19. April 2024

Basler Lehrer spricht über schwierige Zustände und Gewalt im Klassenzimmer

Was ist in den Schulzimmern los, dass viele Lehrpersonen die Wiedereinführung von Kleinklassen fordern? Markus Harzenmoser, Mitglied des Initiativkomitees für Förderklassen und Primarlehrer, gewährt Einblick. Wir schalten ein Interview der Tamedia-Journalistin Dina Sambar mit dem Basler Primarlehrer Markus Harzenmoser auf, das in der Basler Zeitung erschienen ist.

Tamedia-Journalistin Dina Sambar führte das Interview.

Herr Harzenmoser, wie muss ich mir die aktuellen Probleme im Klassenzimmer ganz konkret vorstellen?

Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele. Ich hatte einen Erstklässler, der aus Ohnmacht und Wut einen Tisch umgeworfen und mich und andere Lehrpersonen getreten und geschlagen hat. Meine Brille musste auch schon dran glauben. Ein anderer verprügelte auf dem Pausenhof Kinder, weil sie nicht mehr mit ihm Frisbee spielen wollten. Danach ist er weggerannt und hat sich wie ein geschlagener Hund irgendwo im Quartier versteckt. Ein Junge ertrug es nicht, wenn wir sangen und es gemeinsam schön hatten. Er begann dann immer herumzuschreien. Ein Schüler rastete aus, wenn man ihn auf Fehler aufmerksam machte. Er zerriss das Papier und ass es. Zudem habe ich von einer Klasse gehört, in der sogar Scheren herumgeworfen wurden.

Sie sind seit 38 Jahren Lehrer. Früher gab es sicher auch herausfordernde Kinder.

Stimmt. Doch die Anzahl hat stark zugenommen. In jeder Klasse gibt es heute zwei bis vier Kinder, die sich sehr auffällig verhalten. Fast jede 1. und 2. Primarklasse hat eine Klassenassistenz – meist ein Zivildienstler –, der die Kinder beruhigt, wenn es brodelt. Diese Kinder beanspruchen auch einen grossen Teil der Aufmerksamkeit der Lehrperson. Das geht auf Kosten der anderen 17, 18 Schülerinnen und Schüler. Das ist nicht gut.

Wie reagieren die restlichen Kinder auf ihre verhaltensauffälligen Schulkameraden und -kameradinnen?

Es gibt Kinder, die halten das gut aus. Andere schalten einfach ab. Und dann gibt es Kinder, die damit beginnen, Aufmerksamkeit auf die gleiche Art und Weise einzufordern. Es ist, wie wenn im Coop zwei Äpfel in der Früchtekiste faul sind. Lässt man sie drin, hat man bald eine Kiste voller fauler Äpfel. Tönt hart, kann aber passieren.

Deshalb müsste es Ihrer Meinung nach wieder Förderklassen für verhaltensauffällige Kinder geben.

Das Verrückte ist, die Kinder können nichts dafür, dass sie so sind. Es gibt immer Gründe dafür. Ich finde, sie haben ein Recht darauf, so sein zu dürfen. Allerdings braucht es dafür einen Ort, an dem sie die anderen Schülerinnen und Schüler nicht stören. In kleinen Klassen mit sechs bis acht Kindern und zwei, drei heilpädagogisch ausgebildeten Lehrpersonen würde sich ihr Verhalten beruhigen. Man könnte fast sagen, die Seele der Kinder käme so zur Ruhe. Als ich vor 38 Jahren im Kleinbasel zu unterrichten begann, gab es das noch. Die heilpädagogisch ausgebildeten Lehrpersonen waren für die Kinder wichtige Bezugspersonen. Sie waren ihre Anker. Später können sie locker zurück in die Regelklasse.

    «Kindern, die psychisch und seelisch vernarbt und angeschlagen sind, macht man keinen Gefallen, wenn man sie in grosse Klassen steckt, bevor sie zur Ruhe gekommen sind.»

Haben Sie ein Beispiel?

Ich hatte einen Jungen in meiner Klasse, der aus einem Kriegsgebiet geflüchtet war. Seine Mutter erhielt hier aber keinen Aufenthaltsstatus und beging Suizid. Er war der Junge, der immer geschrien hat, wenn wir gemeinsam sangen. Er war «sprachlos», hatte keine Worte, um auszudrücken, was in ihm vorgeht. Sein Verhalten hat andere Kinder angesteckt. Wir haben ihn in das SpA (Heilpädagogisches Spezialangebot, Anm. d. Red.) geschickt. Mittlerweile ist er wieder in der Regelklasse und ist eine coole Socke geworden – weil sie in der SpA viel mehr Zeit für ihn hatten.

Eben, es gibt doch bereits Spezialangebote, bei denen Kinder in kleinen Klassen unterrichtet werden.

Die SpA ist tatsächlich dem von uns Geforderten sehr ähnlich. Es bräuchte einfach viel mehr davon. Integration in Regelklassen ist für Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen ein super Ansatz. Aber Kindern, die psychisch und seelisch vernarbt und angeschlagen sind, macht man keinen Gefallen, wenn man sie in grosse Klassen steckt, bevor sie zur Ruhe gekommen sind.

    «Ich sehe immer mehr Eltern, die nicht mehr wissen, was es bedeutet, Kinder zu erziehen.»

Weshalb sind die Kinder überhaupt verhaltensauffällig?

Sie sind psychisch angeschlagen und noch nicht reif für die Schule. Sie haben beispielsweise nicht gelernt, Fehler zu machen und Misserfolge auszuhalten. Sie können nicht damit umgehen, dass es Kinder gibt, die schneller, besser und schlauer sind. Manche sind angeschlagen, weil sie unter einem sehr grossen Erwartungsdruck stehen, den die Eltern, die Gesellschaft oder sie sich selbst auferlegen.

Und weshalb hat Ihrer Meinung nach die Anzahl so zugenommen?

Abgesehen von den tragischen Schicksalen sehe ich auch immer mehr Eltern, die nicht mehr wissen, was es bedeutet, zu erziehen. Sie meinen es sehr gut mit ihren Kindern, erlauben ihnen alles und räumen ihnen jedes Steinchen aus dem Weg. So lernen die Kinder nicht, mit Misserfolgen umzugehen, die Spielregeln des sozialen Umgangs einzuhalten oder gestellten Anforderungen nachzukommen. Ich hatte viele Kinder in der Klasse, die keinen Purzelbaum machen, nicht über ein Bänkli gehen oder Bälle fangen können. Das sind nicht nur vernachlässigte Kinder, sondern auch überbehütete.

Die Eltern sind schuld?

Nein. Man kann nicht einfach den Eltern die Schuld geben. Die hatten ja auch schon Eltern, die sie zu dem erzogen haben, was sie heute sind. Irgendetwas stimmt in der Gesellschaft nicht mehr.

     “Die Ausbildung der Lehrpersonen ist für die Situation in den heutigen Klassenzimmern nicht passend.”

Welche Rolle spielen die Lehrpersonen?

Es ist traurig, zu sehen, dass viele junge Lehrpersonen schwimmen und ins Burn-out geraten. Eigentlich sind sie nach fünf Jahren aufgebraucht. Viele wechseln den Beruf. Dabei ist das ein so toller Job. Ich behaupte, das hat auch damit zu tun, dass sie nicht gut vorbereitet sind. Die Ausbildung ist für die Situation in den heutigen Klassenzimmern nicht passend. Die angehenden Lehrpersonen lernen tonnenweise Theorie. Doch sie haben nie selbst erlebt, wie man mit schwierigen Kindern oder Eltern umgeht. Das beginnt sich jetzt zum Glück wieder zu ändern.

Die geforderten Förderklassen klingen demnach wie Symptombekämpfung. Könnte das integrative Modell, bei einer richtigen Ausbildung und mit genügend Ressourcen, nicht auch ohne funktionieren? Studien zeigen, dass integrative Modelle für alle Kinder viele Vorteile haben.

Grundsätzlich finde ich den integrativen Gedanken gut. Doch für die Situation, in der wir uns jetzt befinden, sind Förderklassen der schnellstmögliche und hilfreichste Weg für alle Betroffenen. Parallel dazu muss aber auch die Ausbildung angepasst und müssen mehr Heilpädagoginnen ausgebildet werden. Nur das integrative Modell zu verbessern, geht mir zu langsam.

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2 Kommentare

  1. Herr Harzenmoser schildert klar, was zu erreichen ist: Die Ausbildung der jungen Eltern mit Bezug zu den ersten drei Entwichlungsjahren ihres ersten Kindes; Eine intensive Praxisaausbildung für angehende Lehrpersonen und alle, die unterrichten wollen.

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