29. April 2024
Geschichtsunterricht

Die Erfolgsstory der Schweiz gehört in den Geschichtsunterricht

Hanspeter Amstutz, ehem. Kantonsrat der EVP in Zürich und heutiger Condorcet-Autor setzt sich seit Jahren gegen den Abbau des Geschichtsunterrichts an unseren Schulen ein. Auch bemängelt er ein überzeugendes Konzept mit einem verbindlichen Aufbau des historischen Grundwissens über die neuere schweizerische und die europäische Geschichte.

Bei der Frage, was ihnen die Jahreszahl 1848 bedeute, dürften die meisten heutigen Schulabgänger wohl mit den Schultern zucken. Dabei gehört das Revolutionsjahr 1848 zu den markanten Meilensteinen der neueren Schweizer Geschichte. Während in unseren Nachbarländern die Erhebungen fortschrittlicher Bürger und aktiver Studenten gegen die verkrusteten Monarchien blutig niedergeschlagen wurden, gelang in unserem Land ein durchschlagender Erfolg einer freiheitlich denkenden jungen Generation. Es waren wirtschaftlich führende Kreise und liberale Politiker, welche eine moderne Schweiz ohne hemmende Binnenzölle und weitgehende Freiheitsrechte schaffen wollten. Über das gelungene Kompromisswerk zwischen zentralistischen Vorstellungen und wichtigen föderalistischen Anliegen der Kantone ist in diesen Tagen bereits viel geschrieben worden. Unzweifelhaft bildete die damalige Verfassung die rechtliche Grundlage für eine kontinuierliche Weiterentwicklung unseres Landes hin zu einer direkten Demokratie. Eigentlich wäre dies ein Grund, wirklich zu feiern.

Gastautor Hanspeter Amstutz

Umso betrüblicher ist die Tatsache, dass die Schweizer Erfolgsgeschichte seit 1848 in der Volksschule kaum gewürdigt wird. Man ist zwar patriotisch gestimmt beim Anhören unserer Nationalhymne an Olympischen Spielen, aber von einem verhaltenen Stolz über ein Land mit aussergewöhnlichen politischen Mitspracherechten ist in den Geschichtsstunden kaum etwas zu spüren.

Mit einer Chronik des politischen Versagens begeistert man Teenager nicht

Frankreich ist stolz auf seine kulturelle Bedeutung und zelebriert die alte politische Grösse seiner Nation jeweils am 14 Juillet mit viel Begeisterung. Patriotische Gefühle bei US-Amerikanern und Briten werden bei offiziellen Anlässen offen gezeigt. Doch wir Schweizerinnen und Schweizer bleiben nüchtern. Wir sind uns bewusst, dass unsere Politik weit weg ist von Vollkommenheit und die Mühlen unserer Demokratie oft allzu langsam mahlen. So gilt die jahrzehntelange Verweigerung der politischen Mitsprache der Frauen zu Recht als grösstes Trauerspiel unserer neueren Geschichte.

Eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist grundsätzlich ein Ansporn für die Weiterentwicklung einer Demokratie. Aber eine einseitig auf Defizite ausgerichtete Einstellung ist kein empfehlenswertes Rezept für einen attraktiven Geschichtsunterricht. Verunsichert durch akademisch-kritische Fragestellungen, sind die meisten Lehrpersonen völlig irritiert über die Vorstellung, man könnte den Weg der modernen Schweiz als Erfolgsgeschichte darstellen. So denken beim umstrittenen Eisenbahnpionier Alfred Escher viele eher an die Verstrickungen seines Onkels in den Sklavenhandel als an die grossartigen Leistungen Eschers beim Bau der Gotthardbahn. Wer den dunklen Hinterhof der Schweiz ausleuchtet, wird rasch fündig. Doch eine Chronik des politischen Versagens kann nicht der Königsweg zu einem stärkeren staatskundlichen Interesse unserer Jugend sein.

Verunsicherte Lehrkräfte verzichten auf Erzählungen und weichen auf Quellentexte aus

Im neuen Lehrplan der Volksschule wird ausdrücklich festgehalten, dass ein lebendiger Geschichtsunterricht in erster Linie auf faktenorientierten Erzählungen und einer spannenden Aufarbeitung historischer Ereignisse durch gut ausgebildete Lehrpersonen beruht. Was jedoch fehlt, ist ein überzeugendes Konzept mit einem verbindlichen Aufbau des historischen Grundwissens über die neuere schweizerische und die europäische Geschichte. Es überrascht deshalb nicht, dass in manchen Klassen der Geschichtsunterricht aus einem bunten Flickwerk wenig zusammenhängender Themen besteht und ein ziemlich tristes Bild bietet. In der auf anderthalb Wochenlektionen gekürzten Unterrichtszeit wagen es politisch verunsicherte oder durch ein neues Rollenverständnis eingeengte Lehrpersonen kaum noch, geschichtlichen Stoff direkt zu vermitteln. Lieber beschäftigt man die Schüler mit anspruchsvollen Quellentexten und lässt unzählige Fragen auf Arbeitsblättern beantworten. Doch damit erreicht man höchstens die geschichtlich ohnehin Interessierten.

In der auf anderthalb Wochenlektionen gekürzten Unterrichtszeit wagen es politisch verunsicherte oder durch ein neues Rollenverständnis eingeengte Lehrpersonen kaum noch, geschichtlichen Stoff direkt zu vermitteln.

Eine extrem spannende Geschichte: die Entstehung des Bundesstaats

Geschichte in der Volksschule braucht ein neues dynamisches Unterrichtskonzept. Gefragt sind Lehrerinnen und Lehrer, die in der Erzählkunst gut ausgebildet sind und Freude haben, den Jugendlichen ein Stück Welt anschaulich zu erklären. Geschichte kann unerhört spannend sein, wenn Jugendliche in bildunterstützten Schilderungen erleben, wie völlig anders frühere Generationen lebten und mit grossem Einsatz für die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen kämpften. Dabei ist ein chronologischer Aufbau mit relevanten Themen hilfreich, damit die Schüler Entwicklungslinien erkennen können.

 

Ein Beispiel dafür ist der wirtschaftliche Aufstieg unseres Landes von den ersten mechanischen Spinnereien bis zur grossen Zeit der Maschinenindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Schüler erfahren, dass dieser Aufstieg von Pionierleistungen verantwortungsbewusster Unternehmer, aber auch von harten Arbeitskämpfen um mehr Lohn und bessere politische Mitspracherechte geprägt war. Stationen auf diesem Weg sind beispielsweise das Verbot der Kinderarbeit, der Generalstreik von 1918 oder das Wirtschaftswunder der Fünfzigerjahre. 

Dramatische Momente finden sich auch in der Schweizer Geschichte

Jugendliche erleben Momente des tieferen Verstehens, wenn sie merken, dass unsere Freiheitsrechte und unser Wohlstand alles andere als selbstverständlich sind. Sie entdecken, dass auch die Menschen früherer Epochen grosse Hoffnungen in ihre nahe Zukunft setzten und bereit waren, dafür einiges zu wagen. Ein staatspolitisch überzeugender Geschichtsunterricht hat den Auftrag, die hart erkämpften politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften unseres Kleinstaates ins richtige Licht zu rücken.

Das enorm sprach- und kulturfördernde Fach Geschichte verdient es, aus seinem Halbschatten herausgeholt zu werden.

Zu einem attraktiven Geschichtsunterricht gehören selbstverständlich auch die dramatischen Momente unserer Landesgeschichte. Die Zeit der späten Dreissigerjahre mit den Drohungen aus Nazi-Deutschland oder die Einkreisung unseres Landes im Jahr 1940 durch die Achsenmächte sind Themen, welche fast alle Jugendlichen fesseln. Hier geht es darum zu zeigen, wie schwierig eine geradlinige Politik sein kann, wenn die Existenz eines Staates auf dem Spiel steht. Es ist oft erstaunlich, wie differenziert Jugendliche solche Situationen in offenen Klassengesprächen beurteilen können, wenn die historischen Fakten sorgfältig vermittelt wurden.

Das enorm sprach- und kulturfördernde Fach Geschichte verdient es, aus seinem Halbschatten herausgeholt zu werden. Erfolgversprechende Ansätze an einigen Pädagogischen Hochschulen zeigen, dass man bereit ist, die Geschichtsdidaktik besser auf die Interessenlagen der Jugendlichen auszurichten und den narrativen Unterricht zu fördern. Es braucht aber auch ein Umdenken auf politischer Seite, indem Geschichte wieder zu einem eigenständigen Fach aufgewertet und die Lektionenzahl erhöht wird.

 

Hanspeter Amstutz, Fehraltorf

Verwandte Artikel

Enorme Heterogenität an der Heilpädagogischen Sonderschule

Condorct-Autor Riccardo Bonfranchi erklärt, warum in Heilpädagogischen Sonderschulen immer mehr Schwerbehinderte, aber weniger Kinder mit Down-Syndrom betreut werden. Bauchschmerzen bereitet ihm insbesondere die zunehmende Durchmischung der Klassen mit schwer Geistig- und Mehrfachbehinderten, Lernbehinderten und Verhaltensauffälligen, in einer Bandbreite, der niemand gerecht werden kann.

Es gibt immer noch zu viele Tabus in der Bildungsdebatte

Der Journalist Daniel Wahl hat sich auf Bildungsthemen spezialisiert und hat schon deshalb ein Alleinstellungsmerkmal, weil er die gängigen Bildungsnarrative der Bildungsnomenklatura hartnäckig hinterfragt. Der 54-jährige Vater von vier erwachsenen Kindern lebt im Kanton Baselland und arbeitet beim Nebelspalter. Er war selber einmal Primarlehrer in Seltisberg (BL) und kennt deshalb die Schule als Praktiker, von der Elternseite sowie als politischer Berichterstatter. Seine ersten Schritte in den Journalismus wagte er beim Gratisanzeiger Baselstab. Es folgten die Stationen Telebasel und Baz, bevor er zu seinem aktuellen Tätigkeitsfeld wechselte, dem Nebelspalter. Der Condorcet-Blog veröffentlichte schon viele seiner Berichte. Ein Grund, sich einmal mit diesem Journalisten zu unterhalten. Alain Pichard traf ihn in Basel.

3 Kommentare

  1. “…die jahrzehntelange Verweigerung der politischen Mitsprache der Frauen…” haben wir den direkten Volksrechten zu “verdanken”, so wie sie halt damals ausgestaltet waren.

  2. Kürzlich verglich ich gegenüber einem gut Dreissigjährigen die beiden ehemaligen Bundesräte Adolf Ogi und Willi Ritschard und erklärte, woher der Ausruf “Freude herrscht” herkommt. Damit miterwähnt wurde der erste Schweizer Astronaut Claude Nicollier. Beim Gegenüber: Lediglich unwissendes Staunen…

  3. Lieber Hanspeter
    Danke für deinen unermüdlichen Einsatz für das Fach Geschichte!
    Die Chancen, welche dieses Fach bietet, sind einmalig: Relevante Fragestellungen bezüglich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Als Lehrkraft geht’s eigentlich nicht ums Einführen, Anwenden, Korrigieren, Transferieren, … sondern um eine gleichberechtigte Teilhabe. Klar schadet es (überhaupt) nicht, wenn man selbst fasziniert ist und à jour bleibt; aber das geschichtliche Verständnis wächst für mich auch mit der Auseinandersetzung mit der Klasse.
    Der “Mut zur Lücke” zeugt von Zwang, Resignation und Unverständnis. Meist tüpft es die wehrlosen Themen Kirchenspaltung, die Industrialisierung und die neueste Zeit. Mut zur Lücke, analog angewendet, hiesse: eine Speisekarte ohne Gemüse, eine Parteienlandschaft ohne Mitteparteien, ein Fussballspiel ohne Aufwärmen.
    Ich denke, wir müssen mehr Geschichtslektionen fordern, um noch nicht noch mehr zu verlieren. Und wir müssen den Geschichtslehrkräften mehr Musse geben, so dass sich (vom Lehrmittel unabhängiges) Interesse und Begeisterung wachsen können.
    Lieber Gruss
    Beni

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert