Viel ist schon gesagt, geschrieben und gestritten worden über «Kompetenzen» in Bildungssystemen, was davon zu halten sei, wofür sie taugen und wozu nicht, welchen Schaden sie anrichten oder anzurichten drohen oder welchen Nutzen sie bringen werden. Auch experimentiert, entwickelt, erprobt und geforscht mit grossem Aufwand und Engagement wurde dazu mit wenig eindeutigen Ergebnissen und weiterhin kontroversen Ansichten. Kurz, der Schul- und der Bildungsdiskurs in praktisch allen Ländern dieser Welt kommt nicht mehr aus ohne «Kompetenz» und seine semantischen Äquivalente. Die Chiffre hat sich weltweit innert kürzester Zeit durchgesetzt. Nicht die begriffliche Klärung oder gar der didaktisch-pädagogische Gebrauch des Konzeptes «Kompetenz» sollen hier erörtert werden, sondern die Karriere des Begriffs und seine Funktion im schul- und gesellschaftspolitischen Diskurs samt den tatsächlichen und absehbaren Effekten dieser neuen Semantik.
Moderne Gesellschaften sind hochgradig funktional differenziert. Sie lösen und bearbeiten ihre grundlegenden gesellschaftlichen Probleme und Aufgaben in verschiedenen spezialisierten Bereichen, Teilsystemen oder Institutionen. So sind Polizei und Militär für die innere und äussere Sicherheit zuständig, das Gesundheitswesen und die Krankenhäuser für die Bearbeitung von Problemen der Gesundheit, die Justiz für die Rechtsgleichheit und –sicherheit und die Wirtschaft für die Wohlversorgtheit der Gemeinschaft usw. Die Teilsysteme sind hochgradig vernetzt und voneinander abhängig. Die gegenseitigen Erwartungen und Bedürfnisse vermittelt und verhandelt die Politik. Dem Bildungssystem kommt die Aufgabe zu, die Individuen mit den grundlegenden Techniken und Wahrnehmungsmustern vertraut zu machen, die den ungehinderten Zugang und die Nutzung des gesellschaftlich verfügbaren Wissens und Könnens sicherstellen und die für eine aktive Teilnahme an der kulturellen Produktivität und Entwicklung der Gesellschaft nötig sind (Qualifikation) und die zugleich Voraussetzung sind für die individuelle Selbstverwirklichung (Bildung).
«Kompetenz» – eine neue Kontingenzformel
Aus systemtheoretischer Sicht hat Niklas Luhmann in seiner Analyse der sozialen Systeme das Konzept der ‚Kontingenz‘ eingeführt1. Er bezeichnet damit die Unsicherheit und Offenheit in der Verständigung über die zu erbringenden Leistungen der Teilsysteme für einander. Um diese Unsicherheit in der Verständigung über die möglichen Optionen und gegenseitigen Erwartungen der Teilsysteme aneinander zugleich einzugrenzen und für Alternativen offen zu halten, benutzen wir Verständigungsformeln. Luhmann nennt sie ‚Kontingenzformeln‘. So gilt etwa «Gerechtigkeit» als eine solche Kontingenzformel, welche die Leistungen des Rechtssystems einer Gesellschaft im gesellschaftlichen Diskurs über dessen Leistungen und Aufgaben orientierend reguliert. Für das Bildungssystem haben Niklas Luhmann und Karl-Eberhard Schorr neben den beiden älteren Formeln «humane Perfektion», «Bildung» und für die Moderne «Lernfähigkeit» (oder auch «Lernen-lernen», wie es von der OECD in ihren Bildungskonzepten propagiert wurde und wird) ausgemacht.(2) Solche Formeln dienen einer groben Ausrichtung und Fokussierung der zeitangemessener Erwartungen an die Leistungen des Bildungssystems. Die historische Abfolge, die nicht gleichzusetzen ist mit einer Ablösung der älteren Formeln durch die jeweils neueren, verweist auf Entwicklungslinien und Anpassungsleistungen im Gefüge der sozialen Systeme an je neue historische Herausforderungen und Möglichkeiten.
Als ‚Key-competences‘(3) hat die OECD die Erwartungen an die Leistungen der internationalen Bildungssysteme zur Ausstattung der Menschen zum Leben in den modernen Gesellschaften definiert. Ihre Beschreibung soll als Rahmen für eine nähere Bestimmung der Aufgaben der Bildungssysteme dienen. Die Verwendungsweise des Konzeptes entspricht wesentlich der von Kontingenzformeln. Ich schlage also vor, «Kompetenz» als Kontingenzformel für das Bildungssystem im Sinne der Konzeption von Niklas Luhmann zu verstehen und nicht als fachwissenschaftlichen Terminus mit festgelegtem Inhalt und bestimmter Reichweite seiner Bedeutung.
Wenn die Ziele der Schule nicht mehr gleichsam neutral als Lern- oder Bildungsziele, sondern als «Kompetenzen» beschrieben oder auch nur bezeichnet werden, verändert das auch das Verständnis von Schule und Unterricht.
Zum Bedeutungshof des Wortes Kompetenz
«Kompetenz» ist im wissenschaftlichen wie im schulpraktischen Diskurs über Ziele und Aufgaben von allgemeinbildenden Schulen ein relativ neues, aus anderen Verwendungszusammenhängen übertragenes Fremdwort. Das Wort taucht vermehrt seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts im Bildungsdiskursen auf. Es hat aber eine längere Verwendungsgeschichte in verschiedenen verwandten Anwendungsbereichen, in der Lern- und Kognitionspsychologie, in den Sprachwissenschaften, der pädagogischen Anthropologie, den Human Ressources, in den Rechtswissenschaften und natürlich auch in der Berufs- und Arbeitswelt. Diese Herkunfts- und Verwendungsgeschichte schlägt sich in einem weiten Bedeutungshof nieder, der als Konnotationen unser Verständnis des Wortes, die Gegenstände die es bezeichnet, einfärbt. Wenn die Ziele der Schule nicht mehr gleichsam neutral als Lern- oder Bildungsziele, sondern als «Kompetenzen» beschrieben oder auch nur bezeichnet werden, verändert das auch das Verständnis von Schule und Unterricht. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Streit um Kompetenzen in Lehrplänen der allgemeinbildenden Schulen so andauernd und grundsätzlich geführt wurde und wird.
Ich will im Folgenden aufzeigen, wie sich mit der neuen Verständigungsformel «Kompetenz» der Blick auf die Schule und die gesellschaftlichen Erwartungen an deren Leistungen verschiebt. Dazu werde ich auf die Herkunft und den bisherigen Gebrauch des Wortes «Kompetenz» verweisen.
Wie dort nicht alles, was ‚legal‘ ist, also gesetzeskonform, deshalb auch schon ‚legitim‘ also moralisch gerechtfertigt ist, so sind auch nicht alle, die über eine beanspruchte, erhaltene oder erworbene Zuständigkeit verfügen, sachlich fähig und persönlich und moralisch geeignet, in dem ihnen zugestandenen Bereich zu handeln, zu urteilen und zu entscheiden.
Die ursprüngliche Verwendung des Wortes ‚Kompetenz‘ ist politisch juristischer Art. Es bezeichnet eine sozial anerkannte Zuständigkeit oder Berechtigung, Handlungen, Urteile und Entscheidungen in bestimmten Regionen und Bereichen auszuführen, zu sprechen und zu treffen. Jemand hat die ‚Kompetenz‘, etwas zu tun, zu beurteilen oder zu entscheiden. Kompetenz bezeichnet also im Kern zunächst einen sozialen
Sachverhalt. Der Zuständigkeitsanspruch und seine soziale Anerkennung oder Zuteilung haben eine formal rechtliche und eine inhaltliche Dimension. Die formal rechtliche Dimension meint, dass jemand diese Berechtigung nach gesellschaftlich anerkannten Regeln zugesprochen erhalten oder erworben hat. Die inhaltliche Dimension meint, dass jemand über die Voraussetzungen verfügt, die sachlich, persönlich und moralisch nach herrschender Meinung erforderlich sind, um die entsprechenden Handlungen, Urteile und Entscheidungen sachgerecht, sozial verlässlich, verantwortungsvoll und moralisch gerechtfertigt ausführen bzw. treffen zu können, fähig und willens ist. Die Unterscheidung zwischen der formal rechtlichen Dimension qua anerkannte Zuständigkeit und der inhaltliche Dimension qua sachliche und persönliche Fähigkeit und Eignung ist vergleichbar mit der Unterscheidung zwischen ‚legal‘ und ‚legitim‘ im allgemeinen Rechtsverständnis. Wie dort nicht alles, was ‚legal‘ ist, also gesetzeskonform, deshalb auch schon ‚legitim‘ also moralisch gerechtfertigt ist, so sind auch nicht alle, die über eine beanspruchte, erhaltene oder erworbene Zuständigkeit verfügen, sachlich fähig und persönlich und moralisch geeignet, in dem ihnen zugestandenen Bereich zu handeln, zu urteilen und zu entscheiden. Diese beiden Dimensionen von Kompetenz können und müssen deshalb auch je für sich geklärt und entwickelt werden. Der innere logische und soziale Zusammenhang von sozialer Zuständigkeit und inhaltlicher Eignung und Fähigkeit gehört zum Bedeutungskern von «Kompetenz». Dies gilt insbesondere in meritokratisch sich verstehenden Leistungsgesellschaften. Hier verbinden sich sachliche Fähigkeit, personale Eignung und moralische Verantwortung eng mit dem individuellen Anspruch auf bereichsspezifische Zuständigkeit. Und umgekehrt sind sachliche Fähigkeit, personale Eignung und moralische Verantwortung konstitutive soziale Erwartungen an die Inhaberinnen und Inhaber von Zuständigkeitsbefugnissen. Ihr Fehlen ist zumindest intentional mit sozialen Sanktionen belegt.
Dieser innere soziale Zusammenhang von Zuständigkeit und Fähigkeit, bzw. Anspruch auf Zuständigkeit und Nachweis von Fähigkeit darf als wesentliche Grundlage der Akzeptanz und schnellen Verbreitung der Verständigungsformel «Kompetenz» im Bildungsbereich angesehen werden. Der Bildungsbereich nämlich ist der zentrale Ort, an dem der individuelle Erwerb eines solchen Anspruchs auf Zuständigkeit und der basalen Anerkennung des Anspruchs, wenn nicht tatsächlich erfolgt, so doch erwartungsgemäss vorentschieden wird.
Während in der beruflichen Ausbildung (Qualifikation) der Zusammenhang von Zuständigkeit und Fähigkeit den konstitutiven Kern ihrer Bildungsgänge ausmacht, deren Abschluss gleichbedeutend ist mit der sozialen Zuschreibung und Anerkennung von Zuständigkeit, gilt das nicht in der gleichen Weise für die schulische Allgemeine Bildung.
Qualifikation und «Kompetenz«
Nun unterscheiden sich berufliche und allgemeine Bildung traditionell gerade in der Bedeutung und Wertung dieses Zusammenhangs. Während in der beruflichen Ausbildung (Qualifikation) der Zusammenhang von Zuständigkeit und Fähigkeit den konstitutiven Kern ihrer Bildungsgänge ausmacht, deren Abschluss gleichbedeutend ist mit der sozialen Zuschreibung und Anerkennung von Zuständigkeit, gilt das nicht in der gleichen Weise für die schulische Allgemeine Bildung. Hier berechtigt der Abschluss eines Bildungsganges lediglich zum Zugang zu weiteren Bildungsgängen. Dass auch im Bereich der beruflichen Bildung eine sachbereichsspezifische Fähigkeit, Eignung und Verantwortungsbereitschaft mit dem Berufsabschluss noch keine vollständige Zuständigkeit verbunden war, drückt sich dadurch aus, dass hier traditionell von ‚Qualifikation‘ und nicht bereits von «Kompetenz» die Rede war. Qualifikation galt traditionell als Vorstufe oder als Voraussetzung von beruflicher Kompetenz, welche erst nach hinreichender beruflicher Erfahrung als erworben und anerkennbar galt.
Für die beruflichen Bildungsgänge liegt und lag es nahe, bereichsspezifische Fähigkeiten mit beruflichen Zuständigkeiten eng zu verknüpfen, wenn nicht gleichzusetzen. «Kompetenz» galt hier deshalb schnell auch als Chiffre eines sozialpolitisch und arbeitsrechtlich relevanten Anerkennungsversprechens beruflicher Qualifikation.
Die Verwendung von «Kompetenz» im allgemeinbildenden Bildungsbereich unterläuft diese Sonderstellung der beruflichen Bildung. Sie bringt dem Bereich und seinen Absolventen einen Zugewinn an sozialer Anerkennung als Vorstufe lebenspraktischer und beruflicher «Kompetenz». Darin liegen unter anderem Attraktivität und Leistung der Kompetenzformel «Kompetenz», dass sie die Bildungsbereiche beruflicher und allgemeiner Bildung bildungspolitisch näher zusammenrücken lässt.
«Kompetenz» als humane Disposition
Weitgehend fach-, berufs- und tätigkeitsfeldunabhängig wird «Kompetenz» zunächst im Kontext anthropologischer und psychologischer Theorien, Forschungen und Diskussionen verstanden und verwendet. Zu diesem Verwendungs- und Bedeutungsinn gehören die wissenschaftlichen Anstrengungen, ‚Intelligenz‘ als eine inhaltlich weitgehend unspezifische kognitive Urteils- und Problemlösungsfähigkeit zu beschreiben. ‚Intelligenz‘ gilt so als die zentrale und manche andere Fähigkeiten und deren Verständnis mitbestimmende Grundkompetenz. Sie wurde gleichsam zur Referenzkompetenz für die soziale Zuteilung und Anerkennung von Zuständigkeiten und Fähigkeiten jedweder Art.
Wesentlicher Bestandteil des Konzeptes von ‚Intelligenz‘ ist, dass sie als eine genetisch präformierte, wenn auch entwickelbare Disposition verstanden wird.
Auch wo von ‚Sprachkompetenz‘ die Rede ist, wird mit «Kompetenz» eine grundlegende menschliche Fähigkeit bezeichnet. Der Begriff wurde vom amerikanischen Sprachforscher Noam Chomsky geprägt. Chomsky versteht unter Sprachkompetenz gerade nicht eine erlernbare Fähigkeit des Sprechens und Redens, sondern eine angeborene Disposition der menschlichen Spezies, sprechen zu können und Sprachen zu lernen. «Kompetenz» im Sinne von Chomsky ist deshalb nicht etwas schulisch zu Erwerbendes, sondern allenfalls schulisch zu Entwickelndes und Förderndes oder zu Kultivierendes, dessen Steigerung und Reife sich in einer performativen Versatilität des Sprachgebrauchs und der Sprachmächtigkeit der Individuen ausweist. «Kompetenz» meint damit also eine anthropologische Grundausstattung.
«Kompetenz» als psychometrisches Konstrukt
Das Konstrukt von ‚Intelligenz‘ als einer allgemeinen, alle Fähigkeiten des Menschen grundierenden und bestimmenden Fähigkeit erhält mit dem schulemachenden Aufsatz von McClelland in American Psychology aus dem Jahre 1973 eine neue, vor allem psychometrisch bedeutsame Wendung.4 McClelland plädiert für eine Abkehr von einem umfassenden und allgemeinen Intelligenzbegriff hin zu einem bereichsspezifischen Fähigkeitskonzept. McClelland rückte den Intelligenzbegriff näher an gesellschaftliche Tätigkeits- und Berufsfelder heran und hat dabei jene soziale Anerkennung im Blick, welche die formal rechtliche Dimension des Kompetenzkonzeptes ausmacht.5 Sein Konzept wurde deshalb nicht zufällig zur Grundlage für die in der Arbeits- und Berufswelt zentrale Frage der Auswahl und Entwicklung des betrieblich geeigneten und erforderlichen Personals in den Human Ressources. Über diese Linie wird der Bedeutungshof von «Kompetenz» eng verbunden mit dem der empirisch psychometrischen Bestimmung von Intelligenz. Daraus leitet sich der Anspruch ab, «Kompetenzen» als messbare Konstrukte zu beschreiben.
Der Unterschied wird terminologisch auch mit dem Begriffspaar ‚Kompetenz‘ und ‚Performanz‘ zum Ausdruck gebracht. ‚Performanz‘ bezeichnet dann den Akt und die Perfektion im Gebrauch einer «Kompetenz».
Pädagogische Kompetenzentwicklung
Als anthropologisch gegebene Dispositionen, fach-, berufs- und tätigkeitsfeldunabhängige «Kompetenzen» rezipiert die Schulpädagogik den Kompetenzbegriff zunächst.
Heinrich Roth nimmt ihn in seiner pädagogischen Anthropologie auf. Er bestimmt damit das oberste Bildungsziel, die ‚Mündigkeit‘, näher8. Seine im deutschen Sprachbereich schulemachende Trias „Sach-, Selbst und Sozialkompetenz“ meinte die Entwicklung und pädagogische Förderung humaner Dispositionen bzw. Bestimmungen.
Sie (die Kompetenzen) curricular in einzelne Aktivitäten zu zerlegen, ist Ausdruck eines elementaren Missverständnisses.
Der Bedeutungskern dieser Verwendung ist keineswegs der Erwerb solcher «Kompetenzen», sondern ihre Entwicklung und Perfektion. ‚Humane Kompetenz‘ erwirbt man nicht, man hat sie, wie die Sprachkompetenz, und entwickelt und kultiviert sie oder eben auch nicht. Der Unterschied wird terminologisch auch mit dem Begriffspaar ‚Kompetenz‘ und ‚Performanz‘ zum Ausdruck gebracht. ‚Performanz‘ bezeichnet dann den Akt und die Perfektion im Gebrauch einer «Kompetenz». Diese essentielle Differenz zwischen der Entwicklung von «Kompetenzen» und dem Erwerb von «Kompetenzen» führt insbesondere bei der Beschreibung und Formulierung der Aufgaben und Ziele schulischer Bildung zu störenden und irritierenden Missverständnissen. Das hängt damit zusammen, dass die Entwicklung sozialer, sachlicher und selbstbezogener «Kompetenzen» thematisch nicht analog in Sachanforderungen, Sozialaufgaben oder Selbstbestimmungsaufgaben zerlegbar sind. Sie sind allemal integraler Bestandteil jedweder schulischer Herausforderungen oder Zumutungen. Sie curricular in einzelne Aktivitäten zu zerlegen, ist Ausdruck eines elementaren Missverständnisses.
«Kompetenz» als Lebenstüchtigkeit
Die OECD lancierte in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Programm zur Entwicklung eines “overarching conceptual framework based on broad theories of what skills, knowledge, and competences are and how they relate to each other”10. Angestossen wurde das Projekt “from the business sector and from employers”, welche dann “knowledge, skills, and competencies” auch aus einer breiteren sozialen Perspektive betrachtet über den ökonomischen Bereich hinaus bedeutsam erscheinen lassen sollten: „They contribute to increasing individual participation in democratic institutions; social cohesion and justice; and strengthening human rights and autonomy as counterweights to increasing global inequality of opportunities and increasing individual marginalization.”
Das OECD Konzept von „Kompetenz“ ist konzipiert für „beyond schools“. Man kann dieses Verständnis von Kompetenzen im weitesten Sinn auch als Umschreibung von „Lebenstüchtigkeit“ verstehen. Es kommt damit recht nahe an das Konzept, welches Wolfgang Brezinka in Anlehnung an den griechischen Begriff ‚αρετη‘ als zentrales Erziehungsziel analysiert und beschrieben hat.(11)
Als theoretische Basis für die Formulierung solcher lebenspraktischer Fähigkeiten hat der Entwicklungspsychologe Franz E. Weinert im Auftrag der OECD seine Beschreibung und Definition von Kompetenz entwickelt, die dann auch Eingang in die schulischen Kompetenzkonzepte gefunden hat.
„Die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“ 12
Darauf beziehen sich auch die Autoren der Expertise „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“(13) und desgleichen die Verfasser des Lehrplans 21.(14)
Bei der praktischen Anwendung und Umsetzung des Konzeptes in Lehrplänen der allgemeinbildenden Schulen kommt es zu zwei bemerkenswerten Bedeutungsverschiebungen. Beschrieben werden hier primär kognitive Fähigkeiten15, auch handelt es sich zwar um erlernbare, aber nicht primär in der Schule erlernbare und auch nicht unbedingt lehrbare Fähigkeiten, die hier Weinert im Blick hat. Das gälte es zu berücksichtigen, wenn es um die Nutzung des Konzeptes für eine nähere Bestimmung der Lernanforderungen für die allgemeinbildenden Schulen geht.
Von «Bildung» und «Lernfähigkeit» zu «Kompetenz»
Im Horizont dieser Verwendungsgeschichte von «Kompetenz» ist eine deutliche Akzentverschiebung im Blick auf die gesellschaftlichen Erwartungen an das Bildungssystem erkennbar. Diese Verschiebung zeigt sich insbesondere auch, wenn man sie mit dem Bedeutungshof der vorangegangenen Verständigungsformeln «Bildung» und «Lernfähigkeit» vergleicht. Es sind im Wesentlichen drei Akzente, welche mit der Verständigungsformel «Kompetenz» neu gesetzt bzw. verstärkt werden: (1) Von der Schule werden neu primär Qualifizierungsleistungen erwartet, (2) diese erwarteten Ergebnisse werden nach ihrer Nützlichkeit und Brauchbarkeit gewichtet und (3) die Leistungen sollen nachweisbar und vergleichbar erbracht werden. Ausdruck wie Verstärkung dieser neuen Fokussierung sind die aktuell dominanten Themen des öffentlichen Schuldiskurses. Dieser kreist um Bildung als Quelle von Wohlstand, als Investition in das ‚Human Capital‘, als Fachkräftemangel, MINT-Bnerufe, Stärkung der beruflichen Bildung gegen eine allgemeine, als akademisch qualifizierte Bildung. ‚Employability‘ und die Integration der Schulabgängerinnen und -abgänger in den Arbeitsmarkt wird als zentrales Qualitätsmerkmal von Bildungssystemen gehandelt. An der Zentralität des Ökonomischen als Brennpunkt der Verständigungsformel «Kompetenz» ändert auch nicht die oben angezeigte Ausweitung des OECD Konzeptes. Sie zeigt sich auch darin, was bloss nachrangig diskutiert wird. Was nicht oder kaum mehr vorkommt, ist ‚Bildung als Bürgerrecht‘, ‚Bildung als Volksbefreiung‘ und ‚individuelle Selbstbestimmung‘, als Ausgang des Menschen aus seiner ‚selbstverschuldeten Unmündigkeit‘. Bildung als Prozess der Weltaneignung und Selbsterfahrung, das Wachsen im Scheitern, der höhere Nutzen des Nutzlosen und der Wert des Umweges, des Stillstands und Rückschritts, bleiben ausgeblendet. Damit einher geht ein Ansehensverlust von kulturellen Gütern und Traditionen im pädagogischen Bereich, eine verstärkte Diskussion um den Wert geisteswissenschaftlicher Disziplinen und einer Begrenzung bzw. einer Lenkung des Zugangs zu deren Studium. Die international propagierte ‚evidence based educational policy‘ setzt ganz auf eine statistische Vermessung von Bildungserfolg. Das Bildungsmonitoring, welches zwangsläufig mit statistischen Deskriptionen und randomisierten Datensätzen operiert, wird zum Leitstern der Bildungspolitik. Das alles ist ja nicht falsch, aber die Dominanz zeigt doch eine klare Verschiebung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf schulische Bildung auf Kosten – so paradox es angesichts der propagierten Individualisierung und Selbststeuerung des Lernens auch scheinen mag – der individuellen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, ihrer Besonderheiten und der nicht standardisierbaren Ereignishaftigkeit und Bedeutung pädagogischer Interaktionen und ihrer nie voll kalkulierbaren Wirkungen.
Missbrauch und Überinterpretation von Kontingenzformeln
Kontingenzformeln sind auf relativ hohem Abstraktionsgrad gehalten. Sie sind nicht inhaltsleer, aber vieldeutig und vielseitig anschlussfähig und zugleich wandelbar. Ihre operative Konkretisierung und Ausdifferenzierung erfolgt im Bildungsbereich in Lehrplänen. Luhmann und Schorr haben diese als „Respezifikation“ von Kontingenzformeln beschrieben. Um diese geht es hier nicht, sondern um deren rhetorisch diskursiven Gehalt im gesellschaftlichten Schuldiskurs. Sie beschreiben keine Sachverhalte, bündeln Erwartungen und Interessen, Hoffnungen und Befürchtungen. Es handelt sich dabei nicht um Fachtermini mit festumrissenen Bedeutungsinhalt und -umfang. Verständigungsformeln haben es an sich, dass sie in ihrem Gehalt, ihrer Wirkung und Gewichtung unterschiedlich wahrgenommen und gedeutet werden. Ihre Auslegung ist deshalb heikel und ideologieanfällig, aber sie sind in ihren Deutungen doch ein substantieller Teil der Bildungswirklichkeit und der Bildungspolitik.(16) Als „Erwartungsmanagement“ ist letztere deshalb auch schon charakterisiert worden.(17 Die skizzierte Begriffsgeschichte gibt den schul- und bildungspolitischen Gehalt der Formeln nicht eindeutig vor. Erst im Umfeld aktueller Problemlagen und Diskursthemen erhalten sie ihre richtungsweisende Zuspitzung und werden bildungspolitisch wirkungsmächtig.
Wo ihre Verwendung im öffentlichen Schul- und Bildungsdiskurs auf ihre sozial mobilisierende Kraft reduziert wird, werden Verständigungsformeln zu pädagogisch politischen Slogans. Die Etymologie des gälischen Wortes ‘Slogan‘ sagt uns, dass es sich dabei ursprünglich um den Aufruf eines Clans handelte, sich zu versammeln, etwa in Zeiten der Bedrohung oder einer beabsichtigten Expansion. Der britische Erziehungswissenschaftler Israel Scheffler hat das für die Pädagogik so formuliert:
„Slogans in der Pädagogik stellen Symbole dar, um die sich die wichtigsten Gedanken und Haltungen von pädagogischen Bewegungen gruppieren. Sie geben einer gemeinsamen Geisteshaltung Ausdruck und sie pflegen diese Geisteshaltung. Zugleich ziehen sie neue Anhänger an und geben den alten Anhängern Trost und Kraft.“ (18)
In dieser Reduktion werden Verständigungsformeln zum vergemeinschaftenden Schibboleth im Kampf ihrer Durchsetzung. Mit ihrem massenhaften Gebrauch und ihrer eine grosse Zahl verschiedener Themen und Situationen zusammenraffenden und banalisierenden Verwendung gewinnen diese Formeln politische Schärfe und Eindeutigkeit, welche die Komplexität der Sachverhalte und der angelegten Bearbeitung immer weiter zuschüttet. Kurz, sie werden inhaltlich leer und ohne Erklärungswert, aber politisch scharf. Solche Slogans haben in der Pädagogik eine lange Tradition. Sie sind ein Kennzeichen pädagogischer Bewegung, wie vor Jahren die Curriculumbewegung und die Antipädagogik oder früher die reformpädagogische Bewegung, die Bewegung der Arbeitsschule, der Lebensgemeinschaften, der Kunsterzieher und viele andere. Dass die pädagogische Bewegung der „Kompetenzorientierung“ zurzeit sehr erfolgreich ist, belegt die Verbreitung des Slogans. Von den 27 EU-Ländern verwenden 22 den Begriff «Kompetenzen» (und verwandte) als primäre Bezeichnung für die erwarteten Lernergebnisse. Praktisch alle laufenden schulpolitischen Initiativen und Reformen in Europa laufen unter der Flagge von Kompetenzen, von Schlüsselkompetenzen und Grundkompetenzen oder Bildungsstandards. Und sie betreffen die Strukturen und Steuerungssysteme gleichermassen wie die Inhalte, die Lehr – und Lernformen ebenso wie Evaluations- und Kontrollmechanismen. Es wäre bildungspolitisch naiv, die schulpraktischen Wirkungen solcher Slogans zu unterschätzen.
1 N. Luhmann (41991). Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt: Suhrkamp (stw).
2 N. Luhmann, K.-E. Schorr (1988). Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt: Suhrkamp (stw). Seiten 58ff. In Auseinandersetzung mit Luhmann hat Norbert Meder vorgeschlagen, statt «Lernfähigkeit» «Bildsamkeit» als sachangemesseneren Begriff zu verwenden. Meder, N. (2007). Kontingenz im pädagogischen Handlungszusammenhang. Eine Auseinandersetzung mit Luhmanns Systemtheorie – In: Der pädagogische Blick 15 (2007) 3, S. 168-177. Eine schon ältere Ausdifferenzierung und Spezifizierung des Konzepts der «Lernfähigkeit» hat u.a. H.-E. Tenorth in seiner Explikation eines erneuerten Verständnisses von „Allgemeinbildung“ vorgelegt: Tenorth, H.-E. (1994). „Alle alles zu lehren“ Möglichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung. Darmstadt: WBG
3 Siehe unten Abschnitt „«Kompetenz» als Lebenstüchtigkeit“
4 McClelland , D. (1973). Testing for competence rather than for “intelligence”. In. American Psychologist. 1-14. https://www.therapiebreve.be/documents/mcclelland-1973.pdf (Aufgerufen 5. Juni 2016)
5 McClellands Vorschlag meint nicht jene theoretische Ausdifferenzierung von verschiedenen Dimensionen von Intelligenz, wie sie Howard Gardner vorgeschlagen und entwickelt hat. Gardner hat ‚Intelligenz‘ als ein komplexes Konstrukt multipler Intelligenzen (linguistische, musikalische, logisch-mathematische, räumliche, körperlich-kinästhetische, personale) verstanden und zerlegt. Gardner, H. (2002). Intelligenzen. Die Vielfalt des menschlichen Geistes. Stuttgart: Klett-Cotta (engl. Original (1999). Intelligence Reframed. NewYork: Basic Books).
6 Vgl. Erpenbeck, J. (Hrsg.) (20072). Handbuch der Kompetenzmessung. Erkennen, verstehen und bewerten von Kompetenzen in der betrieblichen, pädagogischen und psychologischen Praxis. Stuttgart: Schäffer-Poeschel.
7 Vgl. dazu z. B. Grunert, C. (2012).Bildung und Kompetenz. Theoretische und empirische Perspektiven auf ausserschulische Handlungsfelder. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Schrittesser, I. (2013). Kompetenzorientierung: einige Überlegungen zu Trends in der Curriculumentwicklung Vortrag gehalten in Klagenfurt am 24.9.2013 http://homepage.univie.ac.at/ilse.schrittesser/c/uploads/Schrittesser-Kompetenzorientierung.pdf (Aufgerufen 5.Juni 2016)
8 Roth, H. (19712). Pädagogische Anthropologie. Bd. 2. Hannover: Schroedel, S. 180f.
9 Vgl. Chr. Türcke (2016). Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet. München: Beck, S. 19ff.
10 OECD. Definition and Selection of Competencies (DeSeCo). Definition und Auswahl von Schlüsselkompetenzen. Zusammenfassung. http://www.oecd.org/edu/skills-beyond-school/definitionandselectionofcompetenciesdeseco.htm (Aufgerufen 5. Juni 2016).
11 Brezinka, W. (1987). Tüchtigkeit. Analyse und Bewertung eines Erziehungszieles. München, Basel: Reinhardt.
12 Weinert, F. E. (2001). Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit (2001). In: Drs., Leistungsmessung in Schulen. S. 17 – 31, Weinheim und Basel: Beltz
13 Klieme et al. (2003).
14 „Die Orientierung an Kompetenzen im Lehrplan 21 basiert u.a. auf den Ausführungen von Franz E. Weinert“ LP 21. Einführung. S. 3. http://konsultation.lehrplan-21.ch/downloads/container/30_102_0_1_0.pdf (Aufgerufen 5. Juni 2016)
15 So hat auch das DFG-Schwerpunktprogramm ‚Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen‘, welches als forschungsfundierte Begleitung seiner Einführung 2007 gestartet wurde, aus forschungsmethodischen Gründen sich auf die kognitiven Dimensionen des Konzeptes von Weinert beschränkt. http://kompetenzmodelle.dipf.de
16 Vgl. dazu z. B. Oelkers, J. (2016) . Wie versteht die Öffentlichkeit die Kompetenzorientierung der Volksschule? Vortrag am 15. Januar 2016 in der Pädagogischen Hochschule Luzern. www.ife.uzh.ch/dam/jcr:03a958be-0d5d…/Luzern_Lehrplan_21.pdf (Aufgerufen 5. Juni 2016)
17 Hopman, St. (2006). Im Durchschnitt PISA und alles bleibt schlechter. In. Lucien Criblez u.a. (Hrsg.). Lehrpläne und Bildungsstandards. Was Schülerinnen und Schüler lernen sollen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Rudolf Künzli. (149-172, 156) Bern: hep.
Aarau, im Mai 2016, durchgesehene, leicht überarbeitete Fassung Frühjahr 2017 kuenzli.rudolf@bluewin.ch
Veröffentlicht unter www.lehrplanforschung.ch
Nur intern und nicht zur Veröffentlichung: Seltsamerweise kamen die alten und hocheffizienten Lehrpläne ganz ohne all diese akademischen Begrifflichkeiten aus. Siehe dazu meine Video ”Eine kleine Nachlese”.
Der Magister Ludi bleibt der Magister Ludi und eine synoptische Sicht ist erst nach dem Erlernen der einzelnen Disziplinen möglich. Humboldt mit seinem tiefen Wissen über die Natur des Menschen kam nicht umsonst auf das Lob der einzelnen Disziplinen. Schlimm, daß für Lehrplanforschung eine eigene Professur eingerichtet wurde. Mir half der Text nicht weiter.