4. November 2024

Persönlichkeitstypen in der Bildungspolitik

Anlässlich der Landratssitzung vom 9. Februar 2023 wurde über die Motion von Anita Biedert, SVP, «Verzicht auf Französischunterricht an der Primarschule» debattiert. Die Motionärin erläuterte ihr Anliegen argumentativ fundiert, taktisch geschickt und zugleich sympathisch unterhaltsam. Anhand der zahlreichen Wortmeldungen der BefürworterInnen und GegnerInnen von Frühfranzösisch lassen sich mit ausschliesslichem Bezug auf die erwähnte Debatte fünf Politikertypen herausschälen.

«Die Leute haben zwar meist keine Ahnung, dafür aber in der Regel eine ganz dezidierte Meinung.»

1. Roman Brunner, SP

Er gehört bei diesem Sachgeschäft zum reflexgesteuerten Politikertypus. Und wie das bei Reflexen so ist, geht der Impuls nicht vom Gross-, sondern vom Kleinhirn aus. Dies ist bei Brunner jeweils der  Fall, wenn er «Starke Schule» hört. Dann kommt losgelöst von der Sache, ein kategorisches NEIN!

Der Hintergrund dieses Reflexes besteht darin, dass die «Starke Schule» den ehemaligen SP-Bildungsdirektor Urs Wüthrich zu Fall brachte, indem sie vor acht Jahren die FDP-Frau Monica Gschwind in den Regierungsrat hievte. Jenen Sturz und den damit einhergehenden Stopp einiger von Wüthrich eingeleiteter Schulreformen kann die alte Garde der SP bis heute nicht verwinden. Dies umso mehr, als dass die «Starke Schule» in der Bildungspolitik äusserst erfolgreich agiert. Es gibt jedoch insbesondere in der Jungmannschaft dieser Partei auch Akteure, die jenem Reflex nicht unterliegen. So haben Jan Kirchmayr und zwei weitere SP-Leute Wesentliches zur Beförderung von Biederts Vorstoss beigetragen.

Brunner argumentiert zu Recht mit der Bedeutung von Französisch als zweite Landessprache und der Nähe des Baselbiets zu Frankreich und dem Jura. Doch entpuppt sich seine Argumentation als reine Rhetorik, die an der Wirklichkeit des Französischunterrichts auf der Primarstufe zerschellt:


Lernziele Passepartout A2.1

Leseverstehen
32.8%

Hörverstehen
57%

Sprechen
10.8%

Quelle: Schlussbericht zum Projekt‚ Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen, S. 88

Französischsprachige Gebiete und das Baselbiet können noch so nahe beieinanderliegen. Mit solch schlechten Leistungen insbesondere beim Sprechen ist ein Austausch zwischen Deutschschweizern und Welschen jedenfalls kaum möglich. Denn wer nicht sprechen kann, vermag sich nicht verständlich zu machen, was Sprachgrenzen zur Folge hat.

Wenn Brunner von einem «Angriff auf den Französischunterricht» spricht, kennt er die erwähnte Wirklichkeit nicht und/oder er missversteht Biederts Anliegen. Ihre während der Landratsdebatte in ein Postulat umgewandelte Motion dient ja gerade dem Französischunterricht in unserem Kanton. In dem Sinne nämlich, dass dieser wieder besser werden soll zur Überwindung von Sprachgrenzen.

2. Beatrix von Sury, Die Mitte

Von Sury begegnet Biederts Anliegen mit wenig Theatralik aber mit umso mehr Empörung. Sie artikuliert ihre Emotionen nicht nur mit der Intonation ihrer Stimme, sondern gleich zu Beginn auch verbal mittels eines energischen und mit viel Emphase unterlegten «Je suis outrée!» (Ich bin empört!). Von Sury empfindet das Postulat offensichtlich als Feldzug gegen ihre eigene Muttersprache und letztlich als Angriff auf ihr Ego. Die Autorin Alexandra Herdt meint in diesem Zusammenhang: «Nur unser Ego kann etwas persönlich nehmen und sich verletzt fühlen.»[1] Von Sury gehört somit beim vorliegenden Geschäft zur politischen Gattung der Ichbezogenen. Sachpolitik allerdings lässt sich schlecht betreiben auf der persönlichen Schiene. Letztere erschwert die Sicht auf die Sache. Wie schon bei Brunner ist auch bei Von Sury eine Kränkung ursächlich für die ablehnende Haltung gegenüber Biederts Postulat. Aufgrund ihrer Emotionalität verkennt sie dessen Intention, die tatsächlich in der Verbesserung des Französischunterrichts besteht. Die ihrer Muttersprache dadurch entgegengebrachte Wertschätzung entgeht Von Sury vollkommen vor lauter Empörung.

3. Thomas Eugster, FDP

Er kann dem Typus des klassischen Sachpolitikers zugerechnet werden. Ruhig und unprätentiös kommt er gleich zu Beginn seines angenehm bündigen Plädoyers zum Kern der Sache, nämlich einer erfolgreichen Französischvermittlung, die gegenwärtig nicht gewährleistet ist. Denn das Postulat will einzig, dass dieser Umstand anerkannt und seitens der Politik entsprechend gehandelt wird zur Verbesserung des Französischunterrichts. Anstelle blendender Rhetorik lässt Eugster in seiner Argumentation Sachwissen durchblicken, nicht zuletzt mittels seiner Bemerkung, wonach Fremdsprachen im schulischen Umfeld erst ab einem gewissen Alter effizient und nachhaltig gelernt werden können.

Dazu Jasone Cenoz, Professorin für angewandte Linguistik: «These results indicate that students who started learning English in grade 6 (10-11 years old) present a higher degree of proficiency in English than students who have been exposed to the same number of hours of instruction but started learning English in grade 3 (7-8 years old). »[2]

Selbstverständlich gilt dies für alle Fremdsprachen, so auch für Französisch. Im Bericht des Wissenschaftlichen Kompetenzzentrums für Mehrsprachigkeit der Uni Fribourg ist zu lesen: «Im schulischen Kontext zeigt sich derselbe Startvorteil für ältere Lernende. Sie lernen schneller als die jüngeren. Ein Ein- und Überholen durch die Frühbeginner wird in den momentan verfügbaren Studien im Allgemeinen nicht nachgewiesen.»[3] Und sogar Georges Lüdi, der eigentliche Vater des Frühfranzösisch, gesteht im Nachhinein: «Internationale Studien haben in der Tat nachgewiesen, dass innerhalb des klassischen Fremdsprachenunterrichts ‹Frühstarter› am Schluss der Schulzeit ohne zusätzliche Massnahmen bezüglich ihrer Sprachkompetenzen kaum mehr messbare Vorteile haben.»[4] In der Zeitung «Le Temps» vom 23. Juni 2014 lässt er sich diesbezüglich wie folgt verlautbaren: «Les enfants n’apprennent pas mieux en étant très jeunes, contrairement à ce que l’on prétend. Les élèves du secondaire comprennent mieux la grammaire, le lexique, la syntaxe.» Es spricht für Lüdi, dass er die Grösse hatte, seinen Irrtum, was die Fremdsprachenvermittlung auf der Primarstufe betrifft, öffentlich einzugestehen.

4. Linard Candreia, SP

Mit viel Pathos stellt der SP-Vertreter die Behauptung auf, die Schülerschaft sei motiviert, Französisch zu lernen. Damit drückt er sich gleich am Anfang seines Votums den Stempel des politischen Träumers auf. Denn im bereits unter 1 erwähnten «Schlussbericht» ist nachzulesen: «Ein Vergleich der Motivation zum Lernen der ersten Fremdsprache auf Basis der Schülerfragebogenitems über die Sprachregionen hinweg zeigt deutlich, dass die Motivation zum Französischlernen im Passepartout-Raum generell eher tief ist… Zudem findet nur ca. die Hälfte der Schüler/innen den Französischunterricht interessant, und fast 2/3 geben an, dass sie den Französischunterricht (eher) nicht freiwillig besuchen würden.»[5]

Mit seinem idealistischen Optimismus offenbart Candreia eine Ferne zur Realität des Französischunterrichts, die bezogen auf die Schweiz nicht viel grösser sein könnte als die zwischen Scuol und Genf. Und um nicht von seinen Träumereien aufwachen zu müssen, will er auch nichts wissen von Studien und Evaluationen. Dan McCafferty, der verstorbene Sänger der britischen Hard-Rock-Band Nazareth, würde auf so viel Realitätsverweigerung mit leidender Tenorstimme erwidern: «Dream on!»[6]

Mit der Erwähnung des Begriffs der Mehrsprachigkeit weckt Candreia die Assoziation mit der «Mehrsprachigkeitsdidaktik» der Passepartout-Lehrmittel. Die Ironie besteht hier darin, dass enorm vielen Lernenden der Französischunterricht insbesondere wegen jener Passepartout-Lehrmittel verleidet ist. Diese werden auf der Primarstufe nach wie vor von zu vielen Lehrpersonen eingesetzt mit der Folge, dass Schülerinnen und Schüler nach vier Jahren Unterricht über keine nennenswerten Französischkenntnisse verfügen, was diese sehr genau und zurecht frustriert registrieren. Im erwähnten Schlussbericht heisst es diesbezüglich: «…denn ein beachtlicher Teil der Schüler/innen erreicht am Ende der Primarstufe auch ein elementares Niveau (A1.2) bei den Sprachkompetenzen nicht.»[7] Gemäss Passepartout-Lehrplan sollte wohlbemerkt das Niveau A2.1 erreicht werden!

Es ist bekannt, dass die Passepartout-Ideologie ein negatives Lernverhalten generiert. Auf dem Konstruktivismus beruhend, negiert sie die Notwendigkeit der Wortschatz- und Grammatikvermittlung sowie der Fehlerkorrektur. Fremdsprachen konstruieren sich von selbst im Sprachbad, und zwar ohne Anstrengung der Lernenden. So jedenfalls der Aberglaube der Passepartout-Ideologen. Da es mit lediglich zwei, drei Wochenlektionen kein Sprachbad gibt, schwimmen die Schülerinnen und Schüler im Trockenen. So kommt es, dass viele Französischlehrkräfte der Sekundarstufe nach theoretisch vier Jahren Französischunterricht auf der Primarstufe nochmals von vorne beginnen. Abgesehen davon, dass sie in drei Jahren mit weniger Französischlektionen nicht gleichviel Stoff behandeln können wie zuvor mit mehr Stunden während vier Jahren, müssen sie nun zunächst einmal von Null auf eine Arbeitshaltung vermitteln und zusätzlich gegen über Jahre eingeschliffene Fehler ankämpfen, die sich jedoch kaum noch ausmerzen lassen.

Wer sich übrigens jenseits der Träumerei und Rhetorik einen auf Fakten basierenden Überblick verschaffen möchte über das Scheitern des Frühfremdsprachenunterrichts und der Mehrsprachigkeitsdidaktik, sei eine Zeitleiste der Condorcet-Autoren Urs Kalberer, Alain Pichard und Felix Schmutz empfohlen.[8]

«Es genügt nicht, keine Ahnung zu haben, man muss auch anderer Meinung sein.»

5. Yves Krebs, GLP

Frustrierte Französischlernende holt man weder mit Joe Dassin oder Serge Gainsbourg noch mit Michel Sardou hinterm Ofen hervor. Dafür bedarf es guter Lehrmittel und ausreichend qualifizierter Französischlehrkräfte. An beidem mangelt es auf der Primarstufe. Vor allem aber müssen Lernende, um sich erfolgreich Fremdsprachen anzueignen, in einem Alter sein, in dem sie ihre Muttersprache bereits gut beherrschen und einigermassen Bescheid wissen über deren grammatische Strukturen, was bei Lernenden auf der Primarstufe in der Regel nicht der Fall ist. Dies löst bei vielen Lernenden verständlicherweise Frustration aus. Wenn man sich denn unbedingt der Musik bedienen möchte, lässt sich jener Frust trefflich zum Ausdruck bringen mit einem Titel von Johnny Hallyday: «J’en ai marre». Musik spielt in einem modernen Fremdsprachenunterricht zwar durchaus eine Rolle, sie ist aber eher marginal.

Dank des Unterhaltungswerts seines Vortrags, der Anklänge an einen Schnitzelbank der Basler Fasnacht aufweist, schafft es Krebs immerhin in die Kategorie des politischen Kabaretts.

Die Wirklichkeit

Es folgen anonymisierte Sätze von AchtklässlerInnen nach 5½ Jahren Französischunterricht bzw. nach rund 450 Lektionen:

«Je ne arrivé weil j’ai famieli-fété. Tu a arrivé à lundi êt vous allé à la l’école. Comme tu il?» «Je Film prefère regarde. Weil Je ne pa ma arm. Je film préférér à horror êt romantiqu. Ma aimes e Mondpferd. To la film ville êt garçong reiten to la cheval. êt une ville arrive hexen.» «J’ai ne Zeit. Nous können aber alle patinge dans 14 heures. Es-tu einverstanden? Xoxo LG» «Je ne pris pas de temps pour nous Picknick, desole. J’ai des temps au Lundi, mais nous jouez des volleball, ect-ce bon? LG» «J’aime de livre, mais les film éte more interesant au le livre. Ma livré prévéré est percy Jakson. Ma film prevere est Avengers Endgame. Pour le film: Le enemiagagnée, est le petit héros fair une reise de temp.»[9]

«Je freue mich avec du Brief.» «J´ais aller le weekend la parque. Ma ohne une pistoler o morter quelcuen.» «Ma bonne jour start 9:00 a le Europark.» «Je aller zum Kühlschrank.» «Nous visite baucoub activits et nous avons fon.» «Mon journée perfect deservés de gagner parc que c’est le reve de tout les hommes.» «Moi journé de rêve ce le test.» «Dabord nous allé avec le train pour les ganzen Eropapark et vois les differend Languages dans Europapark.»[10]

Diese Liste liesse sich beliebig erweitern. Sie ist ein Aufruf an den Landrat und die BKSD, sich endlich den Realitäten zu stellen. Insbesondere diejenigen Landrätinnen und Landräte, die Anita Biederts Postulat ablehnten in der irrigen Meinung, sie würden sich dadurch stark machen für den Französischunterricht, müssten erkennen, dass sie gegen ihr eigenes Interesse stimmten. So könnten sie immerhin nachträglich Verantwortung übernehmen. Hilfreich hierfür wäre, wenn es gelänge, die Sache an sich über persönliche Befindlichkeiten zu stellen bzw. sich kundig zu machen. Trotz in dieser Angelegenheit schadet ausschliesslich den Lernenden.

Die angekündigte Evaluierung des Frühfranzösisch kostet den Kanton Fr. 200’000.–. Sie wird in etwa zwei bis vier Jahren Erkenntnisse bestätigen, die seit bald zwei Jahrzehnten vorliegen. Bis die notwendige Gesetzesänderung spruchreif ist, werden weitere Jahre verstreichen. Zum Zeitpunkt der Abschaffung des Frühfranzösisch werden alles in allem schätzungsweise sechs bis 10 Jahre ins Land ziehen. In dieser Zeit werden weitere Schülergenerationen daran gehindert, einer der schönsten Sprachen erfolgreich zu lernen zugunsten des nationalen Zusammenhalts, des interkulturellen Austauschs und zugunsten der Wirtschaft. Das Angebot an Französischlehrkräften wird bis dann noch prekärer sein – aus den Passepartout-Schülergenerationen wird diese Sprache kaum jemand studieren können –, sodass man Französisch mit einiger Wahrscheinlichkeit nur noch als Wahlfach wird anbieten können. On sera outré! Dann allerdings zu Recht.

Während der letzten 20 Jahre wurden dermassen viele Fehlentscheidungen in der Schweizerischen Bildungspolitik gefällt, verbunden mit einem kontinuierlichen Leistungsabfall der Lernenden und einem zunehmenden Lehrkräftemangel. Der Grund hierfür ist vielleicht darin zu erkennen, dass zu viele reflexgesteuerte und ichbezogene PolitikerInnen, Rhetoriker, Kabarettisten und Träumer mit zu wenig Ahnung zu viel zu sagen haben.

Die seit Jahren dauernde Debatte um den Frühfremdsprachenunterricht dreht sich im Wesentlichen um die Frage, ob 1 + 1 gleich 3 oder vielleicht nicht doch eher 2 ist. Währenddessen lassen Schülerinnen und Schüler ihre Aufsätze, Vorträge, Zusammenfassungen, Bewerbungen und Prüfungen mittels ChatGPT schreiben, wobei die Bildungspolitik noch nicht einmal angefangen hat, darüber nachzudenken.

«Leider haben Ahnungslose meist auch keine Ahnung davon, dass sie keine haben.»

Anita Biedert: erläuterte dem Baselbieter Kantonsparlament ihre Motion «Verzicht auf Französischunterricht an der Primarschule». Ihr 18-minütiges Plädoyer kann hier nachgehört werden.

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

“Der Lehrplan 21 gehört in den Kübel”

Heimunterricht boomt Neue Zahlen zeigen: Homeschooling liegt in vielen Kantonen im Trend – auch nach der Pandemie. Zwei Familien erzählen, warum sie ihre Kinder nicht in die Schule schicken. Wir bringen einen Artikel der Journalistin Nina Fargahi, der zuerst in der Tamedia erschienen ist.

2 Kommentare

  1. Die Textbeispiele in Felix Hoffmanns vorzüglichem Beitrag stammen aus einem Check, der in der Sekundarschule vom Zürcher Institut für Bildungsevaluation durchgeführt wurde. Man glaubt kaum, dass für diese Produkte noch Punkte vergeben wurden. Offenbar genügt dieses wirre Gemisch von nur teilweise identifizierbaren Bruchstücken aus drei Sprachen, um den Unterrichtserfolg in “funktionaler Mehrsprachigkeit” zu belegen. Auf die Frage, was denn das Neue ist, was Kinder mit der Mehrsprachigkeitsdidaktik lernen, gibt es endlich eine konkrete Antwort: “Ich freue mich avec du brief.” Es lebe der Konstruktivismus!

  2. Der gewöhnliche Steuerzahler ausserhalb des Bildungswesens ist frustriert über den unerhörten Ressourcenverschleiss, den solche Irr- und Umwege sowie die späteren Korrekturen gegen ideologisch-politische Widerstände verursachen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert