Als diese Zeitung Ende letzten Jahres eine Umfrage zum Lehrplan 21 durchführte, stellten mehrere Heilpädagoginnen und Eltern einen Zusammenhang zwischen Lernstörungen wie etwa einer Legasthenie und dem Lehrplan 21 her. Eine Heilpädagogin spricht von einer Zunahme der “Pseudo-Legastheniker”. Ist da etwas dran?
Genaue Zahlen zu bekommen, ist nicht möglich. Der Kanton erfasst die auf den Erziehungsberatungsstellen gestellten Diagnosen nicht separat. Doch seit 2014 erhebt er, wie viele Kinder Spezialunterricht etwa durch eine Logopädin oder einen Heilpädagogen erhalten. Nebst Kindern mit Lernschwierigkeiten gehören dazu auch hyperaktive Kinder mit Konzentrationsproblemen wie ADHS oder Kinder mit einer Entwicklungsstörung etwa aus dem Autismusspektrum (ASS).
Diese Zahlen deuten tatsächlich auf einen möglichen Zusammenhang von Lernschwächen und dem neuen Lehrplan hin: In den Jahren 2014 bis 2017 erhielten je rund 4000 Schulkinder des Kantons Bern zusätzlichen Spezialunterricht. Darunter fallen Kinder mit Legasthenie oder Dyskalkulie, Verhaltensauffällige mit ADHS oder ASS, aber auch Kinder mit einem Sonderschulstatus, etwa aufgrund eines Downsyndroms.
2019, ein Jahr nach der Einführung des Lehrplans 21, erhalten rund 1000 Kinder mehr Spezialunterricht. Bei gut 100’000 Schulkindern im Kanton ist der Anstieg nicht riesig, aber doch signifikant. In Prozenten dargestellt bewegen sich die Zahlen vor dem Lehrplanwechsel um die vier Prozent. Ein Jahr nach dem Wechsel sind sie auf fast fünf Prozent geklettert und dort oben geblieben.
Der neue Lehrplan
Der Lehrplan 21 legt grosses Gewicht auf selbstständiges Lernen. Dazu gibt es an vielen Schulen eigens im Unterricht eingeplante Zeiten. In den oberen Klassen sind dies sogenannte SOL-Lektionen. SOL steht für selbst organisiertes Lernen.
Das sei insbesondere für Kinder mit ADHS schwierig, sagt der Könizer Kinderarzt Rolf Temperli. “Sie lassen sich leicht ablenken und brauchen klare Strukturen.” Vorausschauendes Planen stelle sie vor grosse Herausforderungen.
“Kinder brauchen zum Lernen Anleitung von Erwachsenen, zu denen sie in Beziehung stehen.”
Eliane Perret, Psychologin
Die Zürcher Psychologin und Heilpädagogin Eliane Perret sieht es ähnlich. Viele Kinder seien mit dem selbst organisierten Lernen überfordert, und Verhaltensauffälligkeiten könnten mit dem Gefühl zusammenhängen, allein gelassen zu sein. Mit dem selbst organisierten Lernen kämen meist nur die Cleversten zurecht. “Viele Kinder werden durch ihre Eltern oder Nachhilfe unterstützt, andere werden mutlos und geben auf.”
Wie auch die neuere entwicklungspsychologische Forschung zeige, sei Lernen ein Beziehungsgeschehen, erklärt Perret. “Kinder brauchen zum Lernen Anleitung von Erwachsenen, zu denen sie in Beziehung stehen.” Sie habe in ihrer langjährigen Arbeit an einer Schule für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten oder Lernproblemen oft beobachtet, dass die Symptome der Kinder sich milderten oder gar verschwanden, wenn der Unterricht auf deren Bedürfnisse ausgerichtet worden sei.
Stefan Wittwer vom Berufsverband Bildung Bern nimmt den Lehrplan in Schutz. Selbst organisiertes Lernen (SOL) sei eine didaktische Methode und als solche nicht im Lehrplan vorgeschrieben. “Schulen, die SOL fix im Stundenplan haben, machen das aus Überzeugung, der Lehrplan schreibt das nicht vor”, sagt er.
Im Rahmen der überfachlichen Kompetenzen sollen die Kinder ihr Lernen zwar selber organisieren können, aber erst gegen Ende des dritten Zyklus. Bis dann sollten sie ab der Mittelstufe Schritt für Schritt dahin geführt werden. Der Lehrplanwechsel kann also nicht der einzige Grund für den plötzlichen Anstieg der Diagnosen sein.
Der Lehrkräftemangel
2018 mussten erstmals Studierende der Pädagogischen Hochschule in den Klassenzimmern einspringen. Dass ausgerechnet der Fachkräftemangel in der Schule zu mehr Diagnosen bei Schulkindern führen soll, scheint paradox. Denn nicht nur Lehrer fehlen in den Schulstuben, sondern auch sonderpädagogische Spezialistinnen.
Doch der Lehrermangel führt zu grösseren und heterogenen Klassen, da Schulleitende immer mehr Mühe haben, die freien Stellen zu besetzen. In den grossen Klassen hat die Lehrperson weniger Zeit für das einzelne Kind.
“Ohne Diagnose gibt es nur sehr begrenzt individuelle Förderung für ein Kind.”
Rolf Temperli, Kinderarzt
Der Kinderarzt Rolf Temperli beobachtet in seiner Praxis, dass der Wunsch nach einer Abklärung ausser von den Schulen zunehmend von den Eltern kommt. Sie wollten verstehen, warum ihr Kind Schwierigkeiten habe, und erhofften sich, dass ihr Kind optimal gefördert werde, erklärt Temperli. “Denn ohne Diagnose gibt es nur sehr begrenzt individuelle Förderung für ein Kind.”
Obwohl im Vordergrund der Therapie oft pädagogische Massnahmen stünden und man bereits wisse, was das Kind brauche, müsse eine Beeinträchtigung gesucht und diagnostiziert werden, damit das Kind zusätzlich gefördert werden könne.
Das vermutet auch der Schulleiter des Schulkreises Bern-Bethlehem, Lukas Wiedmer, und zwar vor allem bei den bildungsnahen Eltern. “Angesichts des Selektionsdrucks wollen sie, dass ihr Kind gefördert wird, oder sie erhoffen sich gar einen Nachteilsausgleich, der den Zugang zu höherer Ausbildung doch noch ermöglichen soll.”
Tatsächlich hat die Zahl der auf die Erziehungsberatungen geschickten Kinder massiv zugenommen. Gegenüber der Zeit vor der Pandemie seien die Anfragen bei den Erziehungsberatungen um 40 Prozent gestiegen, schreibt die Bildungsdirektion Ende Februar in ihrem Newsletter.
“Das System sucht sich Entlastung, wo es diese finden kann”, sagt Stefan Wittwer von der Lehrer- und Lehrerinnengewerkschaft. Damit weist er zugleich auf einen Fehler im System.
Der Systemfehler
Diagnostizierte Kinder erhalten zusätzliche Ressourcen, und von diesen profitiert auch die Schule. Das Phänomen ist seit rund zehn Jahren vom Kanton Zürich bekannt. Dort hatte sich innerhalb von 15 Jahren die Zahl der Kinder, die mit Sonderschulstatus in eine Regelklasse integriert waren, fast verdoppelt.
Allerdings blieb die Zahl der Kinder, die so schwer beeinträchtigt waren, dass sie nicht in Regelklassen integriert werden konnten, stabil. Also hatten vor allem Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwierigkeiten zugenommen.
“Viele Lehrpersonen sind in gewissem Sinne froh um jedes Kind, das eine Diagnose hat. So erhalten sie die Unterstützung, die sie im heutigen Schulalltag brauchen.”
Manuel C. Widmer, Grossrat (GFL) und Lehrer
Der Grund dafür lag beim System. Die zusätzlichen Massnahmen für die Kinder mit Sonderschulstatus, also zusätzliche Lektionen durch Heilpädagoginnen, Logopäden und andere Spezialistinnen, zahlte der Kanton, und zwar nach Bedarf. Je mehr Sonderschulkinder eine Schule integrierte, desto mehr spezialisiertes Personal konnte sie anstellen
Der GFL-Grossrat und Lehrer Manuel C. Widmer sagt denn auch: “Viele Lehrpersonen sind in gewissem Sinne froh um jedes Kind, das eine Diagnose hat. So erhalten sie die Unterstützung, die sie im heutigen Schulalltag brauchen.” Der Berner Schulleiter Lukas Wiedmer bestätigt das, wenn auch nicht mit derart deutlichen Worten.
Aktuell werde ein Grossteil der schulischen Ressourcen durch Abklärungen auf der Erziehungsberatung generiert. Vor allem die Heilpädagoginnen und -pädagogen arbeiten dabei nicht immer einzeln mit dem zu unterstützenden Kind, sondern oft mit einer kleinen Gruppe oder gar im Team-Teaching mit der Klassenlehrperson. Davon profitiert nebst dem zu unterstützenden Kind die ganze Klasse.
“Es müsste möglich sein, dass Kinder unkompliziert zusätzliche Unterstützung erhalten, ohne dass zuerst so häufig mit Abklärungen eine Diagnose erstellt werden muss.”
Stefan Wittwer, Co-Geschäftsführer von Bildung Bern
Doch das Anbinden von Ressourcen an einzelne Kinder erschwere die Zusammenarbeit der Klassenlehrpersonen mit dem heilpädagogischen Personal, sagt Wiedmer. Dessen Arbeitspensum könne rasch ändern, etwa wenn ein Kind mit Diagnose wegziehe. Viel lieber wäre Wiedmer, dass die Schule dauerhaft mit genügend Ressourcen – also Lehrkräften und sonderpädagogischem Personal – ausgestattet würde, damit sie von Anfang an für alle Kinder bereit wäre.
Der Lehrergewerkschafter Wittwer verlangt deshalb mehr globale Ressourcen für die Schulen, die sie flexibler einsetzen können. “Es müsste möglich sein, dass Kinder unkompliziert zusätzliche Unterstützung erhalten, ohne dass zuerst so häufig mit Abklärungen eine Diagnose erstellt werden muss.”
Die Gesellschaft
Dies alles ist möglich, weil die psychiatrischen Diagnosen oft nicht so eindeutig sind wie etwa eine Sehbehinderung oder ein Downsyndrom. Die Diagnosen würden unter anderem mithilfe von Fragebögen nach Diagnosekriterien internationaler psychiatrischer Handbücher gestellt, erklärt die Psychologin Eliane Perret. “Sie beruhen auf Beobachtungen, was immer einen gewissen Spielraum zulässt.”
Dadurch entstehe eine scheinbare Objektivität, schreibt sie in ihrem Buch “Heilpädagogik im Dialog”. Im Allgemeinen würden das familiäre und schulische Umfeld, der Erziehungsstil und andere Bedingungen, die Einfluss auf die Entwicklung des Kindes haben, zu wenig gewichtet, findet sie. Selbstverständlich gebe es Kinder mit Entwicklungs- und Lernstörungen. “Aus meiner Beobachtung werden Kinder heute jedoch schneller mit einer Diagnose belegt als früher”, sagt sie.
Perret verweist auf eine Untersuchung, gemäss der etwa die Diagnose ADHS im Kanton Tessin viel seltener gestellt wird als in der Deutschschweiz. “Man vermutet, dass dort das tolerierte Spektrum an Temperamenten grösser ist.”
“Die Gesellschaft erträgt aussergewöhnliches Verhalten weniger gut als vor 30 Jahren.”
Rolf Temperli, Kinderarzt
Der Kinderarzt Rolf Temperli bestätigt das. “Die Gesellschaft erträgt aussergewöhnliches Verhalten weniger gut als vor 30 Jahren.” Viele Kinder, bei denen heute eine Autismusspektrum-Störung diagnostiziert werde, hätten damals einfach als Sonderlinge gegolten. Man wisse heute mehr über diese Probleme und sei darauf sensibilisiert.