Bildungsbericht der Schweiz

Mein Gott, Wolter!

Roger von Wartburg, ehemaliger Präsident des lvb, konfrontiert die Aussagen im Bildungsbericht von Professor Wolter mit den Reaktionen von der Basis.

Die 1974 gegründete Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) ist eine gemeinsame Institution der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK). Langjähriger Direktor der SKBF ist Prof. Dr. Stefan C. Wolter, Titularprofessor für Bildungsökonomie an der Universität Bern.

Herr Wolter hat es in den letzten Jahren geschafft, eine medial gefragte Ansprechperson für allerlei Bildungsthemen zu werden. Durchaus selbstbewusst gibt er jeweils Auskunft. Zu Höchstform läuft er auf, wenn er einen neuen Bildungsbericht der SKBF vorstellen kann, zuletzt geschehen im März 2023. Der Bildungsbericht Schweiz vermittelt Daten und Informationen aus Statistik, Forschung und Verwaltung zum gesamten schweizerischen Bildungswesen und soll als Grundlage für die Formulierung gemeinsamer Bildungsziele von Bund und Kantonen dienen.

Da die integrative Schule aktuell in mehreren Kantonen kontrovers diskutiert und Anlass respektive Ziel verschiedener politischer Vorstösse ist, erstaunt nicht, dass Wolter im Kontext der Publikation des Bildungsberichts 2023 dazu Stellung und klare Positionen bezog: Der verbreiteten Klage integrativ überlasteter Lehrkräfte hielt Wolter entgegen, statistisch würden lediglich drei Prozent der Kinder, die eine Regelschule besuchen, besondere Lehrpläne oder verstärkte Massnahmen benötigen. Anstelle «kolportierter Geschichten» würden «die harten Fakten eine andere Sprache» sprechen.

Generell betont der Bildungsbericht die Vorteile der integrativen Schulung für Kinder mit besonderem Bildungsbedarf. Eine – schweizweit einzige – Langzeitstudie aus dem Kanton St. Gallen zeige, dass die schulische Integration empirisch fast durchwegs positiv bewertet werden könne. Kurzum: Die Beschwerden des unterrichtenden Personals gleichen Phantomschmerzen, das Ganze ist in Wahrheit eine grosse Erfolgsgeschichte.

Aufschlussreich war, was passierte, als Wolters Aussagen am 10. März 2023 in einem Artikel Alessandra Paones in der «Basler Zeitung» publiziert wurden. Innert kürzester Zeit hinterliessen fast 100 Leserinnen und Leser, darunter augenscheinlich viele Lehrpersonen, Online-Kommentare mit entgegengesetzter Stossrichtung. Hiervon eine Auswahl:

«Meines Wissens war es das erklärte Ziel im Kanton Zürich, die Quote der Sonderschulungen nach unten zu bringen (aus Kostengründen). In unserer Schulgemeinde wurde dies von der Schulpflege offen kommuniziert. Es wurde auch eine «Fachstelle Sonderpädagogik» geschaffen, die darüber entscheidet, welche Schülerinnen und Schüler den «Status IRS» (integrierte Sonderschulung in der Regelklasse) erhalten. Nach meinen Erfahrungen (auch) mit dem Ziel, die Vorgabe der Quotensenkung umzusetzen. Aus diesem Grund scheint mir diese Studie fragwürdig zu sein, das Resultat eigentlich erwartbar und von den politischen Entscheidungsträgern so gewollt.»

«Wieder einmal eine Studie aus dem Elfenbeinturm, die genau an der Realität im Schulzimmer vorbeigeht. Es mag ja sein, dass der Förderbedarf, wie er offiziell berechnet wird, korrekt bezeichnet ist in der Studie, die so zu sehr geringen Zahlen gelangt. Nur: In der Realität hat es eben nicht nur «offizielle» Kinder mit Förderbedarf, nein, es hat eben zunehmend auch solche, die z.B. wenig bis keine Erziehung erhalten, was dann durch die Lehrpersonen aufgefangen werden muss, aber leider in keiner Statistik erscheinen. Aus der Studie scheint sich nun klar zu zeigen: Kein Problem! Und genau das ist falsch, wie sich zeigt, wenn man sich im Bildungswesen an der Front bewegt, im Gespräch ist mit all jenen, die täglich in der Schulstube stehen. Vielleicht einen Monat unterrichten an der Volksschule, um seine Sichtweise etwas anzupassen, wäre doch mal ein Ansatz?»

«In meiner Klasse sind 21 Kinder, die theoretisch betrachtet alle das Anrecht auf ein Einundzwanzigstel meiner Aufmerksamkeit hätten. In der Praxis funktioniert der Unterricht aber nur, weil regelmässig zwei Drittel meiner Kinder auf ihr Einundzwanzigstel verzichten, damit ich dem Drittel der Klasse, dem tagtäglich sein Einundzwanzigstel nicht reicht, irgendwie gerecht werden kann. Das ist nicht korrekt, und es wird immer augenfälliger.»

«Die integrative Förderung ist doch nichts als eine Sparübung, bei der die Gratismehrarbeit der Lehrpersonen einkalkuliert wurde.»

«Jeder, der Sozialwissenschaften an der Universität studiert (hat), weiss, dass 90% der Studien in Sozialwissenschaften falsch sind, weil nicht sämtliche Alternativhypothesen berücksichtigt werden. Klar finden dann viele Studien gerade eben das heraus, was gesellschaftspolitisch opportun ist. Wäre es nicht an einer Tageszeitung, die sich als «kritisch» verkauft, die Stimmen der Praktiker/-innen zu Wort kommen zu lassen?»

«Aufgrund solcher Berichte bin ich zur Überzeugung gelangt, dass jeder Bildungspolitiker spätestens nach drei Jahren Forschung o.ä. verpfl chtet sein sollte, mindestens ein Jahr eine Klasse zu 100% zu unterrichten. So kämen diese Politiker auch in den Genuss der Früchte ihrer Arbeit – und ich bin absolut überzeugt, wir hätten plötzlich nicht nur eine ganz andere Sorte Bildungspolitiker, sondern auch ganz andere Forschungsergebnisse.»

«Stefan C. Wolter hat Nationalökonomie und Psychologie an der Universität Bern studiert – im Klartext: Er besitzt keine einzige Ausbildung im Zusammenhang mit dem Bildungswesen, geschweige denn konkreter Unterrichtspraxis. Erstaunt es da tatsächlich jemanden, dass Herrn Wolters Forschungsergebnisse in der Regel das belegen, was die Politik will?»

«Wer den Bericht genau liest, merkt ziemlich schnell, dass dieser sich an der Oberfläche von verfügbaren Zahlen bewegt, welche einer vertieften praxisnahen Überprüfung nicht standhalten. Wie man hier von «harten Fakten» schreiben kann, ist mir völlig schleierhaft.»

«Also stimmen gemäss Tages-Anzeiger die Studien eines Professors, der noch nie ein Klassenzimmer von innen gesehen hat, aber die Rückmeldungen von zig Lehrpersonen, die Tag für Tag mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, nicht. Mit diesen Studien, die einfach der Politik des Sparens nachrennen, statt die Probleme der Schule im Klassenzimmer aufzugreifen, kommt man nicht weit.»

Man kann diesen – und vielen weiteren – Kommentarschreibenden nun natürlich samt und sonders «Wissenschaftsfeindlichkeit» vorwerfen und sie dergestalt diskreditieren. Nun bin allerdings auch ich in den letzten 20 Jahren mehrfach über «wissenschaftliche Gutachten der öffentlichen Hand für die öffentliche Hand» (respektive deren tatsächliche Aussagekraft) gestolpert, nicht zuletzt hinsichtlich der Legitimation des Frühfremdsprachenkonzepts (zufälligerweise gemäss EDK-Strategie). Die harten Fakten, ohne jede Kolportage, besagen, dass die EDK den Vollzug des Sonderpädagogik-Konkordats sicherstellt. Und den Bildungsbericht Schweiz in Auftrag gibt.

Frei nach Mike Krügers Klamauk- Song «Mein Gott, Walter» aus dem Jahr 1975 – also nur ein Jahr nach der Gründung der SKBF veröffentlicht – die folgende Strophe:

Wolter lebt sein Leben,
Ist recht unbeschwert,
Und was andere sagen,
Scheint ihm meist verkehrt.
Die Klagen der Lehrpersonen
Sind für Wolter Gepolter,
Darum schreiben sie in Kommentaren: Mein Gott, Wolter!

 

Dieser Artikel ist zuerst in der Verbandszeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland LVB erschienen.

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2 Kommentare

  1. Die selbstverliebten Theoretiker werden immer den realistischen Praktikern unterliegen, weil die Theorien Abstraktion der Wirklichkeit sind und in jeder Dimension sich verbiegen lassen. Je stärker die Streuung um die Realtitätswerte, desto weltfremder die Theorien. Je mehr Uni-Theoretiker, desto mehr Streuung um die Realität.

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