23. November 2024

Ausbildung statt Studium? Deshalb wird das Handwerk immer attraktiver

Noch verdienen Akademiker in der Regel deutlich mehr als Handwerker, Pfleger und andere Dienstleister. Doch ein langfristiger Trend dürfte das schon bald verändern. Das ist gut und wichtig – denn nur so lässt sich ein Personalnotstand wirklich verhindern. Wir veröffentlichen einen Gastkommentar von Professor Thomas Straubhaar.

Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Universität Hamburg.

Kluge Köpfe verdienen besser als fleißige Hände. Die Renditen für akademische Bildungsabschlüsse an Universitäten und Fachhochschulen sind enorm. Wer einen Bachelor- oder gar Masterabschluss erwirbt, darf mit einem deutlich höheren Einkommen rechnen als Gesellen oder Meister und alle, die eine beruflich-betriebliche oder gar keine Ausbildung aufweisen.

Wenn Kopf- gegenüber Handarbeit so sehr viel besser bezahlt wird, ist es doch kein Wunder, dass an allen Ecken und Enden Personal fehlt, das mit den Händen arbeitet. Wer ist noch bereit, zu putzen und zu reinigen, zu kochen und zu servieren, zu betreuen und zu pflegen oder als Brief- und Paketbote, Wachmann oder Kassiererin, im Schlachthof oder der Spargelernte oder auf dem Bau zu arbeiten und damit vergleichsweise wenig zu verdienen?

Viele meiden mehr als verständlicherweise schlecht bezahlte Handarbeiten, wenn in Homeoffice und Büros, vor Bildschirmen und in Konferenzräumen, reden und präsentieren, planen und beschreiben, entwickeln und standardisieren, optimieren und skalieren, überzeugen und verkaufen viel höhere Gehälter verspricht.

In aller Regel hat Qualifizierung eher mit Theorie und Wissen zu tun.

Natürlich gibt es viele Ausnahmen zur These, dass eine höhere Ausbildung mit mehr Kopf- und weniger Handarbeit einhergehe. So braucht es etwa in Kunst und Gewerbe oder auch in Gesundheit und Pflege besondere manuelle Fähigkeiten. Aber in aller Regel hat Qualifizierung eher mit Theorie und Wissen zu tun. Selbst bei dualen Ausbildungsgängen muss die handwerkliche Praxis allzu häufig und oft zu stark der hoch- und fachschulischen Konkurrenz weichen, die grundlegende Kenntnisse fördern soll.

Mit fortschreitendem Alter werden bei den Gehältern dann Lebenserfahrung, Führungseigenschaften oder soziale Kompetenzen wichtig(er). Auch sie haben alle eher mit der Person an sich und weniger mit deren Handfertigkeiten zu tun.

Der nationale Bildungsbericht 2022 veranschaulicht an vielen Stellschrauben, wie sehr in letzter Zeit der Trend boomte, über eine höhere Ausbildung einfacher Handarbeit zu entgehen. So etwa deckt er auf, dass in den 1970er-Jahren weniger als ein Fünftel der jungen Erwachsenen ein Studium aufnahmen, in den 1980er-Jahren waren es etwas mehr als ein Viertel, im Jahr 2005 noch immer weniger als ein Drittel.

Keine Anzeichen für den „Akademisierungswahn“

Aber 2020 waren es dann fast die Hälfte (nämlich 47 Prozent). Entsprechend nahm in den zehn Jahren zwischen 2010 und 2020 der Anteil von Menschen, die über einen höheren Bildungsabschluss verfügen, von 21 Prozent der Gesamtbevölkerung um fünf Prozentpunkte auf 26 Prozent zu.

Trotz des immensen Zulaufs der Hochschulen findet der Bildungsbericht 2022 bis jetzt keine Anzeichen für einen „Akademisierungswahn“ – also einer vom Münchner Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin postulierten Fehlentwicklung, wonach viel zu viele junge Erwachsene studieren, obwohl es für sie nach erfolgreichem Abschluss gar keinen praktischen Bedarf gäbe.

Eine „Überakademisierung“ ist jedoch nicht feststellbar. Wer einen Bachelor- oder Masterabschluss erwarb, hatte stets gute Chancen, eine dem akademischen Ausbildungsniveau angemessene berufliche Platzierung zu finden.

Digitalisierung wird nun jedoch das Pendel zurückschlagen lassen. Sie wird Handarbeit gegenüber Kopfarbeit massiv aufwerten. Denn künstliche Intelligenz wird künftig genau das auch bei der Kopfarbeit nachvollziehen, was bei industrieller Handarbeit längst vollzogen ist: den Ersatz von Menschen durch Technik.

Es war immer schon Wesen der Industrialisierung, Arbeitskräfte durch Automaten und Maschinen zu ersetzen. Mittlerweile werden in nahezu menschenleeren Fabrikhallen Massengüter produziert, Konsumgüter verpackt, Flüssigkeiten abgefüllt.

Künstliche Intelligenz wird menschliche Arbeit verdrängen

Die Digitalisierung wird Handarbeit gegenüber Kopfarbeit massiv aufwerten.

Der ersten Digitalisierungswelle fielen danach auch Handarbeiten im Dienstleistungssektor zum Opfer – aber zunächst eher solche für einfache Standardarbeiten. Im Handel und beim Einkaufen, an Kassen und bei Auskunftsstellen, Bestell- und Lieferverfahren oder beim Kundendienst – etwa für Klagen und Reparaturen wurde Arbeitskraft nicht mehr gebraucht. Stattdessen kamen elektronische Assistenzsysteme zum Einsatz, etwa wenn es um Anfragen und Beratung, Buchungen und Bestellungen, messen und zählen, Kontrolle und Mahnung, Verwaltung oder Zahlungsverkehr ging.

Künstliche Intelligenz und durch maschinelles Lernen besser trainierte und damit noch einmal leistungsfähigere Algorithmen werden nun jedoch zunehmend auch bei höher qualifizierter Kopfarbeit menschliches Denken und Tun erst ergänzen, bald jedoch auch verdrängen – etwa bei Finanzierung und Versicherung, Beratung und Kommunikation, bei Medien, im Bildungs- und Gesundheitswesen, in Lehre und Forschung oder bei der Produkt- und Prozessentwicklung.

In vielen Bereichen bleibt Handarbeit unverzichtbar

Demgegenüber werden sich Handarbeit und Handwerk vergleichsweise besser gegen technische Neuerungen behaupten können. Denn viele Dienstleistungen bedingen persönliche Kontakte, Emotionen und Empathie – beispielsweise in der Pflege oder der Betreuung von (Klein-)Kindern und alten Menschen.

Nur durch eine substanzielle Aufwertung der Handarbeit lässt sich ein Personalnotstand in vielen Bereichen des Dienstleistungswesens verhindern.

Andere Handarbeiten verlangen Feinmotorik, Beweglichkeit und Geschicklichkeit, die Automaten und Roboter so noch nicht standardmäßig bieten können – etwa, wenn es gilt, ein mit gefüllten Gläsern belegtes Tablett aus der Küche auf den Esstisch zu bringen. Und oft verlaufen personenbezogene Dienstleistungen nicht nach einem sich stetig wiederholenden Standardmuster, sodass sich eine aufwendige Programmierung für jeden Einzelfall nicht wirklich rechnet.

Handarbeit und Handwerk dürften also weniger rasch als Kopfarbeit durch Technik ersetzbar werden. Sie werden auch künftig gebraucht, in vielen Dienstleistungsbereichen mehr noch als Kopfarbeiter. Damit dürfte das heutige Gehaltsgefüge verrutschen. Löhne für einfache Handarbeit in personenbezogenen Dienstleistungen werden rascher steigen als für manche Kopfarbeit. Das wird dazu führen, dass putzen und kochen, pflegen und betreuen ökonomisch attraktiver werden. Und genau das muss so sein: Nur durch eine substanzielle Aufwertung der Handarbeit lässt sich ein Personalnotstand in vielen Bereichen des Dienstleistungswesens verhindern.

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