einer Zeitverzögerung auch in Europa immer mehr dominiert. Organisationen wie Let Grow setzen sich für mehr kindliche Autonomie und eine Änderung der Gesetze ein und werden zu einer landesweiten Bewegung.

Auch auf wissenschaftlich-pädagogischer Ebene werden kulturelle Gewissheiten infrage gestellt. Peter Gray, Psychologieprofessor am Boston College, veröffentlichte kürzlich im “Journal of Pediatrics” einen Artikel, der heftiges Medienecho auslöste. Er postuliert, dass die psychischen Störungen und die Suizide im Kindes- und Jugendalter, die beide seit Jahren markant zunehmen, im Zusammenhang stehen mit der elterlichen Intensivbetreuung und dem Mangel an freiem Spiel.

Auf einmal galt es als unterschichtstypische, bildungsferne Vernachlässigung, die Kinder “unbeaufsichtigt” zu lassen und sie nicht in jeder freien Minute zu “fördern”.

Oft wird der Anstieg von frühen Angststörungen und Depressionen mit sozialen Netzwerken, Bildschirmzeit und Corona erklärt. Laut Gray setzte die Zunahme jedoch schon vor etwa fünfzig Jahren ein, als sich auch das “overparenting” langsam ausbreitete. Offenbar begann der Trend in der – oberen, akademischen – Mittelklasse, die von Abstiegsängsten geplagt wird. Zugleich nahm die Zahl der Geschwister ab und breitete sich populärwissenschaftliches Wissen über Pädagogik und Psychologie aus.

Die Konklusion war: Man muss Kinder so früh wie möglich systematisch fördern, damit sie den Sprung in die höhere Bildung schaffen, als Garant für sozialen Aufstieg oder zumindest Status quo. Das erzieherische Mikromanagement wurde im Laufe der Jahre als vorbildlich und normal angesehen und sickerte von den oberen Klassen in die unteren. Auf einmal galt es als unterschichtstypische, bildungsferne Vernachlässigung, die Kinder “unbeaufsichtigt” zu lassen und sie nicht in jeder freien Minute zu “fördern”.

Freies, unstrukturiertes Spiel unter Gleichaltrigen ist wichtig

Vergessen ging dabei laut Gray, dass Kinder – sozial, kognitiv, intellektuell, motorisch – am meisten im freien Spiel mit Kameraden lernen. Und auch beim Nichtstun: Gerade Langeweile kann zu neuen Ideen inspirieren. Die “unstrukturiert” verbrachte Zeit ist nicht vergeudet, auch wenn man damit im Gegensatz zu Klavierstunden und Sportklub im Aufnahmeverfahren für Highschool und College nicht punkten kann. Die Optimierungsmanie führt nicht nur bei den Kindern zu Konformitätsdruck und Leistungsdenken, sondern auch bei den Eltern: Alle haben das Gefühl, in verantwortungsloser Art zu wenig für ihren Nachwuchs zu tun.

So ist es selbst bei Kindergeburtstagen üblich, dass man ein Formular unterschreiben muss, das die Gastgeber vor Klagen im Falle eines Unfalls schützt.

Hinzu kommt, vor allem in Grossstädten, die Furcht vor Autounfällen, Überfällen, Kidnapping, Pädophilen und allgemein vor der “stranger danger” – die diffuse Angst vor “gefährlichen Fremden”. Sie ist auch ein Grund für den Waffenkult. Ausgerechnet die USA, die Selbstverantwortung, Freiheit und Draufgängertum hoch bewerten, sehen, im Gleichschritt mit “woken” Überzeugungen, Kinder und Jugendliche nicht mehr als Entdecker, Forscher und Abenteurer, sondern als verletzliche Opfer, die man vor der gefährlichen Welt beschützen muss. Damit sind Ängste vorprogrammiert.

Die Jungen kennen nichts anderes als die Dauerbetreuung

Zu dieser Übervorsicht passen auch die Tendenz zum Homeschooling, das Alkoholverbot bis 21 Jahre, die um sich greifenden Bücherverbote in Schulbibliotheken sowie die Obsession mit Versicherungen und Haftungsausschuss. So ist es selbst bei Kindergeburtstagen üblich, dass man ein Formular unterschreiben muss, das die Gastgeber vor Klagen im Falle eines Unfalls schützt. Selbst über einer harmlosen Party hängt das Damoklesschwert von Verletzungen, Anwälten und Schadenersatzforderungen.

Der Prozess verstärkt sich im Lauf der Generationen. Die Jungen von heute erinnern sich, im Gegensatz zu den Älteren, nicht mehr, dass es einmal anders war: dass man stundenlang allein oder mit Kameraden draussen spielte, ohne dass sich irgendjemand Sorgen machte deswegen. Für die junge Generation ist pausenlose Betreuung normal, und so wird sie wohl dereinst auch ihre eigenen Kinder aufwachsen lassen. Diejenigen, die selbst unter den verbreiteten Angststörungen leiden, werden erst recht versuchen, ihre Schützlinge gegen Gefahren abzuschirmen, anstatt ihnen Stärke, Mut und Neugierde mit auf den Weg zu geben.

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