Französische Revolution, Entstehung des modernen Bundesstaates, Erster und Zweiter Weltkrieg: Immer mehr Schülerinnen und Schüler wissen darüber – nichts. Das gilt selbst für die Zeit des Kalten Krieges, dessen Krisen mehr und mehr im Nebel des Vergessens in eine diffuse Vergangenheit verschwinden. Es droht weitverbreitete Geschichtsvergessenheit.
Daran ist unser Bildungssystem nicht unschuldig, kommt doch das Fach Geschichte, wenn es denn überhaupt noch unterrichtet wird, an den meisten Schulen zu kurz. In einigen Kantonen wird gerade noch eine Wochenlektion für Geschichte gewährt. Der fatale Niedergang dieses Fachs dürfte vor allem vier Gründe haben: Zum einen ist die Vermittlung von Fakten im Unterricht, wie sie im Fach Geschichte nun einmal essenziell ist, bedingt durch die neuen, auf Kompetenzen basierenden Lehrpläne, immer weniger gefragt. Und zum andern haben die zunehmende Ausrichtung unserer Bildungspolitik auf die MINT-Fächer, auf Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, und die Schaffung neuer Fächer, wie die Frühfremdsprachen und “Medien und Informatik”, das Fach Geschichte an den Rand gedrängt.
Und nicht zuletzt ist es der Lehrplan 21, in dem Geschichte als eigenständiges Fach verschwunden ist und durch das schwammige Sammelfach “Räume, Zeiten, Gesellschaften” ersetzt wurde, das alles Mögliche an Realien umfasst. Schliesslich wird Geschichte in vielen Schulen nicht mehr chronologisch, sondern in Längsschnitten zu Themen, wie etwa “Armut und Reichtum”, “Kolonialismus” oder “Krisenherde”, unterrichtet. Die Vorstellung vom zeitlichen Nacheinander weicht damit einem Durcheinander, in dem es keine Epochen mehr gibt. Dringend benötigtes Überblicks- und Orientierungswissen geht so verloren.
Die Vorstellung vom zeitlichen Nacheinander weicht damit einem Durcheinander, in dem es keine Epochen mehr gibt.
Die Abwertung des Geschichtsunterrichts an unseren Schulen bleibt nicht ohne Folgen. Wie sollen junge Leute um den hohen Wert der Demokratie wissen, den es um jeden Preis zu erhalten gilt, wenn sie im Schulunterricht nie erfahren haben, mit welchen Mühen und Opfern die Entstehung der modernen westlichen Demokratien mit ihrer Sicherung der Freiheitsrechte verbunden war. Gerade heute, wo Staaten wie Russland und China eine neue, autokratische Weltordnung anstreben, in der Freiheitsrechte keinen Platz mehr haben, ist ein solches Wissen unumgänglich. Und wie lässt sich das Stimmrechtsalter 16, über das wir in der Schweiz bald abstimmen können, staatspolitisch rechtfertigen, wenn Jugendliche, vor allem solche ohne Mittelschulbildung, kaum wissen, auf welchen geschichtlichen Pfeilern unser Staatswesen ruht und wie es funktioniert.
Auch eine Aufgabe der Politik
Keine Frage: Geschichte, dessen staatspolitische Bedeutung in einer Demokratie erheblich ist, muss im Kanon der Schulfächer als eigenständiges Fach einen festen Platz einnehmen und von fachlich dazu ausgebildeten Lehrkräften unterrichtet werden. Es ist Aufgabe der Politik und nicht nur der Bildungsräte, dafür zu sorgen, dass das Fach Geschichte bessere Rahmenbedingungen, vor allem genügend Wochenlektionen und verbindliche Bildungsinhalte, erhält. Gerade im Hinblick auf die bevorstehenden Feiern zum 175-jährigen Bestehen unserer Bundesverfassung sei einmal mehr daran erinnert.
Prof. Dr. Mario Andreotti, ehem. Gymnasiallehrer und heute Dozent für Neuere deutsche Literatur, ist ein profunder Kenner der schweizerischen Bildungslandschaft. 2019 veröffentlichte er im Verlag FormatOst dazu das vielbeachtete Buch «Eine Kultur schafft sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache».