18. November 2024
Verbotskultur an Schulen

Dürrenmatt reloaded 2023

Im bernischen Kantonsparlament wurde ein Vorstoss behandelt, der das Rauchen auf Spielplätzen verhindern sollte. Condorcet-Autor Alain Pichard (Grossrat der GLP) lehnte den Vorstoss ab und erntete viel Schelte. Die Debatte erinnerte ihn an eine Rede des verstorbenen Dichters Friedrich Dürrenmatt.

1990 hielt der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (er verstarb im selben Jahr) zu Ehren von Vaclav Havel eine viel beachtete und stark kritisierte Rede, in welcher er die Schweiz als ein Gefängnis bezeichnete (hier auch als Video). Ein Gefängnis, in dem eigentlich nicht klar sei, wer die Gefangenen und wer die Wärter seien. Im damaligen historischen Kontext wurde die Rede als antibürgerliche Kritik an den starren politischen Verhältnissen der Schweiz interpretiert, was vornehmlich die politische Linke diebisch freute. Allerdings ließ sich der streitbare Literat nie in ein politisches Schema drängen, und so erreicht seine Rede noch dreissig Jahre später eine vielleicht noch aktuellere und treffendere Bedeutung als damals. Zumindest der Vorstoss, der ein Rauchverbot auf öffentlichen Spielplätzen forderte, weckte beim Autor dieser Zeilen bekannte und auch resignative Reminiszenzen.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission: Die Linke hat einen Röhrenblick.

So hatte er während der letzten 20 Jahre immer wieder mit Geboten, Eingriffen, Regulierungen zu kämpfen, die allesamt dem Schutz eines ominösen und wandelbaren Kollektivs dienen sollten, aber unmerklich auch einen kulturellen Rückschritt einleiteten.

Die traditionelle Weihnachtsfeier unserer Schule sollte in der alten ehrwürdigen Aula stattfinden. Schließlich traf die Nachricht ein, dass wegen Brandschutzbestimmungen die Aula nicht von mehr als 50 Personen betreten werden dürfe. Folge: Die Weihnachtsfeier durfte nicht in der Aula ausgerichtet werden.

Unser Schulhaus erhielt einen Erweiterungsbau. Alle freuten sich: hellere Räume, breitere Gänge, eine hervorragende, nach neuesten Energiestandards erstellte Isolation mit einem raffinierten Heizungssystem, ein Meisterwerk des schweizerischen Ingenieurswesens. Die Bilder in den Gängen, die Tische und Stühle, die wir für Einzelarbeiten installiert hatten, die Pflanzen, die ein gewisses Cachet vermittelten, müssten aber, so der Brandschutzexperte, entfernt werden.

Zweiseitiger Bestimmmungskatalog für das Skifahren

Wenn heute ein Lehrer mit seiner Klasse nach einer dreistündigen Wanderung an einen Bergsee gelangt, müsste er eigentlich, wenn er über kein Lebensretterdiplom verfügt (was alle 5 Jahre erneuert werden muss), die nach Abkühlung lechzende Klasse stoppen. Und wenn er selbst im Besitz eines solchen Zertifikats ist, dann darf er nicht mehr als 10 SchülerInnen in seiner Gruppe das Baden erlauben, weil es sonst nämlich noch eine zweite ausgebildete Fachperson braucht.

 

In immer dichtere Gefilde

Wenn ich heute mit meiner Klasse eine Badeanstalt besuche, wird mir als verantwortlichem Klassenlehrer immer öfter eine Art Vertrag vorgelegt (Rekord: 2 komplette Seiten in der Badi Zurzach), welche sämtliche Eventualitäten regeln soll. Ohne Unterschrift keinen Eintritt. In meinem Fach lag ein zweiseitiger Katalog von Sicherheitsbestimmungen, der das Skifahren im Skilager gefahrenfrei machen soll.

Dem langjährigen Bäcker, der an unserer Schule Gipfeli, Sandwichs und auch Schokodrinks verkauft hatte, wurde der Auftrag entzogen. Grund: Die Ernährungsvorschriften der Stadt lassen so etwas nicht mehr zu. Gewünscht sind Vollkornbrötchen, Äpfel, Gemüseschnitten und Darwida. Folge: Unsere Schüler decken sich in der nahegelegenen Migros mit Süßigkeiten ein.

Ernährungsvorschriften lassen dies nicht mehr zu.

Mein Großkind durfte in Zürich an seiner Schule zu seinem Geburtstag nicht mehr einen zu Hause gebackenen Schokoladenkuchen für seine Klasse mitbringen. Auch hier liessen es die Ernährungsvorschriften nicht mehr zu. Am traditionellen „Sächselüte“-Umzug in Zürich durfte ein 6-jähriger als Cowboy verkleideter Knirps nicht mit seinem „Käpseliplastikgewehr“ am Umzug teilnehmen. Seine Kindergärtnerin hatte es ihm untersagt. Ich erhielt von der Lehrerin meines Sohnes einen mahnenden Brief, das Pausen-Sandwich nicht mehr in Alufolie einzupacken (was mir zu meiner Schande wirklich passiert ist, weil mir die Plastikfolie ausgegangen war). Immer mehr Schulen diskutieren Kleidervorschriften, verbieten Trainerhosen und bauchfreie Kleidung. Für Velotouren werden an den Schulen neuerdings «Outdoorkonzepte» eingefordert. Unseres verschlang mehrere Sitzungen und umfasste schliesslich sieben Seiten.

Cowboy mit Käpseligewehr? Verboten

„Reformieren“, „Reglementieren“, „Strukturieren“

In einem weiteren Sinn macht diese Regulierungswut auch nicht vor unserem Unterricht halt. Es gibt kaum eine Behörde, Fachstelle oder Beratungsinstitution, die nicht ständig am „Reformieren“, „Reglementieren“, „Strukturieren“ und „Konzeptionieren“ ist.

Wenn unsere Biologie- und Chemiestudenten ihren Abschluss in der Tasche haben, dürfen sie die auf staatlichen Rat und staatliches Geheiß erworbenen Kenntnisse gar nicht anwenden. Bei der Gentechnik sind uns so schon einige tausend Arbeitsplätze verloren gegangen, bei der Nanotechnologie droht dasselbe.

Diese Reglementierungswut stößt in immer neue Gefilde vor, welche die individuellen Lebensweisen des Einzelnen betreffen und dies in aller Freiheit.

Wenn eine Großmutter oder Tante regelmäßig Kinder hütet, hätte sie nach Ansicht unserer Regierung eine Ausbildung absolvieren müssen (dieser Vorschlag unserer Landesregierung wurde allerdings schubladisert). Als Fan eines Fußballclubs steht eine zwangweise Fankarte zur Debatte, als Velopendler droht mir ein Helm-Obligatorium.

In Basel können Eltern gebüßt werden, wenn sie ihre Kinder nicht vor 22.00 Uhr ins Bett schicken oder selber einen Elternabend „schwänzen“. In den Städten will man die Pausenplätze, beliebte Aufenthaltsplätze für Jugendliche, an Sommerabenden außerhalb der Schulzeiten für die Öffentlichkeit schließen.

Schulfest: kein Alkoholausschank

Nur noch Süßmost, Mineralwasser und Tee

Das alljährliche Schulhausfest, ein beliebter Anlass, der meistens bis spät nach Mitternacht ein gemütliches Zusammensein von Lehrkräften, Eltern, Behördenmitgliedern und Ex-Schülerinnen zulässt, soll künftig ohne Alkoholausschank auch für die Erwachsenen stattfinden. In unserer Nachbargemeinde, wo diese Regelung umgesetzt wurde, werden nur noch Süßmost, Mineralwasser und Tee in Plastikbechern ausgeschenkt. Coca-Cola scheitert an den Zuckerbestimmungen. Die Folge: Nach der Theatervorführung verziehen sich die Eltern in die Restaurants oder nach Hause, der Pausenplatz darf nach 20.00 Uhr bereits aufgeräumt werden.

An unserem Schülerband-Festival im Freien kamen kürzlich zwei Spezialisten des Bundesamtes für Gesundheit und maßen die Dezibel. Aufatmen: Wir erfüllten die Auflagen, wenn auch knapp.

 

„Wo alle verantwortlich sind, ist niemand verantwortlich“ (Dürrenmatt)

 

Sinnvolle Regelungen gegen das Rauchen z.B. in Restaurants werden zu Kreuzzügen.

Die Linke hat einen Röhrenblick

Im Kantonsparlament reichte die Linke wieder einmal einen Verbotsvorstoss ein. Das Rauchen auf Spielplätzen sollte verboten werden. Ich konterte mit einer persönlichen Schilderung: «Wenn ich am späten Abend vom Bieler Bahnhof auf dem Velo nach Hause fahre, nehme ich die Route über den Strandboden. Ich fahre an einem grossen Spielplatz vorbei, der zu dieser Zeit natürlich kinder- aber nicht menschenleer ist. Rund um diesen Spielplatz sammeln sich Jugendliche, viele mit Migrationshintergrund und – zurzeit – recht viele Eritreer. Die Restaurants sind für sie zu teuer, von den öffentlichen Plätzen im Stadtzentrum werden sie wegen Lärm oft weggewiesen und so ziehen sie sich an diesen scheinbar anonymen Ort zurück. Sie trinken, hören aus Boxen laut Musik, kiffen und ja, sie rauchen auch, und einige tun dies sogar ab zu auf einem der Spielgeräte. Und ja, da kann es vorkommen, dass der eine oder andre Zigarettenstummel im Sand liegen bleibt. Ich frage Sie nun, sollen wir hier uniformierte Polizisten hinsenden und diese Kids wegjagen, verzeigen oder sogar büssen?»

Dieses Votum brachte die Linke in Rage. «Unverantwortlich», «schrecklich», «wie kann man nur?», hallte es aus den ratsinternen Lautsprechern. Es wurden minutiös die Gefahren von Nikotin aufgezählt, an die Gefahren von unachtsam hingeworfenen Zigarettenstummeln für die Kinder erinnert, den «Schwächsten unserer Gesellschaft», die es zu schützen gelte.

Kurzum, es wurde die Moralkeule ausgepackt. Wenn aber moralisches Handeln die Debatte bestimmt, dann verwandeln sich sinnvolle Verbote, wie gegen das Rauchen in Restaurants, unvermittelt zu regelrechten Kreuzzügen. Die Verbotsanhänger haben einen Röhrenblick und verschliessen sich einem Gesamtbild. Sie stellen sich keine Fragen über Wirkung und Folgen. Sie spüren nicht, dass sie dabei sind, unsere Schulen, unsere Gesellschaft in eine Richtung zu entwickeln, die uns in den prüden, spiessigen und repressiven 60er-Jahre-Modus zurückentwickelt oder – was natürlich alle ablehnen – uns in eine Art «Swiss-Singapur» transformiert. Vor allem aber verfehlt die Verbotstendenz ihre Wirkung.

„Die Gefängnisverwaltung, die alles gesetzlich zu regeln versucht, behauptet, das Gefängnis befinde sich in keiner Krise, die Gefangenen seien frei, insofern sie echte gefängnisverwaltungstreue Gefangene seien, während viele Gefangene der Meinung sind, das Gefängnis befinde sich in einer Krise, weil die Gefangenen nicht frei seien, sondern Gefangene.“ (Dürrenmatt)

Das Muster dabei ist immer dasselbe: Eine Minderheit von Personen hat ein Problem oder macht Probleme (Raser, Hooligans, Alkoholsüchtige, Übergewichtige, Raucher, Nichtschwimmer, Nichthelmträger). Daraufhin werden Regelungen, Verbote und Gesetze erlassen, welche die große Mehrheit der Bevölkerung einschränkt, zum Verdruss der Regulatoren aber die Zielgruppe oft gar nicht trifft, weil diese sich eh nicht an Regeln halten.

Gefangene tragen keine Verantwortung. Wenn immer mehr Aufgaben und Pflichten an den Staat delegiert werden, wenn immer mehr Regeln den gesunden Menschverstand ersetzen, der bei einem überwiegenden Teil der Bevölkerung vorhanden ist, dann interessieren uns diese Aufgaben und Pflichten gar nicht mehr.

Eigentlich sind Gefängnisse für Gesetzesübertreter da. Aber wenn ein Staat, der seine Kernaufgaben im Wesentlichen gelöst hat, auf der Suche nach neuen Betätigungsfeldern um die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes ein immer dichteres Netz von Gesetzen, Regelungen, Vorschriften und Verboten zieht, dann droht eine potenzielle Kriminalisierung.

Die Folgen sind Einschränkung der persönlichen Freiheit, geistige Stagnation, praxisferne Öde und eine Lähmung des gesellschaftlichen Austausches.

“Jeder Gefangene beweist, indem er sein eigener Wärter ist, seine Freiheit”. (Dürrenmatt, „Die Schweiz ist ein Gefängnis“, 1990)

Gefangene tragen keine Verantwortung. Wenn immer mehr Aufgaben und Pflichten an den Staat delegiert werden, wenn immer mehr Regeln den gesunden Menschverstand ersetzen, der bei einem überwiegenden Teil der Bevölkerung vorhanden ist, dann interessieren uns diese Aufgaben und Pflichten gar nicht mehr.

Wir verbannen Eigenverantwortung, Reflexion und Diskurs

Es wäre ja unsere Aufgabe, unseren Schüler zu lehren, mit dem Überangebot an Esswaren umgehen zu können, mit dem sie außerhalb der Klassenzimmer konfrontiert sind. Mit einer Verbannung setzen wir ironischerweise nicht nur die im Lehrplan «gepredigten» Kompetenzen «wie kritisches Denken» oder «Mündigkeit» aufs Spiel, sondern auch die Eigenverantwortung, die dynamische Selbstbestimmung, den Diskurs und den freien Geist. Leben ist auch Wagnis, Erfolg beruht auf Scheitern, Entwicklung auf Wettbewerb.

Gesetze sollten nicht eine ideale Welt mit idealen Menschen zum Ziel haben, sondern sich an der Wirklichkeit abarbeiten. Die Wirklichkeit kann am Ende sehr eigensinnig sein, aber gerade das macht ihren Reichtum und Reiz aus. Oder mit den Worten von Friedrich Dürrenmatt: „Die Welt ist eine Pulverfabrik, in der das Rauchen nicht verboten ist.“

Wann werden die Gefangenen revoltieren?

Einen Anfang machte ein Schüler von mir. Dimitri hieß er und er schrieb in unserer Schulhauszeitung: „Ich bin schlank, habe keine Probleme mit dem Gewicht, verhalte mich anständig und möchte mir ab und zu in der Pause ein Gipfeli leisten. Jetzt befiehlt man mir, die Mütze auszuziehen und Darwidaguetzli zu essen. Ich glaube, ich ersticke hier langsam.“

Der Junge war damals 15 Jahre alt und hatte schon viel begriffen.

Nachtrag: Der Vorstoss wurde klar abgelehnt. Durch den Rat ging ein Graben. Die SP, eine Mehrheit der Grünen, die EDU und die EVP unterstützten das Verbot, Die SVP, die Mitte, die FDP und die GLP sprachen sich geschlossen dagegen aus.

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Hans-Jürgen Bandelt, Mitglied der Gesellschaft für Bildung und Wissen, hat sich in den letzten Jahren mit den Wirkungen der Kompetenzorientierung auf den schulischen Unterricht in Mathematik auseinandergesetzt. In seinem Beitrag für den Condorcet-Blog stellt er die Transformation des Bildungssystems in einen größeren Rahmen.

6 Kommentare

  1. Der 15-jährige Dimitri gefällt mir, er hat Mut und Verstand gezeigt. Danke für den Artikel. Habe alles Geschilderte genau so erlebt. Als ich Lehrerin war, habe ich meist geschwiegen, weil die Stimmung im Team zu agressiv war, wenn es darum ging, nocheinmal neue Regeln einzuführen.

  2. Wie treffend! Als ich zu lasen begann, fand ich, ein Rauchverbot sei doch OK. Beim Weiterlesen wurde mir eindrücklich bewusst, dass wir es tatsächlich langsam (schnell?) aber sicher übertreiben.
    Guter Artikel, vielen Dank!

  3. Aus den schulrelevanten Beispielen von Regelungen lässt sich erschliessen, wohin das Geld, das in den letzten 20 Jahren mit ständig steigenden Summen in die Bildung investiert wurde, eigentlich fliesst: Nicht zur Schule, sondern zum Behördenapparat, der um ein Vielfaches aufgestockt wurde, um die Lehrerschaft mit Vorschriftserlassen zu fluten.

  4. Lieber Herr Pichard
    Vielen Dank für Ihren vortrefflichen Artikel. Sie sprechen mir aus der Seele. Ich glaube, wir sollten als Wärter rebellieren. Das ist für die Verbotsfanatiker irritierender als wenn wir es als Gefangene tun.

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