25. April 2024

Geschichte kann man nicht einfach entsorgen

Der Black-Lives-Matter-Debatte fallen Statuen, Filme und auch Süssigkeiten zum Opfer. Sollte stattdessen nicht lieber das historische Wissen gefördert werden? Das fragt sich Condorcet-Autor Roland Stark (SP), ehemaliger Grossratspräsident.

Roland Stark, ehem. SP-Parteipräsident der Sektion Basel-Stadt, Heilpädagoge

Die Black-Lives-Matter-Bewegung zeigt Wirkung. Warner Bros. hat den Klassiker «Vom Winde verweht» (1939) aus ihrem Streamingdienst HBO gestrichen, weil er ethnische und rassistische Vorurteile bediene und die Sklaverei verherrliche. Ins Visier gerät deshalb auch John Wayne.

In der Schweiz fällt nicht nur der «Mohrenkopf» der Auseinandersetzung zum Opfer, auch Legenden wie Alfred Escher oder General Johann August Sutter stehen unter Beschuss. Selbst ein Berg, das 3946 Meter hohe Agassizhorn an der Grenze zwischen Bern und dem Wallis, soll umgetauft werden. Louis Agassiz war ein berühmter Gletscherforscher, aber auch ein schlimmer Rassist im 19. Jahrhundert.

Der österreichische Schriftsteller und Essayist Markus Gauss sieht – am Beispiel des ehemaligen Jugoslawien – die Gefahr, dass die Debatte «zu kuriosen Bemächtigungen» führe und dazu tendiere, «alte Konflikte nicht in einem gemeinsamen Bild der Geschichte aufzuheben, sondern mit neuer Munition aufzuladen». Er spricht von «Denkmalitis als hochentzündlicher Erkrankung des Erinnerungsvermögens», die im Osten Europas wesentlich weiter verbreitet sei als im Westen.

In der Schweiz fällt nicht nur der «Mohrenkopf» der Auseinandersetzung zum Opfer, auch Legenden wie Alfred Escher oder General Johann August Sutter stehen unter Beschuss.

Stjepan Filipovic, kroatischer Widerstandskämpfer,

Markus Gauss belegt seine These am Beispiel des Widerstandskämpfers Stjepan Filipovic. Der 26-jährige Partisan war am 22. Mai 1942 von Schergen der SS und serbischen Kollaborateuren hingerichtet worden. Das Bild des jungen Mannes mit abgerissenen Kleidern, einem Strick um den Hals, auf einer hölzernen Bank stehend, die gleich umgestossen wird, ist zu einer Ikone des jugoslawischen Kommunismus geworden. Auch seine letzten Worte: «Smrt fasiszmu, sloboda narodu!» – «Tod dem Faschismus, Freiheit dem Volk!» Abgebildet bis zuletzt in den Schulbüchern aller sechs Nationen der Sozialistischen Föderativen Volksrepublik Jugoslawien.

Denkmal für Filipovic: Ebenfalls vom Sockel gestürzt.

An der Uferpromenade im kroatischen Opuzen stand lange ein Denkmal von Stjepan Filipovic. Zwei Monate nachdem sich Kroatien im blutigen Bürgerkrieg für unabhängig erklärt hatte, wurde es in einem nächtlichen Vandalenakt vom Sockel gestürzt und nicht mehr aufgestellt. Filipovic kämpfte nicht nur gegen die italienischen Besatzer Dalmatiens und die deutschen Eroberer des Balkans. Er bekämpfte auch jenen kroatischen Staat von Hitlers Gnaden, in dem die faschistische Ustascha Abertausende Serben, Juden, Roma und politisch missliebige Kroaten ermordete. In den Wirren der 1990er-Jahre wurde Filipovic mit dem Schimpfwort «Jugoslawist» belegt, aus der eigenen Nation verstossen und als Kommunist geächtet.

Kontinuierliches historisches Wissen wäre hilfreicher als das Verhüllen oder gar Zertrümmern in Ungnade gefallener Helden auf Denkmälern, Schildern oder Strassennamen.

Von Kroatisch-katholisch zu serbisch-orthodox

Nach wie vor steht aber in der serbischen Stadt Valjevo ein Denkmal für Filipovic. Damit er in Serbien als Held anerkannt werden konnte, musste der kroatisch-katholische Stjepan in einen serbisch-orthodoxen Stevan verwandelt werden. Dabei wurde grosszügig darüber hinweggesehen, dass an der Ermordung auch antikommunistische serbische Tschetniks beteiligt waren. Glühende Nationalisten, die wie die kroatischen Ustaschas heute wieder nahe an der Rehabilitation sind. Nicht nur als Fanatiker in den Fussballarenen in Belgrad und Zagreb.

Kontinuierliches historisches Wissen wäre hilfreicher als das Verhüllen oder gar Zertrümmern in Ungnade gefallener Helden auf Denkmälern, Schildern oder Strassennamen.

Mit blindwütiger «Bilderstürmerei» lassen sich aber die mageren Kenntnisse geschichtlicher Zusammenhänge nicht kompensieren. «Das Fach Geschichte verschwindet», klagt der Basler Gymnasiallehrer René Roca, «obwohl es für die Volksschule das zentrale Fundament für unser direktdemokratisches politisches System legt und eine integrative Funktion besitzt, gerade auch für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund.»

Das Wissen ist kein Sammelsurium, das einfach unter einem beliebigen Begriff neu ‹zusammengestellt› werden kann.» Das untaugliche Retortenfach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» grüsst aus der Schulstube.

Das eigenständige Fach Geschichte «ist eine Frucht unserer Wissenschaftsgeschichte. Resultat ist eine Struktur des Wissens, die an Schulen, aber auch in Bibliotheken und den Universitäten sofort augenfällig wird. Das Wissen ist kein Sammelsurium, das einfach unter einem beliebigen Begriff neu ‹zusammengestellt› werden kann.» Das untaugliche Retortenfach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» grüsst aus der Schulstube.

Kontinuierliches historisches Wissen jedenfalls wäre hilfreicher als das Verhüllen oder gar Zertrümmern in Ungnade gefallener Helden auf Denkmälern, Schildern oder Strassennamen.

Roland Stark

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