21. Dezember 2024
Cancel culture

Die Geschichte eines Sprechverbots: An der Uni wird wieder der bestraft, der anders denkt

Der Condorcet-Blog wurde seinerzeit gegründet, weil seine Initiatoren der Meinung waren, es werden in den Medien, in den PH’s, in der Verwaltung und in den Parteien nicht mehr alle Meinungen abgebildet oder zugelassen. Ausserdem würde sehr oft versucht, umstrittene Personen mit „Kontaktschuld“ und Etikettierung aus dem Diskurs fernzuhalten. Vier Jahre nach der Gründung unseres Bildungsblogs müssen wir feststellen, dass die Problematik der „Cancel culture“ um sich greift. Wenn verlangt wird, dass Professorinnen, die sogenannt missliebige Studien veröffentlichen, von ihrer Fakultät entlassen oder namhafte Wissenschaftler mit unpopulären Meinungen am Auftreten gehindert werden, müssen wir das klar benennen und uns dagegen wehren. Es widerspricht unseren Prinzipien einer offenen und freien Debatte. Von Anfang an suchten wir immer den Dialog mit Persönlichkeiten, die auch andere Überzeugungen haben und bemühten uns um das Prinzip „Rede und Gegenrede“. In keinem Milieu gedeiht die Einengung des Diskurses so prächtig wie an den Universitäten. Das Verrückte dabei ist: Niemand ist in Deutschland und in der Schweiz so abgesichert wie ein auf Lebenszeit berufener Hochschullehrer. Es kann ihm nichts passieren, wenn er sich querlegt oder einfach nur das macht, was er für richtig hält. Und dennoch ziehen alle sofort den Kopf ein, wenn Ärger droht. Jan Fleischhauer berichtet im Fokus von einem Fall an der Uni Erlangen.

Von der Cancel Culture behaupten einige Leute hartnäckig, es gebe sie gar nicht. Was ist dann bloß an der Universität Erlangen passiert, wo gerade einer der bekanntesten Althistoriker Deutschlands ausgeladen wurde? Die Alte Geschichte ist eine stille Wissenschaft. Die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigt, sind seit Langem tot. Tote Völker, tote Steine, tote Sprachen. Nichts, womit man Aufregung oder gar Empörung auslösen könnte. Sollte man meinen.

Gastautor Jan Fleischhauer

Wie man sich doch täuschen kann. Vor zwei Wochen war der Althistoriker Egon Flaig an die Universität Erlangen eingeladen, um mit einem Abendvortrag ein Symposium zum Thema „Freiheit“ zu eröffnen. Flaig ist einer der wenigen Vertreter seines Fachs, die auch außerhalb der Fachwelt bekannt sind. Bis zu seiner Emeritierung hatte er den Lehrstuhl für Alte Geschichte in Rostock inne, noch immer ist er regelmäßig in großen Zeitungen mit Aufsätzen vertreten.

Eingefahrene Denkweisen herausfordern, sich mit Tatsachen beschäftigen, auch wenn sie unangenehm sind, den Diskurs ins Freie führen – das ist die vornehme Aufgabe der Universität.

Vor wenigen Monaten erst erschien von ihm ein viel beachteter Text, mit dem er sich in die Postkolonialismus-Debatte einmischte. Flaig wies in dem Artikel darauf hin, dass der Sklavenhandel nicht nur weiße, sondern auch schwarze Täter kannte – und auch weiße Opfer. Eine Million Europäer haben die Araber in die Sklaverei geführt, eine Zahl, die zeigt, dass der Wunsch nach historischer Wiedergutmachung nicht so leicht zu erfüllen ist, wie manche meinen.

Was wäre ein besserer Ort, um über historische Perspektiven zu debattieren, als eine Hochschule? Eingefahrene Denkweisen herausfordern, sich mit Tatsachen beschäftigen, auch wenn sie unangenehm sind, den Diskurs ins Freie führen – das ist die vornehme Aufgabe der Universität.

Was wäre ein besserer Ort, um über historische Perspektiven zu debattieren, als eine Hochschule? Eingefahrene Denkweisen herausfordern, sich mit Tatsachen beschäftigen, auch wenn sie unangenehm sind, den Diskurs ins Freie führen – das ist die vornehme Aufgabe der Universität. Dafür wird die akademische Welt vom Staat mit viel Geld ausgestattet. Dafür genießen Professoren eine materielle Absicherung, die ihresgleichen sucht.

Universität zieht Einladung zurück

Eine Woche vor dem geplanten Auftritt in Erlangen erreichte Flaig ein Schreiben des Professors, der ihn eingeladen hatte, des Archäologen Andreas Grüner. Mit dem größten Bedauern sehe er sich gezwungen, die Einladung zurückzuziehen, schrieb Grüner.

Was war geschehen? Das fragte sich auch Flaig und bat um Rückruf. Am Telefon darauf: Ein zerknirschter Kollege, der beteuerte, wie leid ihm alles tue. Man habe sich schon sehr auf den Vortrag gefreut, aber dann habe sich der Dekan der Universität eingeschaltet, ob man wirklich einem wie Flaig eine Plattform bieten wolle?  In einem weiteren Schreiben aus dem Dekanat hieß es, das Meinungsbild innerhalb der Fakultät sei eindeutig. Die Gründe? Im Unklaren.

Professor fürchtet sich vor „Repressalien“

Auf Flaigs Hinweis, als Professor stehe Grüner doch frei zu entscheiden, wen er einlade und wen nicht, bat dieser noch einmal um Entschuldigung. Er müsse an die jungen Leute denken. Würde er bei seiner Einladung bleiben, würde das möglicherweise Kreise ziehen und die wissenschaftlichen Mitarbeiter Repressalien aussetzen. Es täte ihm furchtbar, furchtbar leid, aber ihm bleibe keine andere Wahl.

Der Kolumnist Harald Martenstein hat neulich darauf hingewiesen, dass es sich bei der Cancel Culture wie mit der Stadt Bielefeld verhält, von der Spaßvögel auch behaupten, es gebe sie gar nicht.  Parallel zur Praxis der Cancel Culture hat sich ein regelrechter Wissenschaftszweig etabliert, der die Cancel Culture als Hirngespinst betrachtet. Wäre der Begriff nicht schon anderweitig vergeben, würde man von Cancel-Culture-Leugnern sprechen.

Ist die Cancel Culture doch nur Einbildung?

Der bekannteste Vertreter der neuen Profession ist der Literaturwissenschaftler Adrian Daub. Daub hat ein ganzes Buch vorgelegt, dass die Cancel Culture zu einem Missverständnis erklärt. Es wollten heute halt auch Leute mitreden, die bis eben noch ausgeschlossen gewesen seien, Frauen, Schwarze, Transmenschen. Das führe bei den etablierten Diskursanführern zu einem Störgefühl, das sie mit Cancel Culture verwechselten. Alles also Einbildung? Ich neige in der Sache eher zu Martenstein. Dafür laufen da draußen, wie er sagen würde, nicht nur zu viele Bielefelder, sondern auch Gecancelte herum.

Die akademische Welt ist derzeit der heißeste Frontabschnitt im Kampf um die Meinungsfreiheit. Der Fall Flaig ist dabei so interessant, weil er die Grenze verschiebt, von der offenen Auseinandersetzung ins Heimliche und Verdeckte. Bis heute ist unklar, woher die Initiative zur Ausladung kam. War es der AStA, der sich beschwerte? Oder ein Kollege, der fand, dass jemand, der daran erinnert, dass der Sklavenhandel auch schwarze Nutznießer hatte, nicht nach Erlangen passt?

Die akademische Welt ist derzeit der heißeste Frontabschnitt im Kampf um die Meinungsfreiheit.

Oder war es am Ende eine einsame Entscheidung des Dekans, der schlechte Presse fürchtete? All das liegt im Unklaren. Es gibt noch nicht einmal eine Begründung, weshalb Flaig in Erlangen unerwünscht ist. Publik gemacht hat den Fall der ehemalige SPD-Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern Mathias Brodkorb. „Akademischer Suizid?“ lautete die Überschrift seines Artikels in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

Heute ist das ein Todesurteil

Aber auch Brodkorb gegenüber wollte die Universität nicht sagen, warum sie ihren Gast wieder ausgeladen hat. Der Dekan beruft sich auf Vertraulichkeit. Das ist nicht nur feige – dem Betroffenen wird so jede Möglichkeit genommen, sich gegen die Rufschädigung zur Wehr zu setzen. Wie soll man sich gegen einen Vorwurf verteidigen, den man nicht kennt?

Man darf sich nicht vertun: Eine Ausladung wie die in Erlangen hat Folgen. Andere Fakultäten werden sich gut überlegen, ob sie noch eine Einladung aussprechen. Es braucht nicht viel, um sich das Gespräch vorzustellen. „Ach, muss es der XY sein? Der ist doch so umstritten. Lass uns jemand anderes nehmen.“ Die Zeit, als umstritten zu sein, noch ein Grund war, jemanden erst recht zu bitten, ist lange vorbei. Heute ist das ein Todesurteil.

Universitäten legen den freien Diskurs in Ketten. Auch jenen über den Sklavenhandel.

Das ist das Gemeine: Wenn man gar nicht erst eingeladen wird, braucht es anschließend keine Ausladung mehr. Dann ist man gecancelt, ohne beweisen zu können, dass man gecancelt wurde. Genauso ist es auch bezweckt. Es versteht sich von selbst, dass alles im Namen der Meinungsfreiheit geschieht. Die Suspendierung der Freiheit, um die Freiheit zu garantieren, das ist der eigentliche Twist.

Vor Jahren erhielt ich einen Anruf meines Freundes Henryk M. Broder, ob ich am nächsten Tag in London sein könne. Die „German Society“ an der London School of Economics hatte Broder, den langjährigen „Spiegel“-Kulturchef Hellmuth Karasek und den gerade als Bestsellerautor hervorgetretenen Bundesbanker Thilo Sarrazin zu einer Podiumsdiskussion eingeladen.

Eigentlich hätte die damalige ZDF-Korrespondentin die Diskussion moderieren sollen, aber die hatte plötzlich kalte Füße bekommen. Also saß ich am kommenden Tag im Flugzeug. Am Nachmittag fand ich mich mit dem gut gelaunten Broder und seinen beiden Mitstreitern vor Ort ein. Doch dann trat ein Vertreter der Universität an uns heran.

„Free Speech Aktivisten“ schaden dem freien Diskurs

Die „Free Speech Group“ der London School of Economics hatte Protest angemeldet. Sarrazin und Broder seien „Provokateure“, deren „Unwissenschaftlichkeit“ dem freien Diskurs schade. Dem Argument folgend, dass die Ausübung der freien Rede nachteilige Folgen haben könne, hatte die Verwaltung die Nutzung des Hörsaals untersagt.

Die Diskussion fand dann doch noch statt, im Ballsaal des nahe gelegenen „Waldorf Hilton“. Der Vorsitzende der German Society Marc Fielmann, Sohn des bekannten Brillenhändlers, verfügte über die nötigen Kontakte. So war es am Ende eine Hotelkette, die die Ausübung der Meinungsfreiheit sicherstellte, gegen die Free-Speech-Aktivisten.

So war es am Ende eine Hotelkette, die die Ausübung der Meinungsfreiheit sicherstellte, gegen die Free-Speech-Aktivisten.

Der deutsche Professor war noch nie ein großer Kämpfer für die Freiheit. Man soll mit historischen Vergleichen vorsichtig sein, aber an dieser Stelle muss man es vielleicht doch erwähnen:  Als die deutsche Professorenschaft 1934 aufgefordert wurde, einen Eid auf Adolf Hitler abzulegen, gab es lediglich zwei Hochschullehrer, die diesen verweigerten. Der eine war der Theologe Karl Barth, der war allerdings Schweizer. Der andere war Kurt von Fritz, Professor für Altgriechisch an der Universität Rostock.

Manchmal lohnt es, sich vorzustellen, wie sich Menschen in einer anderen Zeit in einem anderen System verhalten hätten. Wer in Erlangen studiert, hat nun eine begründete Vermutung, was seine Professoren, angeführt von dem Dekan Rainer Trinczek, angeht.

 

Lesen Sie dazu auch: https://condorcet.ch/2023/05/die-ethnologin-susanne-schroeter-steht-unter-druck-wissenschaft-ist-auch-eine-charakterfrage/

 

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4 Kommentare

  1. Nein – Cancel Culture (CC) ist keine Einbildung und auch kein weiteres Topos für Verschwörungstheoretiker.
    CC ist ein US-Export und hat in Europa bereits ein gefestigtes Fundament.
    Die Folge davon: Politisierte und letztlich gekaufte Wissenschaft.

  2. So sehr ich gegen die Ausladung von Leuten wie Broder bin: Die Einschätzung, dass Broder ein unwissenschaftlicher Provokateur sei, halte ich für untertrieben. Mir wären da im Zusammenhang mit seiner Kriegspropaganda für G.W. Bush ganz andere Bezeichnungen eingefallen.

  3. Diese Diskursverweigerung führt zu einer beschräkten intellektuellen Argumentationsfähigkeit. Personen, Gruppierungen oder Institutionen, welche den Diskurs scheuen, schaden sich selbst.

  4. Jenseits dieser (immer noch ein wenig spektakulären) Ausladungen hat es sich nach meiner Erfahrung längst eingebürgert, dass Journalisten (besonders die, die sich für fortschrittlich halten) in Internet-Diskussionen eine massive Zensur ausüben und Beiträge löschen, die keineswegs etwas Verbotenes oder Extremistisches ausdrücken, sondern die vielleicht nur ein Argument quer zum Mainstream formulieren. Es genügt schon, auf den unbestreitbaren Umstand hinzuweisen, dass man für jede Million zusätzlicher Zuwanderer eine gewisse Zahl (vielleicht 200.000-300.000) zusätzlicher (und bezahlbarer) Wohnungen benötigte, für die gleichwohl niemand von den Regierenden ernsthaft sorgen will. Der sog. “soziale Wohnungsbau” liegt darnieder, gleichzeitig wird über steigende Mieten geklagt. In Deutschland stieg die Bevölkerungszahl von 79 Millionen zur Zeit der Wende auf über 84 Millionen jetzt. Allein diese Gedankengänge gelten schon als “rechtes Gedankengut” und werden mit feindseligen Attributen bedacht. Das läuft auf Denkverbote hinaus, und die Frage, wer denn für solche Maßnahmen demokratisch legitimiert ist, gilt erst recht als verboten. Wer in Beiträgen die FAZ oder die NZZ zitiert, kann angeschnauzt werden, er wolle wohl demnächst rechte Hetzblätter hoffähig machen. Die Diskussionskultur lässt mittlerweile Fairness und Redlichkeit vermissen, stattdessen kehrt eine einseitige Selbstgerechtigkeit und auch Rechthaberei gerade bei denen ein, die den Schutz von Demokratie und Grundrechten auf ihre Fahnen geschrieben haben.
    Wer das alles nicht glaubt, mag selber mit Internet-Beiträgen unter Pseudonym experimentieren.

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