22. Dezember 2024
Digitalisierung im BIldungswesen

“Vorpreschen first, Bedenken second” – Über die unheilvolle Turbodigitalisierung im schulischen Bereich

Spätestens seit der Corona-Krise kennt die Digitalisierung der Schulen kein Halten mehr. Dabei ist es naiv, zu meinen, dass der Einsatz von Elektronik per se zu besserer Lernleistung und zu einem effizienteren Bildungssystem führt. Skeptische Stimmen gilt es ernst zu nehmen, mahnt Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen.

Trotz einer Vielzahl an Erkenntnissen, dass eine Turbodigitalisierung im Bildungssystem nicht die erhofften Erfolge bringen wird, zögern Bildungspolitiker nicht, weiterhin noch mehr Geld für digitale Medien in die Schulen zu stecken. Das ist zumal in Deutschland der Fall und darf nicht ohne Widerspruch bleiben. Selbst der Bundesrechnungshof hat mittlerweile dahingehend Stellung bezogen, dass der «Digitalpakt» einzustellen sei, weil die Gelder nicht nach Bedarf verteilt worden seien, die Verwendung schwer kontrollierbar und die Wirksamkeit nicht nachgewiesen worden sei.

Gastautor Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler

Klarer kann man es eigentlich nicht auf den Punkt bringen, dass einer naiven Digitalisierungswelle, die vor Corona bereits eingesetzt hat und dank Corona auf Hochtouren läuft, Einhalt zu gebieten ist – dieser Ruf ist ungeachtet verhallt, denn es wird bereits über den “Digitalpakt 2.0” schwadroniert.

Nun sind diese Warnungen keine Einzelfälle, vielmehr gibt es auf breiter Basis die Stimmen, welche die Grenzen einer Digitalisierung im Bildungssystem aufzeigen und mithilfe einer Vielzahl von empirischen Studien belegen können, dass der Lernerfolg damit nicht gesteigert werden kann. Leider ist das Gegenteil der Fall: Seit über zehn Jahren gehen gerade in Deutschland die Lernleistungen zurück, die Quoten derjenigen steigen, die nicht einmal die Mindeststandards beim Lesen, Rechnen und Schreiben erreichen, soziale Auffälligkeiten nehmen zu und auch psychosomatische Erkrankungen wie Essstörungen und Online-Spielsucht. Und dennoch geht die Bildungspolitik den Weg, der in diese Bildungskrise geführt hat.

Bildungskrise als Demokratiekrise

Das Bildungssystem hat bereits heute viele Kinder und Jugendliche verloren. Derweil kann es sich weder eine Demokratie noch ein wirtschaftsstarkes Land wie Deutschland leisten, auch nur einen Kopf zurückzulassen. Denn beides ist zu eng mit dem Bildungsniveau verwoben. So wird diese Bildungskrise über kurz oder lang zu einer Demokratiekrise und zu einer Wirtschaftskrise führen – die ersten Anzeichen sind bereits sichtbar, zumindest für diejenigen, die sie sehen wollen. Denn ohne Willen sind selbst Argusaugen blind.

Angesichts der proklamierten Zeitenwende von Kanzler Scholz ist auf zwei Probleme hinzuweisen, die gerade virulent werden, aber unter dem Radar der öffentlichen Meinung schwirren und Gefahr laufen, unbeachtet zu bleiben. Beide hängen mit einer Turbodigitalisierung zusammen.

Arbeitsblätter digital zu verwenden, ist in der Regel weder nachhaltiger noch lernwirksamer, als Papier zu benutzen.

Erstens ist längst bekannt, dass Digitalisierung ein Nachhaltigkeitsproblem hat. Alle Welt redet von Nachhaltigkeit und hebt diese zur grössten Herausforderung der Menschheit empor, aber diskutiert darüber in einer geradezu bestechenden Einseitigkeit. Denn Nachhaltigkeit ist mehr als nur das 1,5-Grad-Ziel, ein Tempolimit oder ein 9-Euro-Ticket. Sie umfasst auch die Frage von Ressourcen wie seltenen Erden, die Frage nach der Energienutzung, die Frage nach sozialer Gerechtigkeit, und zwar weltweit.

Man könnte diese Liste ohne weiteres fortführen, aber es ist bereits sichtbar, dass Digitalisierung und Nachhaltigkeit (noch) nicht zusammenpassen: Nimmt man das Internet als Land, so ist es bereits heute in einer Rangliste ganz weit vorne, was den Energiebedarf anbelangt. Die Tendenz steigt seit Jahren rapide – und autonomes Fahren, Chat-GPT, Streamingdienste und dergleichen verleihen auch hier der Sache einen ökologisch bedenklichen Turbo.

Allein dieser Energieaufwand ist immens – und was hat er im Hinblick auf die Lernleistungen in den letzten Jahren gebracht?

In den Schulen ist das schön beobachtbar: So wurden und werden Laptops, Tablets, Beamer, Whiteboards und Co. angeschafft, die in den Klassenzimmern den ganzen Tag laufen – und damit dies möglich ist, braucht es noch automatisch gesteuerte Jalousien, so dass man Schulen von aussen vor allem daran erkennt, dass immer alles verdunkelt ist.

Allein dieser Energieaufwand ist immens – und was hat er im Hinblick auf die Lernleistungen in den letzten Jahren gebracht? Nichts Gutes und dem kommenden Einwand gleich entgegnet: Nein, Arbeitsblätter digital zu verwenden, ist in der Regel weder nachhaltiger noch lernwirksamer, als Papier zu benutzen, wie Studien zeigen. Die Bildungspolitik macht es sich hier leicht und folgt einem doofen Wahlspruch: “Digitalisierung first, Bedenken second.” Denn eigentlich ist es kennzeichnend für ein vernunftbegabtes Wesen, wie es der Mensch ist, dass es zuerst denkt, dann handelt.

Wie bei der Eisenbahn?

Zweitens wird darüber diskutiert, ob Digitalisierung auch ungesund für den Menschen sein kann, vor allem für Kinder und Jugendliche. Zwar ist die Studienlage durchaus strittig, aber der Zweifel als wichtigstes Mittel eines denkenden Menschen sollte nicht ausgeblendet, sondern ernst genommen werden. Euphoriker in Sachen Digitalisierung wischen diese Argumente gerne weg und nennen das Beispiel der Eisenbahnkritiker, die glaubten, dass Eisenbahnfahren Hirnschäden provozieren könne.

Steigende Bildschirmzeiten führen zu Kurzsichtigkeit.

Leider wurden solche kritischen Stimmen bei vielen anderen technischen Entwicklungen ebenso weggewischt, beispielsweise bei krebserregenden Baustoffen, auch in Schulen, oder bei gesundheitsschädlichen Medikamenten, gerade bei Kindern. Wichtig ist daher immer: Empirie. Und so gibt es die Studien, die berechtigterweise Handy- und WLAN-Strahlungen infrage stellen – Schwangeren wird nicht umsonst empfohlen, das noch ungeborene Kind möglichst wenig einer solchen Strahlung auszusetzen. Bei Männern gibt es Studien, die darauf hinweisen, dass die Fruchtbarkeit durch das Handy in der Hosentasche beeinträchtigt werden kann – und gleichzeitig boomen Fertilitätskliniken.

Wer täglich mehrere Stunden mit dem Daumen wischt, der kommt zwar auch auf eine durchaus beachtliche Strecke, aber der körperlichen Fitness hilft all das nichts.

Die jüngsten Generationen tragen das Handy noch früher und noch mehr auf sich – was wird das für Folgen haben? Derweil muss man gar nicht in diese umstrittenen Debatten einsteigen, sondern kann deutlichere Ergebnisse nehmen, die die Konsequenzen einer naiven Digitalisierung der Lebenswelt für die Gesundheit aufzeigen.

Allen voran ist eine Zunahme der Kurzsichtigkeit zu nennen, die von Experten als Folge der steigenden Bildschirmzeiten gesehen wird. Ebenso kommt es zu einer Zunahme an Menschen mit Adipositas, die den Steuerzahler jährlich eine Unsumme kostet. Digitalisierung ist hier nicht schuldlos: Zwar verstehen sich Kinder heute auf digitale Medien, aber nicht mehr auf ihren Körper. Wer täglich mehrere Stunden mit dem Daumen wischt, der kommt zwar auch auf eine durchaus beachtliche Strecke, aber der körperlichen Fitness hilft all das nichts, ganz im Gegenteil: Wischen auf einem Display macht nicht fit.

Wer Endgeräte zu oft nutzt, riskiert Schlafstörungen.

Der Klassiker in diesem Kontext ist aber ein anderer: Als 2016 Apple die Night-Shift-Funktion zur Reduzierung des Blaulichtes in den Geräten eingeführt hatte, war das nicht die Folge von Weitsicht. Vorausgegangen waren mehrere Klagen von Menschen, die mit zunehmenden Schlafstörungen infolge der Nutzung von digitalen Endgeräten zu kämpfen hatten. Die Studienlage ist mittlerweile eindeutig, und es ist jedem nur zu empfehlen, einen Blaulichtfilter in den Abendstunden zu verwenden – oder das Gerät besser ganz beiseitezulegen und mit seinen Liebsten zu sprechen.

Eine Zeitenwende tut also not, gerade im Kontext einer Digitalisierung des Bildungssystems.

Nicht anders verhält es sich in diesem Zusammenhang mit den Whiteboards in den Schulen, die eigentlich bestimmte Standards erfüllen müssten. Messungen zeigen aber, dass gerade Billigprodukte nicht die Ansprüche erfüllen, die sie müssten, und daher Kinder tagein, tagaus vor flimmernden Kisten sitzen, die nicht einmal zu einer Steigerung des Lernerfolges führen, dafür aber ungesund sein können.

Die Verantwortung der älteren Generation

Eine Zeitenwende tut also not, gerade im Kontext einer Digitalisierung des Bildungssystems. Die ältere Generation übernimmt die Verantwortung für die jüngere Generation und muss damit dafür sorgen, dass jedes Kind die bestmögliche Bildung erhält. Dafür müssen Rahmenbedingungen gesetzt werden, die einem Lernerfolg in den bekannten Fächern dienlich sind.

Aber nicht nur: Auch die körperliche und seelische Verfassung gehört dazu. Bildung und Gesundheit überschneiden sich in einem ganzheitlichen Anspruch. Es wird höchste Zeit, dass wir Schulen als Orte begreifen, in denen nicht nur gelernt, sondern auch gelebt wird. Insofern ist bei der weiteren Digitalisierung des Bildungssystems auch auf die skizzierten Schattenseiten der Digitalisierung einzugehen. Es könnte sich als verhängnisvoller Fehler herausstellen, die warnenden Hinweise aus der interdisziplinären Forschung einfach zu ignorieren.

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2 Kommentare

  1. Ich stelle schon seit längerem fest, dass das Wort “Digitalisierung” bei vielen Bildungsverantwortlichen einen eigentlichen Erregungszustand provoziert, der sämtliche anzumahnende Vorsicht über den Haufen wirft. Das kennt man(n) doch sonst eher bei Seitensprüngen…

  2. Eine “gezierte” Pauschalkritik an der Digitalisierung, die nicht weiterführt und mit Pädagogik insgesamt wenig zu tun hat. Also dann: Rad zurückdrehen und Problem an der Wurzel packen!

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