6. Oktober 2024

Wissens- versus Kompetenzorientierung – eine unselige Polarisierung

Franz Eberle ist eine wichtige Persönlichkeit im gegenwärtigen bildungspolitischen Diskurs. Er ist Mitglied der Schweizerischen Maturitätskommission, des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR und der Rekurskommission der EDK und der GDK. In seinem Beitrag kritisiert er die Ideologisierung der Diskussion um die Kompetenzorientierung. Ein zukunftsgerichteter Lehrplan kommt seiner Meinung nach nicht ohne kompetenzorientierte Bildung aus.

Franz Eberle ist emeritierter Professor für Gymnasial- und Wirtschaftspädagogik an der Universität Zürich: keinen Gegensatz zur Wissens- und Fachorientierung.

Die Kompetenzorientierung in der Schule steht spätestens seit Einführung des Lehrplans 21 im Sperrfeuer der Kritik. Der Streit um die Kompetenzorientierung hat nun auch das Gymnasium erreicht, derzeit im Zusammenhang mit der Maturitätsreform «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» (WEGM). Sind all die Kritiken und Ängste richtig und berechtigt?

Die Antwort ist Nein, denn die befürchteten Fehlentwicklungen resultieren keineswegs zwingend. Voraussetzung ist ein wissenschaftlich korrektes Verständnis des Begriffs Kompetenzen. Gemäss dem Psychologen Johannes Hartig und dem Erziehungswissenschafter Eckhard Klieme sind Kompetenzen Dispositionen, welche die Bewältigung unterschiedlicher Aufgaben bzw. Lebenssituationen ermöglichen: «Sie umfassen Wissen und kognitive Fähigkeiten, Komponenten der Selbstregulation und sozial-kommunikative Fähigkeiten wie auch motivationale Orientierungen.»

Gegen die «Bewältigung von unterschiedlichen Aufgaben bzw. Lebenssituationen» als Hauptaufgabe schulischer Bildung kann wohl niemand sein. In der Bildungspraxis haben sich die folgenden Begrifflichkeiten durchgesetzt (nach Heinrich Roth): Sachkompetenzen (fachliche und methodische), Selbstkompetenzen (persönlichkeitsbezogene) und Sozialkompetenzen (sozial-kommunikative) als jene Teilbereiche von Kompetenzen, die bei der Bewältigung von Aufgaben bzw. Lebenssituationen zusammenspielen.

Die Pädagogische Psychologie unterscheidet zudem innerhalb dieser Teilbereiche zwischen kognitiven und nichtkognitiven Kompetenzen (z. B. Motivationen und Werthaltungen). Die Verknüpfung von Wissen und Können dient meist als Kurzbeschreibung des Begriffs Kompetenz. Sie muss noch mit dem Wollen ergänzt werden. Diese Bestandteile des Kompetenzbegriffs überschneiden sich und stehen im Hinblick auf die Bewältigung von Aufgaben bzw. Lebenssituationen in einem komplexen wechselseitigen Verhältnis. Auf der Grundlage des dargelegten Kompetenzbegriffs ergeben sich nun für den gymnasialen Rahmenlehrplan (RLP) im Hinblick auf das Ausräumen der Befürchtungen vier entscheidende Folgerungen.

Allgemeine Studierfähigkeit und vertiefte Gesellschaftsreife erfordern vor allem viel Sachwissen aus einer breiten Zahl von Fächern.

Erstens: Die «unterschiedlichen Aufgaben und Lebenssituationen» sind nicht irgendwelche. Für das Gymnasium sind es gemäss Bildungszielartikel des MAR/MAV (Maturitätsanerkennungsreglements /-verordnung) die künftige erfolgreiche Bewältigung eines Studiums (allgemeine Studierfähigkeit oder -kompetenz) und die Kompetenz, künftig einen verantwortungsvollen Beitrag zur Lösung anspruchsvoller Aufgaben in der Gesellschaft zu leisten (im Sinne einer vertieften Gesellschaftsreife).

Zweitens: Die Bewältigung von bestimmten Aufgaben und Situationen erfordert ganz bestimmte, auf diese Aufgaben und Situationen ausgerichtete Sach-, Selbst- und Sozialkompetenzen, die keineswegs beliebig sind. Allgemeine Studierfähigkeit und vertiefte Gesellschaftsreife erfordern vor allem viel Sachwissen aus einer breiten Zahl von Fächern. In der Lehrplanarbeit muss analysiert werden, welches Wissen und Können in den verschiedenen Fächern Voraussetzung für die allgemeine Studierfähigkeit und die Bewältigung anspruchsvoller Aufgaben in der Gesellschaft ist.

Im Gymnasium erfolgt die Förderung richtigerweise in Fächern, die sich an der Gliederung der universitären Fachwissenschaften orientieren.

Drittens: In welchen Unterrichtsgefässen die Kompetenzen vermittelt werden, ist eine nachgelagerte Frage. Im Gymnasium erfolgt die Förderung richtigerweise in Fächern, die sich an der Gliederung der universitären Fachwissenschaften orientieren. Andere, vor allem berufliche Bildungsgänge orientieren sich primär an praktischen Kompetenzfeldern oder wichtigen Themen.

Die Fächergliederung bewirkt häufig, dass die Maturitätslernenden in «Fachschubladen» denken

Viertens: Das Prinzip des Fachunterrichts am Gymnasium hat – neben klar überwiegenden Vorteilen – auch Nachteile: Viele anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft lassen sich nicht nur aus der Perspektive eines einzelnen Faches lösen. Es braucht Wissen und Können aus verschiedenen Fächern, interdisziplinäre Verbindungen zwischen den Fächern und fachergänzende Kompetenzen.

Die Fächergliederung bewirkt aber häufig, dass die Maturitätslernenden in «Fachschubladen» denken und diese Verbindungen nicht machen. Deshalb kommt nun eine zweite Ebene ins Spiel – es handelt sich um die transversalen Bildungsbereiche, die sich aus mehr als einem Fach speisen, damit quer zu den Fächern stehen und um die sich die Unterrichtsfächer nicht nur einzeln, sondern auch koordiniert kümmern müssen.

Im neuen gymnasialen Rahmenlehrplan (RLP) sollen es die folgenden Bereiche sein: überfachliche Kompetenzen; basale fachliche Kompetenzen für Allgemeine Studierfähigkeit; Digitalität; überfachliche Wissenschaftspropädeutik; Interdisziplinarität allgemein; politische Bildung und Bildung für Nachhaltigkeit als besonders wichtige interdisziplinäre Lernfelder.

Eine gut umgesetzte Kompetenzorientierung am Gymnasium bedeutet somit keineswegs inhaltsbeliebige Bildung. Sie bildet keinen Gegensatz zur Wissens- und Fachorientierung, sondern erhöht die Bildungsqualität des Lernens in den Fächern. Sie bedingt auch keineswegs Messbarkeit und Kontrollierbarkeit des Outputs und sie führt nicht zwangsweise zu einem überfrachteten Lehrplan und einer Fülle kleinräumiger Lernziele.

Franz Eberle ist emeritierter Professor für Gymnasial- und Wirtschaftspädagogik an der Universität Zürich. Der Artikel wurde zuerst auf der Meinungsseite der NZZ veröffentlicht und erscheint mit freundlicher Genehmigung des Verlags und des Autors.

 

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3 Kommentare

  1. Ich habe den Erwerb von Wissen und Kompetenz in meiner Flugausbildung erfahren. Als Spätberufener erwarb ich meinen Segelfluschein mit 57. Seit etwa 8 Jahren fliege ich auch mit Passagieren.
    Im Theorieunterricht wurde viel Wissen verarbeitet. Doch erst in der praktischen Anwendung erfährt dieses Wissen greifbaren Wert. Ist dann noch ein Passagier auf dem hinteren Sitz, kommt ein weiteres Element, nämlich das der erweiterten Verantwortung, hinzu.
    Ergo reicht büffeln alleine nicht – die Anwendung des Gelernten erfüllt. So einfach ist das.

  2. Franz Eberle beansprucht für seine Ausführungen Ideologiefreiheit. Er unterstellt, Kritiker des kompetenzorientierten Lehrplans verstünden den Begriff «Kompetenz» nicht richtig. Er findet, Kompetenzen seien auch im gymnasialen Lehrplan wünschbar zur Aktualisierung der Vorbereitung auf die Studierfähigkeit. Hat er Recht?
    Seinen Ausführungen muss in verschiedener Hinsicht widersprochen werden.

    1. Der psychologische Begriff der «Dispositionen», welche die Lösung von Problemen ermöglichen sollen, stammt ursprünglich aus der Intelligenzforschung und meint die kognitiven Anlagen, die Menschen im Zusammentreffen mit ihrer Lebensumwelt entwickeln. Kompetenz bezieht sich auf Dispositionen, die im schulischen Unterricht erworben werden können. Eine Trennung zwischen Fähigkeiten, die der Intelligenz und dem Schulunterricht geschuldet sind, ist schwierig: «Tatsächlich sind die empirischen Zusammenhänge zwischen Kompetenz- und Intelligenzmassen … recht hoch.» (1)

    2. Hartig und Klieme, auf deren Definition der schulische Kompetenzbegriff beruht, fassen Kompetenz deshalb enger, als Eberle wahrhaben will. Für sie sind Kompetenzen (2):
    1. begrenzt auf «Spezialisierte Systeme von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die notwendig oder hinreichend sind, um ein spezifisches Ziel zu erreichen.»,
    2. im Gegensatz zur vorbestehenden Intelligenz «prinzipiell erlernbare, mehr oder minder bereichsspezifische Kenntnisse, Fertigkeiten und Strategien»,
    3. in Teilkompetenzen gegliederte «nach den Inhalten der interessierenden Situationen, der relevanten Aufgaben und den zur Lösung dieser Aufgaben zu bewältigenden Anforderungen.»
    Daraus folgt, dass die von Eberle erwähnten motivationalen und volitionalen Elemente im schulischen Konzeptbegriff nicht erfasst sind. Mit gutem Grund, denn sie entziehen sich der Messbarkeit. Eberle formuliert also Kompetenz klar anders als die pädagogische Psychologie, wenn er ihn viel weiter fasst.

    3. Eberle erklärt, das gymnasiale Bildungsziel sei nicht «beliebig», sondern auf die «Studierfähigkeit» ausgerichtet. Wissen und Können müssten breitgefächert genug sein, um ein Studium zu ermöglichen. Da stellt sich die Frage, was daran neu sei. Studierfähigkeit ist seit je das Ziel des Gymnasiums. Wenn das Gymnasium nun daran geht, in Teilkompetenzen auseinanderzudividieren, was Studierfähigkeit in den einzelnen Fächern und fächerübergreifend eigentlich genau beinhaltet, darf man sich auf gewaltige Schwaden heisser Luft nach dem Modell des Lehrplans 21 gefasst machen. Insbesondere dann, wenn zu den abstrakten Leistungsdispositionen noch die motivationalen und volitionalen Dispositionen treten sollen. Die Zerstückelung der Bildung in Einzelhäppchen, ob fachliche oder fächerübergreifende, ist jedoch der beste Weg zur Verhinderung von Studierfähigkeit, denn dort ist ganzheitliches Denken und Verstehen gefordert.

    4. Die Hauptkritik des Bildungsbegriffes auf der Grundlage von Kompetenzen kann Eberle nicht entkräften. Ja, er bestätigt die Kritiker in seiner Argumentation geradezu. Die Kritik besteht darin, dass die Bildung junger Menschen in Eberles Gymnasialprogramm von Anfang an verzweckt wird. Lernwürdig ist nur, was direkt auf das Ziel «Vorbereitung auf das Studium» ausgerichtet werden kann. Damit werden Gymnasiastinnen und Gymnasiasten zu «tools» (Noam Chomsky)(3), zu Werkzeugen, deren Entwicklung von aussen auf Nützlichkeit und Brauchbarkeit getrimmt werden soll.

    5. Das erste Ziel von Bildung müsste jedoch die vom Individuum her gedachte möglichst kohärente Förderung und Entwicklung der eigenen Anlagen sein. Nützlichkeit und Brauchbarkeit für Berufsausbildung, Studium und Lebensgestaltung können sich erst daraus ergeben. Ein demokratisches Bildungsverständnis ermöglicht den Menschen, selbst zu entscheiden, was sie mit dem erworbenen Wissen und Können tun wollen. Dieses Verständnis von Bildung rechtfertigt und bedingt ein breites Fächerangebot, das auch das gestalterische Feld einschliesst. Die prioritäre Einengung auf Kompetenzen hingegen blendet den ganzen Kennenlern-, Verstehens- und Lernprozess aus, der nötig ist, um Neues zu erfahren, sich zu begeistern, Dinge kognitiv zu verarbeiten und sich eigene Ziele zu setzen. Für Eberle reicht es, wenn die Maturi und Maturae im Sinne der Aufgabenbewältigung an der Universität «funktionieren» können.

    1 Johannes Hartig, Eckhard Klieme, Kompetenz und Kompetenzdiagnostik in: Karl Schweizer Leistung und Leistungsdiagnostik, Heidelberg 2006, S.131

    2 ebd. S. 128ff.

    3 Noam Chomsky, On Education, Vortrag, http://www.youtube.com/watch?v=2p9aKa08cRI

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