Andreas Aebi - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 20 Nov 2022 16:07:15 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Andreas Aebi - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Die vergessenen Baustellen der Berner Bildung https://condorcet.ch/2022/11/die-vergessenen-baustellen-der-berner-bildung/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-vergessenen-baustellen-der-berner-bildung https://condorcet.ch/2022/11/die-vergessenen-baustellen-der-berner-bildung/#comments Sun, 20 Nov 2022 07:40:14 +0000 https://condorcet.ch/?p=12332

Der Lehrkräfte-Mangel überlagert die akuten Probleme der Berner Bildung. Sie produziert zu wenig Fachkräfte. Sie favorisiert an der Laufbahn-Schnittstelle die Mädchen. Sie integriert die Benachteiligten in grosse Klassen und verheizt damit ihr Personal. Und sie hält titanisch am Frühfranzösisch fest, obwohl der Dampfer längst gesunken ist. Condorcet-Autor Andreas Aebi schreibt über die Baustellen im Berner Bildungssystem.

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Res Aebi, Sekundarlhrer, Publizist, Fussballtrainer und Buchautor

Bernhard Pulver war nicht nur ein rhetorisches Genie à la Habeck, er besass auch ein feines Gespür für das Machbare. Sein Mantra lautete: Die heissen Suppen friert man besser ein. Zu diesen Suppen gehörten die Abschaffung der Noten (eine Forderung von links), die Reform des Sek-Übertritts (ein Postulat der Bürgerlichen), die Entlastung der Klassenlehrpersonen (ein Hilfeschrei von Bildung Bern) und die staatspolitisch heikle Französisch-Frage.

Der Drang der Mädels zur Akademie

An internationalen Konferenzen singen unsere Bildungsminister gerne das Hohelied des Dualsystems. In der Realität verschiebt sich das Gleichgewicht aber immer mehr Richtung Akademie. Bürgerliche Politiker:innen schreiben das auch einem Konstruktionsfehler im Selektionsverfahren für die Oberstufe zu. Der Sek-Übertritt begünstige die Mädchen, die nachher alle studieren gingen. Das sind zwei pauschale Aussagen, deren kausale Verknüpfung erst einer Prüfung unterzogen werden muss.

Solange die Wirtschaft nicht bereit ist, sogenannte «Frauenberufe» aufzuwerten, werden diese Mädchen die Flucht Richtung Uni antreten.

Als Selektionsfächer für die Stufe Sek 1 dienen Mathematik und die Sprachfächer Deutsch und Französisch. Misst man die Fächer an ihrer Dotation, muss Französisch zwingend durch das weitläufigere Fach Natur, Mensch und Gesellschaft ersetzt werden. Dass die Jungs anteilsmässig von dieser Minireform profitieren, halte ich für möglich. Gewinnen wir damit mehr Fachkräfte? Nein. Die stärksten Mädchen schaffen es auch mit NMG locker ins Sek-Niveau. Und solange die Wirtschaft nicht bereit ist, sogenannte «Frauenberufe» aufzuwerten, werden diese Mädchen die Flucht Richtung Uni antreten. Es ist die Flucht vor Diskriminierung und Niedriglohn.

Langnau, Hauptort im Emmental

Ist die Quoten-Debatte ein Tabu?

Mit schöner Regelmässigkeit werden in den Medien die ungleichen Bildungschancen unserer Schüler:innen gerügt. Die Chancen auf eine Mittelschul-Laufbahn seien in der Stadt höher als auf dem Land, monieren sie dann. Tatsächlich schaffen es mehr Stadt- als Landkinder ans Gymnasium, aber das ist natürlich nicht eine Frage der Intelligenz, sondern der Quotenwillkür, welche wiederum von unterschiedlichen Kulturen abhängt. Ich war sechs Jahre Schulleiter an einer Land- Sekundarschule mit dem (Auslauf-)Modell 1. Von unseren Schulabgänger:innen beschritten 55 Prozent eine Berufslaufbahn, 35 Prozent gingen in eine Mittelschule und 10 Prozent ergriffen ein Brückenangebot. Eine Mittelschulquote von 35 Prozent also? Nein, nur die Hälfte! Denn in der Statistik fehlen die Realschüler:innen, die in unserer Wohngemeinde 50 Prozent ausmachten und etwa zur Hälfte ein 10. Schuljahr absolvierten oder eine Berufslehre. Die Fifty-fifty-Zuteilung war ein Erfolgsmodell für Sekundar- und Realschule: gutes Niveau hüben wie drüben und ein Laufbahnprozess, der dem Anspruch der dualen Berufsbildung gerecht wurde.

Städtische Kolleg:innen beklagen sich heute darüber, dass ein Berufswahlprozess bei ihnen gar nicht gefragt sei. Im Fokus stehe vielmehr die Wahl der Mittelschule.

In den Städten ist das Vergangenheit. In vielen Quartieren schraubten sich die Sek-Quoten so lange in die Höhe, bis die Realschule das Sammelbecken benachteiligter Bevölkerungsgruppen war. Und mit der steigenden Zahl Sekschüler:innen wuchs die Selbstverständlichkeit der Eltern, ihr Kind an eine Mittelschule zu schicken. Städtische Kolleg:innen beklagen sich heute darüber, dass ein Berufswahlprozess bei ihnen gar nicht gefragt sei. Im Fokus stehe vielmehr die Wahl der Mittelschule. Müssen wir uns also bei den inflationären Sek- und Mittelschulquoten über die Verflachung des Niveaus und das Fehlen von Fachkräften wundern? Und müsste der Kanton nicht endlich eine Debatte über eine maximale Bandbreite der Übertrittsquoten führen – oder diese gar plafonieren?

Integration vom Discounter

Integrative Schulmodelle funktionieren ganz gut – in kleinen Klassen.

Landauf, landab wenden sich die Berner Schulen integrativen Schulmodellen zu. Die konkrete Umsetzung wird aber zum Verheizungsmotor für Lehrpersonen. Statt Kinder mit besonderem Förderbedarf partiell in die Regelklassen zu integrieren, setzen viele Gemeinden gleich auf volle Heterogenität. Zum Spagat mit Leistenbruch-Garantie wird die Umstellung dann, wenn sie zum Billigtarif vorgenommen wird. In unserer Schullandschaft gibt es Gemeinden, die ihrem Personal gemischte 20er-Grundklassen Sek/Real mit integrierten KbF-Kindern zumuten und dieser Mixtur zwei Sporttalente und ein ukrainisches Flüchtlingskind beifügen. Dabei müsste jedem kommunalen Bildungsrat bekannt sein: Integrative Schulmodelle funktionieren ganz gut – in kleinen Klassen. Schraubt man die Klassengrösse in die Höhe, steht die Lehrperson im Unterricht vor einer unlösbaren Aufgabe. Sie macht dann entweder eine Triage – oder brennt aus.

 

«Bei uns spricht der Franzlehrer Deutsch»

Die Französisch-Lehrer:innen an den Gymnasien verzweifeln; punkto Sprechen und Schreiben beginnen sie praktisch bei null. Schon einfache Quervergleiche deuten an, dass unsere Schüler:innen nach sieben Jahren Französisch nicht weiter sind als die Ostschweizer:innen nach fünf Jahren. Dass die Volksschule ihren Auftrag nicht erfüllt, wurde bisher zu Recht, aber auch zu einseitig, den Passepartout-Lehrmitteln zugeschrieben. Die Malaise beginnt natürlich beim fehlenden Fachpersonal. Wiederholt berichten Schulleiter:innen, sie müssten die Französisch-Lektionen einer Lehrperson zuteilen, die die Sprache noch gar nicht im Köcher habe. Aus der Französisch-Sackgasse führt also nur ein Ausweg: Wir machen es kürzer, aber intensiver. C’est-à-dire: Wir stoppen Frühfranzösisch und konzentrieren die kompetenten Lehrpersonen auf fünf Jahre. Wir erhöhen die Französisch-Dotation in der 5./6. Klasse. Und wir steigen aus den Passepartout-Lehrmitteln aus. Die andern können’s besser.

Dieser Artikel ist zuerst im Organ des LEBE  “Bildung Bern” erschienen.

 

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La baignoire qui manque d’eau – oder – Frühfranzösisch ist gescheitert https://condorcet.ch/2022/10/la-baignoire-qui-manque-deau-oder-fruehfranzoesisch-ist-gescheitert/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=la-baignoire-qui-manque-deau-oder-fruehfranzoesisch-ist-gescheitert https://condorcet.ch/2022/10/la-baignoire-qui-manque-deau-oder-fruehfranzoesisch-ist-gescheitert/#respond Sat, 08 Oct 2022 16:25:09 +0000 https://condorcet.ch/?p=11879

Der Langnauer Sekundarlehrer und Condorcet-Autor hält das Frühfranzösisch für gescheitert und macht Vorschläge, wie es weitergehen könnte. Sein Beitrag ist zuerst im BUND erschienen.

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Res Aebi. Sekundarlehrer in Langnau: Frühfranzösisch abschaffen.

Die Französisch-Lehrer*innen an den Gymnasien verzweifeln; punkto Sprechen und Schreiben beginnen sie mit ihren Neulingen praktisch bei Null. Es fehlt an fast allem, was für einen gymnasialen Lehrgang vonnöten wäre, an gefestigtem Wortschatz, an grammatischen Strukturen, an kulturellem Bewusstsein für die Frankophonie.

Dass die Volksschule ihren staatspolitisch so wichtigen Auftrag nicht erfüllt, wurde bisher einseitig dem Lehrmittel-Experiment «Mille feuille/Clin d’oeil» zugeordnet. Der grosse Feldversuch mit dem konstruktivistischen Lernansatz, die Schnapsidee, mit maximal drei Wochenlektionen ein Sprachbad veranstalten zu können, liegt zwar inzwischen auf dem Misthaufen der Geschichte. Der Kanton hat es allerdings verpasst, das Autor*innenteam für das teuerste Lehrmittel-Debakel der Berner Bildungsgeschichte finanziell zur Verantwortung zu ziehen. Und er hat weitere Weichenstellungen versäumt. So lässt er via Schulverlag das Lehrmittel «Mille Feuille/Clin d’oeil» von einem neuen Team weiterentwickeln und riskiert damit, zusätzliche Millionen in den Sand zu setzen, zumal er gleichzeitig zwei bärenstarke Konkurrenzprodukte für den Unterricht zugelassen hat. Der Markt wird es richten – zum Nachteil des Kantons.

Wieder Millionen in den Sand setzen?

Der grosse Feldversuch mit dem konstruktivistischen Lernansatz, die Schnapsidee, mit maximal drei Wochenlektionen ein Sprachbad veranstalten zu können, liegt zwar inzwischen auf dem Misthaufen der Geschichte.

Manche Politiker*innen wollen das Schulfranzösisch mit einer Ausweitung der Sprachaustausche retten. Sie haben leider keine Ahnung von den praktischen Schwierigkeiten eines Échange. Meine Schule brauchte zwei Jahrzehnte, bis sie überhaupt eine welsche Partnerschule fand. Demografisch ist es auch gar nicht möglich, jedes Jahr mit allen Deutschschweizer Klassen in den Austausch zu gehen – die Welschen wären ein Semester lang im Daueraustausch. Unser aktueller Échange mit dem Oberstufenzentrum Fribourg-Pérolles funktioniert zwar gut, aber er basiert auf Freiwilligkeit, denn viele Familien wollen oder können Austausch-Schüler*innen gar nicht erst aufnehmen. Und da der Austausch freiwillig ist, nimmt daran nur eine Minderheit teil.

«Chürzer, aber besser!» – statt Ovomaltine

Mir hat der Ovomaltine-Slogan «Nid besser, aber lenger!» nie wirklich eingeleuchtet. Für das Schulfranzösisch schlage ich das Gegenteil vor. Wir machen es kürzer, aber besser. Und damit fordere ich den Kanton Bern auf, das Projekt Frühfranzösisch zu stoppen, denn schon einfache Quervergleiche (zum Beispiel der «Stellwerk-Test» des Lehrmittelverlags St. Gallen) deuten an, dass unsere Schüler*innen nach sieben Jahren Französisch kaum oder gar nicht weiter sind als die Ostschweizer Kolleg*innen mit nur fünf Jahren Sprachunterricht. Das liegt nicht am Lehrmittel allein, es liegt auch am fehlenden Fachpersonal im Kanton Bern. Immer wieder berichten Schulleiter*innen, sie müssten das Fach einer Lehrperson zuteilen, die Französisch zu wenig beherrsche. Wer die Sprache aber im Notfallmodus unterrichtet, darf sich nicht wundern, wenn das Publikum im Ernstfall – und das wäre dann die physische Begegnung mit einem menschlichen Wesen französischer Muttersprache – zum Englisch greift. Nos amis romands nous répondrons en anglais avec la même excellence.

Wir steigen aus dem Lehrmittel «Mille feuille/Clin d’oeil» aus. Klett, die Zürcher und die Ostschweizer können das einfach besser.

Den Französisch-Unterricht können wir mit drei Massnahmen aufpäppeln:

  • Wir hören auf mit Frühfranzösisch und erhöhen dafür die Dotation auf der Mittelstufe. Das bedeutet: Null Wochenlektionen Französisch auf Stufe 3/4, vier Lektionen auf Stufe 5/6.
  • Fremdsprachen werden künftig von ausgebildeten Fachlehrkräften oder von Native speakers mit pädagogischer Ausbildung unterrichtet – auch auf der Mittelstufe. Sie haben Vorrang vor Klassenlehrpersonen, die genug andere Sorgen haben.
  • Wir steigen aus dem Lehrmittel «Mille feuille/Clin d’oeil» aus. Klett, die Zürcher und die Ostschweizer können das einfach besser.

 

 

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Ein Passepartout, der Tore schliesst statt öffnet https://condorcet.ch/2019/12/ein-passepartout-der-tore-schliesst-statt-oeffnet/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=ein-passepartout-der-tore-schliesst-statt-oeffnet https://condorcet.ch/2019/12/ein-passepartout-der-tore-schliesst-statt-oeffnet/#respond Sun, 08 Dec 2019 14:53:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=3187

Condorcet-Autor und Schulleiter Andreas Aebi ist ein leidenschaftlicher Französischlehrer. Er sprach bei der Einführung von Frühfranzösisch von einer völligen Fehlinvestition und prophezeite bei der Einführung der Passepartout-Lehrmittel: "Das wird nicht gutgehen." Nach sieben Jahren zieht er Bilanz.

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Schauplatz Genf: Meine SiebtklässlerInnen sind unterwegs in der Stadt. Sie haben den Auftrag, das Ziel im Parc des Bastions selbständig zu finden und unterwegs eine Umfrage durchzuführen. Zielpublikum: junge Leute wie sie. Und weil sie die Umfrage mit Handy dokumentieren, kann ich mir zuhause die Resultate anhören. Die sind brisant: Die Hälfte der Kurzinterviews beginnt auf Französisch und endet auf Englisch.

Schüleraustausch in Genf: Interviews beginnen in Französisch und enden auf Englisch.

Französisch hatte es schon immer schwer. Mit der zunehmenden Anglifizierung unseres Lebens droht der Franzunterricht aber zum Kampf gegen Windmühlen zu mutieren. Zwei Dinge bräuchten die Schulen, um in diesem Umfeld Erfolge zu erzielen: gute SprachlehrerInnen, die Französisch lieben und beherrschen, und ein starkes Lehrmittel. Beide Bedingungen sind im Kanton Bern nicht erfüllt, und die Hauptschuld trägt das Konzept Passepartout.

Pädagogisch steht Frühfranzösisch auf schwachen Füssen

Sein erster Pfeiler war die Einführung von Frühfranzösisch. Sie geht auf einen Entscheid des Grossen Rates zurück, der für einen zweisprachigen Kanton nachvollziehbar erschien. Pädagogisch steht er aber auf schwachen Füssen, denn es gab und gibt zu wenig FranzlehrerInnen. Also engagieren die Primarschulen jetzt ErwachsenenbildnerInnen, pensionierte LehrerInnen oder Romand(e)s, die in ihrer Gemeinde wohnen. Diese erweisen sich häufig als taugliche Notlösung, aber den Personalbedarf decken sie nicht. Darum werden zum Französisch auch Lehrpersonen verknurrt, die weder Flair noch Kompetenz aufweisen. Im schlimmsten Fall sprechen sie im Unterricht konsequent Deutsch.

Passepartout-Lehrmittel beruhen auf Ideologie

Der zweite Pfeiler waren die Lehrmittel «Mille feuilles» (Primarstufe) und «Clin d’Oeil» (Sek 1). Aber das pädagogische Konzept des «Sprachbads», das diesen Lehrmitteln zu Grunde liegt, zielt an der Stundentafel der Volksschule vorbei (2-3 Wochenlektionen Französisch) – und am jungen Menschen. Die AutorInnen gingen nämlich davon aus, dass die Drittklässlerin und der Neuntklässler immer und automatisch Appetit auf Französisch haben, solange man ihnen nur die dicke Menükarte zureicht, aus der sie ihre Leckerbissen auswählen sollten. Indem sie den jungen Menschen idealisierten (und Entwicklungsphasen wie die Pubertät ignorierten), schufen sie eine Ideologie. Mit ihrer Beliebtheits-Pädagogik erreichten sie Beliebigkeit.

Nach fünf Jahren ziehe ich eine enttäuschende Bilanz.

Clin d’oeil gibt keinen Halt

Ich unterrichte Französisch auf der Oberstufe. Nach fünf Jahren Praxis mit «Clin d’oeil» muss ich eine enttäuschende Bilanz ziehen. Die 5 Prozent der Hochbegabten, die vom klassischen Lehrmittel unterfordert sind, lernen besser Französisch als je zuvor. Die 20 Prozent der Sprachfreaks und die 30 Prozent der Immerfleissigen kommen knapp über die Runden. Alle anderen hängen früher oder später ab, weil «Clin d’oeil» keinen Halt in Form von Sprachaufbau und Strukturen bietet. So versuchen Sprachlehrkräfte wie ich verzweifelt, mit Material aus dem persönlichen Notfallkasten die Löcher zu stopfen. Mit einem «Vocabulaire extra». Mit einem Sprachaustausch in der 9. Klasse. Mit Brücken zum realen Leben, zur Berufswelt, zur Landeskultur. Dort ist Französisch nämlich noch immer ein Thema und kann sogar Spass bereiten. Aber für den Spass musst du zuerst ein paar Wörter in der Festplatte haben und nicht nur im Google-Translator. Die Funktion «Speichern» gibt es bei «Clin d’oeil» leider nicht. Eine nachhaltige Unterrichtseinheit übers Einkaufen, übers Essen, über die Mode, übers Flirten? Fehlanzeige.

Die ersten Evaluationen der Wissenschaft sind schonungslos: Passepartout-AbsolventInnen haben zwei Jahre länger Französisch und können weniger als ihre VorgängerInnen. Passepartout, mit seinen aufwändigen Lehrmittelkursen und seinen Einweg-Lehrmitteln, ist eines der teuersten Projekte der Berner Schulgeschichte.

Das teuerste Lehrmittel der Berner Schulgeschichte

Die ersten Evaluationen der Wissenschaft sind schonungslos: Passepartout-AbsolventInnen haben zwei Jahre länger Französisch und können weniger als ihre VorgängerInnen. Passepartout, mit seinen aufwändigen Lehrmittelkursen und seinen Einweg-Lehrmitteln, ist eines der teuersten Projekte der Berner Schulgeschichte. Für den Schulverlag und den Kanton ist es zu einem finanziellen Klumpenrisiko geworden. So nimmt unser Franz seinen teuren Lauf. Mutige Schulen schaffen heimlich das Ostschweizer Lehrmittel «Dis donc!» an, ängstliche fahren die Lernziele zurück. Und ein renommierter Verlag lanciert per 2021–2022 sein neues Lehrwerk mit der Frage: «Suchen Sie eine Alternative zu Ihrem Französisch-Lehrmittel?» Die Gymnasien und Berufsschulen lassen derweil den ganzen Grundwortschatz und die Verbformen nachbüffeln. Im zweiten Ausbildungsjahr beginnt die Aufholjagd zur Matur oder zum Sprachdiplom.

Passepartout – ça ne passe pas!

Passepartout – ça ne passe pas. Wir müssen das Tor zur Romandie öffnen, nicht schliessen. Au boulot. Andreas Aebi

Andreas Aebi ist Schulleiter und Sprachlehrer an der Sekundarschule Langnau. Er war einer der ErstunterzeichnerInnen des «Offenen Briefes zum Passepartout-Debakel an die Erziehungsdirektionen der sechs Passepartout-Kantone» vom 15. Oktober 2019. Dieser Beitrag erschien im Forum der Tageszeitung Bund am 7. 12.19

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Unterrichten ist keine Mission https://condorcet.ch/2019/05/unterrichten-ist-keine-mission/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=unterrichten-ist-keine-mission https://condorcet.ch/2019/05/unterrichten-ist-keine-mission/#respond Sun, 05 May 2019 13:19:31 +0000 https://lvb.kdt-hosting.ch/?p=979 Was ist der Unterschied zwischen einem Missionar und einem Pragmatiker? Der eine weiss, wie der Unterricht funktioniert, der andere versucht es immer wieder herauszufinden, manchmal sein ganzes Berufsleben lang.

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Seit 35 Jahren versuche ich mich als Lehrer. Das klappte ganz gut, bis ich vor drei Jahren meine Funktionenpalette erweiterte und Schulleiter wurde. Alles entsprang einer politischen Zeiterscheinung: Meine bis dahin eigenständige Schule kriegte vom Gemeinderat den Zentralschulleiter verpasst, den die anderen längst hatten. Im Emmental dauert eben alles etwas länger. «Nume nid gsprängt.»

Leider kopierte man dabei auch die Fehler der anderen: Die Stellenprozente der Hausleitung wurden von den Schulbehörden zurückgestutzt wie die Äste der Platanen im Frühling. Nur dass die Prozente nicht nachwachsen.

 

Alter schützt vor Torheit nicht

Meine ersten zwei Vorgänger retteten sich in die Pension. Ihre Nachfolger warfen nach zwei Runden das Handtuch. Und im gleichen Rhythmus, wie sich unsere Sous-Chefs die Klinke reichten, drohte der Betrieb aus dem Ruder zu laufen. Nun wollten sie eine Pragmatikerin, die den Laden von innen kannte. Das Drama nahm seinen klassischen Ausgang: Sie traute sich den Job nicht zu. Am Schluss blieben sie bei mir hängen.

Drei Jahre später weiss ich, diese Zusage war die Torheit meines Lebens. Denn als Sous-Chef landest du in der Zwangsjacke der Mission. Du sollst zur Umsetzung führen, was die Missionare der guten Schule alles herausgetüftelt haben. Im schlimmsten Fall führst du ein trojanisches Pferd zur Tränke deines Kollegiums.

Amadeus auf den Leim gekrochen

Zur Mehrheit meiner Stellenprozente bin ich immer noch Lehrer. Und als solcher ist mir jede Mission ein Gräuel. Meine Schlüsselerfahrung diesbezüglich hatte ich als Jungspund in Paris gemacht, bei einem Exkurs in die Suggéstopédie. «Die Magie Mozarts – Lernen im Unterbewusstsein.» Das ging so: Wir legten uns auf die Yogamatte, eine zauberhafte und nur leicht ergraute Yogini rezitierte im Rhythmus einer mozärtlichen Sonate ein Kapitel aus Sempés «Petit Nicolas». Sinnlos dösten wir verkaterten Lümmel auf der Matte herum. Mais quelle surprise! Après le concert, ich verstand den ganzen Text, ich hatte verinnerlicht tout le vocabulaire, et en plus, ich beherrschte enfin le subjonctif imparfait de mon verbe favori: Que cette méthode reçût la médaille d’or!

Beschwingt kehrte ich aus Paris zurück und wandte die Zauberformel «Lernen im Halbschlaf» im Klassenzimmer an. Mais quelle stupéfaction! Sie kapierten nichts, oder nur unter Beizug bekannter Zusatztricks, die von den Yoginis für den Notfall mitgeliefert worden waren. Als Wundermittel entpuppte sich das Plakat mit dem subjonctif imparfait de mon verbe préféré. Im Weltformat. Ich liess es zehn Monate hängen. Und seither hängt mein Unterricht nicht voller Geigen, aber voller Plakate.

 

Das «Ja, aber mit Mass»-Modell

Denn seither unterrichte ich nach dem Muster: «Hör’ dir die Botschaft an, probier’ das Ding aus und filtere heraus, was funktioniert. Für mich ist das eine Art Erfolgsmodell. Mit ihm konnte ich meinen Horizont erweitern, ohne in der Sackgasse der einzigen und heiligen Botschaft zu landen.

Und die Botschaften prasselten reichlich auf uns ein. Manchmal wurden sie von Pragmatikern verlesen, öfters von Gurus. Wochenplan? Ja, der fördert die Selbständigkeit, wenn du es nicht übertreibst damit. Lehrplan 95? Starker Denkansatz. Funktioniert aber nur in Kombination mit dem Mut zur Lücke. Projektunterricht? Fantastisch! Eine Zeitung produzieren, eine Bundesratswahl veranstalten, ein Biotop bauen, ein Hörspiel schreiben…. Neue Schülerbeurteilung Bern? Haben wir ein Jahr lang ausprobiert. Hundert Formulare, tausend Kreuzchen. Diesen Wahnsinn müssen wir stoppen. SchueBE HALT! Kooperative Lernformen: Sie sorgen für Abwechslung und fördern das Teamwork. Handwerk hat goldenen Boden.

 

Der Maestro des Machbaren:

Bernhard Pulver

Beim Lehrplan 21 schwangen Alain Pichard, seine Mitstreiter und ich wieder die Protestkeule: Man wollte uns mit Kompetenzen überfluten und das Wissen beerdigen. Bernhard Pulver lud Alain und mich zur Aussprache in sein Büro, und ich spürte: Dieser Mann nimmt uns ernst.

Ich folgte auch seiner zweiten Einladung und nahm im Steuerungsausschuss Einsitz, der im Kanton Bern den Lehrplan 21 umsetzen sollte. In meiner Rolle als «konstruktiver Kritiker» erlebte ich vier Jahre lang und hautnah diesen Meister des Machbaren und Fahnenträger der pädagogischen Freiheit.

Die Missionarinnen des Lehrplans 21 holte er vom siebten Himmel auf den Teppich der Praxis herunter. Der Lehrplan liefere den roten Faden; eine Bibel sei das nicht. Kompetenzen seien heute unerlässlich, aber sie basierten auf Wissen. Und sie produzierten neues Wissen. Sogar seine Apostel des Formulars wies er in die Schranken: Wir geben den SchülerInnen nützliche Feedbacks, aber es geht nicht um Vermessung. Zu flächendeckenden Vergleichstests sagte er kategorisch: nein. Zu Schulversuchen und Pilotprojekten ebenso kategorisch: ja. Die Lehrmittel wollte er empfehlen, aber nicht verordnen. Und uns LehrerInnen ermutigte er, in Ruhe alles auszuprobieren. Mit Mut, Optimismus und Freude, aber auch mit Augenmass. Er sprach mir in vielem aus dem Herzen.

Danke, Bernhard.

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