Als junger linker Lehrer und Vertreter einer modernen, reformorientierten Schule hatte ich – im Gegensatz zu meinem Umfeld – durchaus Sympathien für den Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor, der 1995 den Bildungssektor nach betrieblichen Grundsätzen umzupflügen begann. Das hatte viel mit meiner damaligen beruflichen Situation zu tun. Wir wollten die Schule verändern, die Selektion abschaffen, Experimente wagen, Schülermitbestimmung einführen, Noten abschaffen und stiessen dabei immer wieder auf den Widerstand unserer älteren Kollegen und scheiterten an den starren Strukturen. Da kam Ernst Buschor gerade recht. Seine sogenannte wirkungsgeführte Verwaltung (New Public Management) verfolgte die Trennung von strategischer und operativer Führung, wobei die einzelnen Verwaltungseinheiten eine Leistungs- und Kostenvorgabe erhielten. Mit diesen Leitlinien schuf Buschor die teilautonomen Schulen – eine einschneidende Änderung, gegen die sich vor allem ältere Lehrer zur Wehr setzten. Wir hingegen erhofften uns dadurch mehr Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten.
Obwohl der «Reformturbo», wie Ernst Buschor oft genannt wurde, 2002 mit der Ablehnung seines Volksschulgesetzes gebremst wurde, war sein Einfluss immens. Zwar war die Schule, wie Herr Buschor sie antraf, längst nicht in Lethargie versunken, wie er es der Öffentlichkeit weismachen wollte. Aber wir sahen die immer noch bestehenden Mängel unseres Schulsystems und all die Widerstände, die wir auch bei kleinsten Veränderungswünschen überwinden mussten oder sogar an ihnen scheiterten.
Die Gründung der pädagogischen Hochschulen
Bis dahin hatte jeder Lehrer im Grunde seine eigene Schule geführt. Diesem Einzelkämpfertum sagte Buschor den Kampf an, was durchaus in unserem Sinne war. In den teilautonomen Schulen sollten die Lehrer gemeinsam pädagogische Schwerpunkte setzen, Leitbilder und Jahresprogramme erarbeiten, und wenn sie Probleme mit ihren Klassen hatten, diese im Team besprechen. Buschor kritisierte das behördliche Weisungsgehabe und verlangte die Abtretung von möglichst viel Autonomie an die einzelnen Einheiten des Bildungswesens. Neben der Universitätsreform zählt die Einrichtung einer pädagogischen Hochschule zu Buschors grössten Leistungen. Die zuvor verstreuten Seminarien wurden an einem Ort zusammengefasst; die Straffung der Weiterbildungsangebote ermöglichte es den Lehrern, von einer Schulstufe auf eine andere zu wechseln. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Buschor die Aufwertung des Lehrerberufs anstrebte, was die Vertreter dieses Standes aber nicht wahrhaben wollten, wir hingegen als positiv erachteten. Ernst Buschor wollte das zürcherische Schulsystem vom hohen pädagogischen Ross herunterholen und zu einem Dienstleistungsunternehmen umformen.
Die Ideen für seine Reformen holte sich der anerkannte Verwaltungsspezialist öfters im Ausland. Nach einem kalifornischen Vorbild startete Buschor das Schulprojekt 21. Vorgesehen waren – notabene schon damals – der Einsatz von Computern im Unterricht, altersdurchmischte Lerngruppen sowie die sogenannte Immersion beim Fremdsprachenunterricht: Mathematik zum Beispiel wird auf Englisch unterrichtet. Zum Verhängnis wurde diesem Mann die fehlende Praxisnähe und das Tempo, mit dem er vieles auf einmal durchsetzen wollte. Langfristig jedoch hatten seine Ideen eine grosse Wirkung, vor allem – und das war uns nicht bewusst – weil vieles bereits im globalen Trend lag.
1996 wurden im Kanton Bern die geleiteten Schulen eingeführt. Die Schulkommissionen traten mit der Zeit einen grossen Teil ihrer Kompetenzen an die Schulleitung ab oder sie wurden sogar ganz abgeschafft und durch die örtliche Schuldirektion ersetzt. Wir empfanden dies als eine dringend notwendige Professionalisierung.
Die PISA-Tests sahen auch wir als einen Schritt in eine datenbasierte Forschung, welche gezielt die Schwächen und Stärken unseres Bildungssystems erkunden halfen.
Das Zusammenwirken linker Reformpolitik und liberaler Modernisierung hatte dazu geführt, dass unsere Schule vor der HarmoS-Debatte und der Einführung des Lehrplans 21 in einer recht guten Verfassung war, was sich z. B. auch in der Bewältigung der Migrationswelle der späten 90er-Jahre manifestierte. Niemand von uns wollte wieder zurück in die Schule der sechziger Jahre.
Die PISA-Tests sahen auch wir als einen Schritt in eine datenbasierte Forschung, welche gezielt die Schwächen und Stärken unseres Bildungssystems erkunden halfen. Und die Tatsache, dass das teuerste Schulsystem der Welt es fertigbringt, dass ein Fünftel der Schüler nicht einmal die tiefsten Standards beim Lesen erreicht, also praktisch als Illetristen aus der Schulpflicht entlassen wurden, konnte man ja nicht einfach wegdiskutieren. Es war uns – und wohl auch Buschor – nicht bewusst, welche schädlichen Auswirkungen diese Tests auf unsere Bildungkultur hatten.
Ich erinnere mich noch gut an ein Podium, auf welchem ich 2004 mit dem linken Gymnasiallehrer und (wie ich) Vorstandsmitglied der VPOD-Lehrergruppe, Guy Lévy, die Klingen kreuzte. Ich verteidigte damals einen Teil der «Buschor-Reformen» und plädierte für die geleiteten Schulen, für Feedbackkultur, für Standards und für die teilautonome Schule. Mein Gegenpart Lévy kritisierte meine Haltung als «Neoliberalismus» und mich als Steigbügelhalter einer ökonomistischen Bildungspolitik. Die Ironie der Geschichte: Heute wehre ich mich gegen die Auswüchse eines auf Output getrimmten ökonomistischen Bildungssystems, während mein damaliger Kontrahent Guy Lévy als Chefbeamter der bernischen Erziehungsdirektion sämtliche von ihm kritisierten Reformen umsetzte. Was ist also hier passiert?
Die Kritik vieler meiner Freunde, eine Art Steigbügelhalter einer ökonomistischen Bildung zu sein, muss ich heute teilweise akzeptieren. Die linken Lehrkräfte, welche ihren Beruf liebten und ihm treu blieben, hatten bei weitem nicht den wissenschaftlichen Background, über den die frühen Kritiker der nun einsetzenden Bildungsreformen verfügten. Wir wussten nichts von den Bildungsvorgaben der OECD, kannten die Agenda der PISA-Promotoren nicht. Wir waren ziemlich naiv. Vor allem aber waren wir intensiv mit unserem Unterricht beschäftigt und sahen die kommenden Signale des bevorstehenden Umbaus höchstens in Form der immer umfassender werdenden bürokratischen Bevormundung.
Ernst Buschor war ein Theoretiker, der damals die richtigen Fragen stellte, seine Antworten in der Wirtschaft fand und sie ohne Rücksicht auf die Praxis umsetzen wollte.
Es ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, dass Ernst Buschor für das, was nach seinem Abgang als Bildungsdirektor im Jahre 2003 folgte, eine Verantwortung trägt. Ihn aber für die monströse Bürokratisierung unseres Bildungssystems, für die übergriffige Change-Management-Ideologie, für den Kompetenz-Quark und die stupide Überfrachtung unserer Lehrpläne verantwortlich zu machen, ist falsch. Ernst Buschor war ein Theoretiker, der damals die richtigen Fragen stellte, seine Antworten in der Wirtschaft fand und sie ohne Rücksicht auf die Praxis umsetzen wollte.
Es gehört zu einer gewissen Tragik dieses Mannes, dass er – betrachtet man die heutige Wirklichkeit – genau das Gegenteil erreichte.
Er strebte eigentlich die Befreiung der Schulen von staatlicher «Kontrollitis» an, er wollte eine «Öffentlich Rechtliche Schule» und ganz sicher keine Staatsschule, in welcher die Schulleitungen als die kleinen Feldwebel der Bildungsbehörden wirkten. Er war am Output interessiert und beabsichtigte, die Schule wirtschaftsfreundlicher zu machen. Es gehört zu einer gewissen Tragik dieses Mannes, dass er – betrachtet man die heutige Wirklichkeit – genau das Gegenteil erreichte. Heute haben wir eine Allianz von Wissenschaft, Politik und Verwaltung, welche ihre Agenda “top-down” durchzusetzen versucht. Die schulischen Inhalte sind so wirtschaftsfeindlich wie nie zuvor und der schulische Output sinkt. Dennoch gilt es festzuhalten: Ernst Buschor war ein Gestalter und Visionär, intelligent, hochanständig und wirkungsmächtig. Der Tages-Anzeiger schreibt: “Peter Grünenfelder, der spätere Avenir-Suisse-Chef, ist quasi der Ziehsohn von Buschor. Er war damals dessen persönlicher Mitarbeiter und erinnert sich: “Wir mussten ihn jeweils daran erinnern, dass Wahlkampf ist. Buschor war ein Anti-Politiker, der sich nicht um seine Wiederwahl kümmerte, aber mit extremer Arbeits- und Lebenslust etwas bewegen wollte.” Wenn man sich die heutigen Bildungsdirektoren vergegenwärtigt, hat man unweigerlich das Gefühl, es mit blutleeren Vollstreckungsgehilfen einer ausser Rand und Band geratenen Bildungsverwaltung zu tun zu haben.
Ernst Buschor ist im Alter von 80 Jahren verstorben.
Die grosse Illusion
Schon zu Beginn der 60er Jahre haben die Amerikaner das Bildungssystem der Schweiz höher bewertet als die eigenen Institutionen. Es gehörte nicht viel Gehirnschmalz dazu, dies zu verstehen, aber gegen Ideologien ist eben kein Kraut gewachsen. Neben den Eltern, Politikern, Schülern und den Wirtschaftsvertretern haben sich in vorderster Front Lehrer und Lehramtsstudenten inbrünstig dem neuen Bildungsparadies verschrieben. Mir klingeln noch nach 40 Jahren die Ohren als die ganze Meute sich hirnlos auf den Holzweg machte. Der einzig wichtige Faktor bleibt die Kopfgrütze. Ein Intelligenzsozialismus ist nur eine weitere Totgeburt auf dem heiligen Weg zum Ende der Geschichte, der schnurstracks zum Ende des Westens führt. Der Aufstieg Chinas ist einzig und allein auf den Aufbau eines leistungsdifferenzierenden und disziplinierenden Bildungswesens zurückzuführen. Es ist nur zu billig, kleinlaut ideologische Verblendungen hinterher zuzugeben. Erfahrung ist nun einmal die bitterste Art der Erkenntnis. Nun hat sich erwiesen, dass das verbesserte Bildungswesen in China den Westen wirtschaftlich, politisch und militärisch massiv bedroht. Das ist die Suppe, die sich die Streiter für die Phantastereien eingebrockt haben und auslöffeln müssen. Meine Entscheidung, auf das Lehramt vor 40 Jahren zu verzichten, hat sich als richtig herausgestellt. Sich zum Pausenclown zu machen, habe ich den Ideologen überlassen.