Börn Bestgen ist Schulleiter und kennt die Nöte des pädagogischen Parterres hautnah. Der Praktiker redet Klartext. In seiner nüchternen Analyse fragt er nach den Folgen der vielen Reformen. Sein Fazit: «Unser System ist am Anschlag angelangt.» Wir sind überfordert und gefährden unsere Volksschule. Er verlangt von der Bildungspolitik nur eines: «Weniger ist mehr. Qualität statt Quantität. Wir müssen uns auf das Wesentliche einigen. Das nimmt Druck weg und verbessert die Qualität.»
Mit dem Umbau erfolgte ein massiver Ausbau des schulischen Überbaus
Bestgen weiss, wovon er spricht. Seit über 40 Jahren steht er in der Schule. Diese Schule sah sich in letzter Zeit einem Feuerwerk an Reformen gegenübergestellt. Die umfangreichen Innovationen wurden meist von oben verordnet, oft gar gegen die langjährige Erfahrung der Praktiker und gegen wissenschaftlich erhärtete Befunde. Der pädagogische Kompass kannte nur eine Richtung: Umbau, Reorganisation und Implementation von Neuem. Die Stichworte heissen: früher Fremdsprachenunterricht, Integration und Inklusion, selbst- und kompetenzorientiertes Lernen, Qualitätsmanagement und Lehrplan 21 «mit seiner gnadenlosen Überforderung aller Beteiligten», so Bestgen wörtlich. Es sind unzählige Teilprojekte. Kaum jemand hat den Überblick. Die Schule wurde nicht nur radikal umgebaut; mit diesem Umbau erfolgte auch ein massiver Ausbau des schulischen Überbaus. Die Schuladministration nahm zu; die Bildungsbürokratie wuchs und entfernte sich von der Praxis. Die Institution Schule ist zum Verwaltungsapparat geworden. Auch darauf verweist Bestgen: «Da wird in einem Verwaltungsbüro irgendetwas entschieden, ohne dass man dort die Realität kennt.» Von den Stäben fühlt er sich darum nicht ernst genommen.
Die Wirkung der Reformen ist ernüchternd. Viele Veränderungen im Schulsystem kranken daran, dass sie selten in ihrer Komplexität betrachtet und kaum zu Ende gedacht wurden.
Mit der Zunahme der Bürokratie nahmen auch die Vorschriften zu. Jede Reform brachte neue Vorgaben, erzeugte zusätzliche Dekrete und Direktiven, produzierte Papier und beanspruchte Berichte. Das alles engt den pädagogisch notwendigen Freiraum ein. Das Verantwortlich-Sein für die komplexen Lernprozesse der Kinder und Jugendlichen aber braucht Freiheit. Humane Energie kommt aus Freiheit, nicht aus Reglementen. Darum sagt Bestgen dezidiert: «Wir sollten die Lehrpersonen administrativ entlasten. Die klagen ja nie über die Kinder, sondern über das Drumherum. Das führt zur Überforderung.»
Nicht an kleinen Stellschrauben drehen
Die Wirkung der Reformen ist ernüchternd. Viele Veränderungen im Schulsystem kranken daran, dass sie selten in ihrer Komplexität betrachtet und kaum zu Ende gedacht wurden. Welche Effekte werden an welcher Stelle ausgelöst? Oder gar in Kauf genommen? Welches sind die Folgen? Am Ende ist es immer die Überkomplexität des Systems; sie relativiert die Reformeffekte oder kehrt ihre beabsichtige Wirkung gar um. Die Überkomplexität des Bildungssystems aufs Wesentliche und Grundlegende zu reduzieren, das wäre Aufgabe einer verantwortungsbewussten Bildungspolitik. An kleinen Stellschrauben wie den Hausaufgaben oder der Notengebung zu drehen genügt nicht. Gefordert ist die bildungspolitische Weitsicht, die Kernelemente einer guten Schule herauszudestillieren und das System neu auszurichten.
Bestgen, der Praktiker aus dem pulsierenden Schulparterre, fordert darum ein «gemeinsames Commitment der Bildung». Ob man aber seinen Mahnruf in der erfahrungsverdünnten Luft der Dachterrassen hört? Wieder ein Rufer in der Wüste? Vielleicht winkt darum Friedrich Dürrenmatt aus dem Grab: «Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.» Die Geschichte um die Folgen der Bildungsreformen ist noch nicht zu Ende. Leider.
An kleinen Stellschrauben wie den Hausaufgaben oder der Notengebung zu drehen genügt nicht. Gefordert ist die bildungspolitische Weitsicht.
Sehr gut analysiert!
Mir fallen zwei Begriffe auf:
1. “Zu Ende denken”: Da müsste man schon zuerst DENKEN können – etwas, das vielen Politturbos in der Tiefe komplett abgeht. Hauptsache machen und sich dann brüsten.
2. “Verantwortungsbewusst”: Sich wirklich der (eigenen) Verantwortung bewusst sein, ist für Narzissten eigentlich unmöglich. Die Bildungspolitik heutzutage gleicht einem Narziss(t)enfeld.