Die gemäss Lehrplan 21 vermittelte Bildung soll den Einzelnen ermöglichen, ihre «Potenziale in geistiger, kultureller und lebenspraktischer Hinsicht zu erkunden, sie zu entfalten und über die Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt eine eigene Identität zu entwickeln.» Bildung soll befähigen «zu einer eigenständigen und selbstverantwortlichen Lebensführung, die zu verantwortungsbewusster und selbstständiger Teilhabe und Mitwirkung im gesellschaftlichen Leben in sozialer, kultureller, beruflicher und politischer Hinsicht führt.» Besonderer Wert wird im Lehrplan 21 ausserdem auf die Bildung für nachhaltige Entwicklung gelegt: «Die Schüler:innen setzen sich mit der Komplexität der Welt und deren ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander. Sie erfassen und verstehen Vernetzungen und Zusammenhänge und werden befähigt, sich an der nachhaltigen Gestaltung der Zukunft zu beteiligen.» Das klingt vielversprechend.
Geschichte wird zu RZG: Geschichte von unten?
Nun formuliert der neue Lehrplan nicht nur eine Reihe kompetenzorientierter Bildungsziele – mit der Einführung des neuen Lehrplans geht auch eine tiefgreifende Umstrukturierung des Bildungswesens einher. Dies betrifft sowohl die Form, in der Bildungsinhalte vermittelt werden sollen als auch die Inhalte selbst. Geschichte wird im Zuge der Einführung des Lehrplans 21 als eigenständiges Unterrichtsfach aufgelöst und findet Eingang in den neu geschaffenen Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG). «Im Zentrum [des Fachbereichs NMG] steht die Auseinandersetzung der Schüler:innen mit der Welt. Um sich in der Welt zu orientieren, diese zu verstehen, sie aktiv mitgestalten und in ihr verantwortungsvoll handeln zu können, erwerben und vertiefen sie grundlegendes Wissen und Können.» Auch das klingt erst mal gut.
Angepeilt ist eine Hinwendung zur Lebenswirklichkeit des einzelnen, unabhängig von Geschlecht, Alter oder sozialer Stellung.
Und eine genauere Betrachtung der didaktischen Hinweise für das Fach RZG (das dem ehemaligen Fach Geschichte am nächsten kommt) lässt hoffen: Nicht mehr rohes Faktenwissen soll vermittelt werden, kein Auswendiglernen von grossen Namen und bedeutenden Daten im Vordergrund stehen: «Geschichtsunterricht zielt darauf ab, dass Schüler:innen anhand von Beispielen aus der Vergangenheit allgemeine, über das konkrete Beispiel hinausweisende Einsichten für die Gegenwart und Zukunft gewinnen.» Der Unterricht soll sich bewusst abwenden von grossen Erzählungen, der Geschichte der grossen Männer und der entscheidenden Schlachten. Angepeilt ist eine Hinwendung zur Lebenswirklichkeit des einzelnen, unabhängig von Geschlecht, Alter oder sozialer Stellung und insbesondere zu den Zusammenhängen zwischen der individuellen Lebenswirklichkeit und den gesellschaftlich übergreifenden Strukturen und Prozessen, denen diese unterworfen sind.
Das entsprechende Lehrmittel: Der Durchblick
Doch wie siehts in der Praxis aus? Wie wird in den nach Lehrplan 21 gestalteten Lehrmitteln Bezug auf den Alltag der Schüler:innen genommen? Wird hier tatsächlich eine didaktische Brücke zwischen der Lebenswelt des Lernenden und dem Politikbezug des Lerngegenstandes geschaffen oder ist die pädagogische Alltagsorientierung eher als Entpolitisierungsprozess zu verstehen, der Fachbezüge zugunsten von Lebensweltbezügen ersetzt? Wird in den hier untersuchten Lehrmitteln tatsächlich der Versuch gemacht, an die gesellschaftlichen Wurzeln zu fassen, oder handelt es eher um eine am Bestehenden und Herrschenden orientierte Heimatsuche?
Das nach Vorgaben des Lehrplan 21 entwickelte Lehrmittel für den Fachbereich Geschichte nennt sich Durchblick und erscheint in zwei Bänden. Es wurde von einem interkantonalen Autorenteam verfasst und behandelt in Band I grob gesprochen die Kernthemen Revolution, Schweizergeschichte und die europäische Industrialisierung, in Band II den Imperialismus, die beiden Weltkriege, den Wandel der Schweiz sowie Demokratie und Menschenrechte. Gemessen an den grossen Forderungen und hohen Ansprüchen des Lehrplans kommen die Lehrmittel auf den ersten Blick erstaunlich konventionell daher. Die beiden Bände bieten einerseits einen klassischen Abriss der grossen Themen der Weltgeschichte, oftmals festgemacht an grossen Männern: Auf Luther und Zwingli folgen Louis IX und Napoleon, danach Bismarck, bald einmal Hitler und Stalin und zuletzt (bemerkenswerterweise) Emilie Lieberherr. Andererseits wird der Geschichte der Schweiz auffallend viel Platz eingeräumt: Die sagenumwobene Entstehung der Eidgenossenschaft, der Rütlischwur, die Gründung des Bundesstaates und schliesslich Guillaume-Henri Dufour. Die Geschehnisse im Mittelalter, die Reformation der Kirche oder die Geschichte der Weimarer Republik werden überwiegend in Form von Ereignisgeschichte dargestellt.
In den beiden Büchern werden vorwiegend positive Errungenschaften diskutiert.
Bezüge eines historischen Gegenstandes zur Lebenswelt der Schüler:innen sind nicht in übermässiger Fülle vorhanden und dienen meist dazu, die positiven Aspekte der Gegenwart gegenüber der tristen Vergangenheit hervorzuheben. Im Begleitband für Lehrpersonen wird zwar für die Behandlung des Themas ‚Industrialisierung in Europa‘ noch empfohlen, sowohl die Licht- als auch die Schattenseiten von Neuerungen, insbesondere des Wandels der Industriegesellschaft zu betonen. Und auch wenn da einleitend erwähnt wird, dass mit dem schnellen Fortschritt der Industrialisierung sich auch Widersprüche eröffneten, dass das Bürgertum «sich durch den neuen Reichtum zu einer einflussreichen Schicht [erhob], während die Arbeiterfamilien um das tägliche Brot kämpfen mussten», so werden im Folgenden die Schattenseiten moderner Prozesse doch kaum beleuchtet. Die Kehrseite des Fortschritts findet höchstens noch Erwähnung in Form von ökologischen Problemen, der hohen Umweltbelastung als Folge des massiven Verbrauchs fossiler Energien beispielsweise. Ansonsten aber werden vorwiegend positive Errungenschaften diskutiert.
Der Durchblick: Wohnen
Das wird etwa deutlich an der Betrachtung der sich entwickelnden Wohnverhältnisse. Infolge der Urbanisierung und einer hohen Geburtenrate im 19. Jahrhundert wurde der Wohnraum in den Städten knapp. Begehrte, geräumige Wohnungen in Mietskasernen konnten sich nur die Gutverdienenden leisten, während in unmittelbarer Nähe zu den Fabriken Arbeiter:innensiedlungen entstanden, in denen teils prekäre Wohnverhältnisse herrschten: Durchschnittlich lebten sechs Menschen in einem Zimmer von 20 Quadratmetern. Die Lernenden sollen einen Vergleich zur eigenen Lebenswelt anstellen: «Es ist für die Empathie der Schülerinnen und Schüler gewinnbringend, einen Aktualitätsbezug herzustellen und ihre gegenwärtige mit der damaligen Lebenssituation zu vergleichen», steht im Begleitband. Wer sich wegen zu wenig Wohnraum beschweren möchte, wer mit der Teilung seines Zimmers mit seinen Geschwistern sich unzufrieden zeigt, dem dürfte «der Vergleich zu einer Familie in einer Arbeitersiedlung im 19. Jahrhundert […] die Augen öffnen», steht da weiter.
Mangelnder Wohnraum soll nicht auf ökonomische oder politische Verhältnisse zurückgeführt werden.
Zwar werden die krassen Unterschiede zwischen einem Leben in der Arbeiter:innenklasse und dem Bürgertum thematisiert – allerdings bloss bezüglich der längst überwundenen Vergangenheit. Neben Bildern von in winzigen Wohnräumen zusammengepferchten Arbeiter:innenfamilien sehen die Lernenden den prunkvollen Speisesaal, in dem das Grossbürgertum zu speisen pflegt. Auch Quellenberichte werden zur Verdeutlichung dieses Gegensatzes herangezogen: Die Erinnerungen eines Kaufmannssohns um 1900 berichten von Mahagoni, hölzernen Wandverkleidungen, Messing, Kristall und Servicemädchen. Der Bericht eines Arbeiters kontrastiert diese Welt des Wohlstands und erzählt feuchten Wänden, schmalen Fenstern und kalten Nächten. Freilich war um 1900 der Gegensatz zwischen den beiden Klassen deutlich sichtbar, trat offen zutage und äusserte sich im Alltagsleben in Form unmenschlicher Wohn- oder Arbeitsbedingungen. Doch ist dieser Gegensatz heute verschwunden? Den Schüler:innen wird folgende Aufgabe gestellt: «Gibt es auch in der heutigen Zeit verschiedene Bevölkerungsschichten? Wenn ja, in welcher Form? Wo liegen die Unterschiede gegenüber der Zeit um 1900?» Im Begleitband für Lehrpersonen ist als Lösung festgehalten, dass die heutige Gesellschaftsstruktur zwar in eine Arbeiter:innen-, Mittel- und Oberschicht unterteilt werden kann, dass aber «jeder Mensch einen Anspruch auf Grundversorgung, soziale Absicherung und ein menschenwürdiges Leben» hat. «Im Vergleich zur Situation um 1900 geht es den Menschen heute sehr gut.» Hier deutet sich ein Entpolitisierungsprozess an: Mangelnder Wohnraum soll nicht auf ökonomische oder politische Verhältnisse zurückgeführt werden. Selbst der kleinste Wohnraum ist verglichen mit der Wohnsituation eines Arbeitenden um 1900 ein Luxus. Sollten sich die Schüler:innen während ihrer späteren Ausbildung keine Wohnung in den zentrumsnahen Gebieten leisten können, wird ihnen hier nicht das Werkzeug in die Hand gegeben, solche Missstände als Gentrifizierungsprozesse wahrzunehmen und diese auf ökonomische Grundlagen oder strukturelle Ungleichheiten zurückzuführen. Hier wird nicht die im Lehrplan geforderte Auseinandersetzung «mit der Komplexität der Welt und deren ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen» gefördert.
Der Durchblick: Arbeit
Zur Herstellung eines direkten Bezugs von der Vergangenheit zur heutigen Lebenssituation der Lernenden eignet sich selbstverständlich das Thema Kinderarbeit. Da die tiefen Löhne der Fabrikarbeiter:innen des 19. Jahrhunderts nur allzu oft nicht zur Ernährung einer Familie ausreichten, arbeiteten beispielsweise in der Textilindustrie bereits sechsjährige Kinder. Ihre kleinen Hände oder ihre geringen Körpermasse befähigten sie zu Arbeiten, die für den ausgewachsenen Menschen nur mühsam zu bewältigen waren. Auch die ihnen ausbezahlten, sehr niedrigen Löhne machten sie bei Unternehmern zu einer äusserst beliebten Arbeitskraft. Der Begleitband meint: «Heutzutage ‚müssen‘ die Schüler:innen jeden Tag in die Schule. Dass es sich dabei um ein Privileg handelt, werden die meisten wohl eher verneinen.» Dieses Privileg soll den Lernenden über einen direkten Alltagsvergleich vor Augen geführt werden: «Die Schüler:innen beschreiben einen Tagesablauf eines Fabrik-Kindes und vergleichen den Arbeitstag mit dem eigenen Alltag.»
Die Botschaft lautet: Schlechter war es früher und ist es woanders.
Interessanterweise werden auch Vergleiche zum gegenwärtigen Alltag von Kindern in anderen Regionen der Welt gezogen. Rund 190 Millionen Kinder (etwa zwei Drittel davon in Asien) im Alter zwischen fünf und vierzehn Jahren arbeiten heute in der Landwirtschaft, in Steinbrüchen oder Fabriken und können keine Schule besuchen. Globale Zusammenhänge oder strukturelle Ursachen für diesen traurigen Missstand werden aber nicht aufgezeigt. Einzig die sogenannte Schuldknechtschaft in Südasien wird als Ursache für noch heute existierende Kinderarbeit genannt: «Die Schulden werden an die nächste Generation weitergegeben und alle Familienmitglieder, auch die Kinder, werden zu Sklaven des Unternehmers.» Die Botschaft lautet: Schlechter war es früher und ist es woanders. Heute darfst du in die Schule, deine Wohnung ist geräumig und es erwartet dich eine Arbeitswelt, in der du dich verwirklichen kannst. Das ist angesichts tatsächlicher Arbeitswelten von heute mindestens schönfärberisch.
Der Durchblick: Geschlechterverhältnisse
Dass Frauen heute wählen und abstimmen dürfen, bis zu einem gewissen Grad in die Arbeitswelt integriert wurden und sich die Rollenbilder gewandelt haben, wird im Buch als erreichte Gleichstellung der Geschlechter präsentiert.
Auch die Stellung der Frau in der Gesellschaft unterliegt stetiger Veränderung und zwischen dieser zu früheren Zeiten und heute lassen sich anschauliche Bezüge herstellen. Im ‚Durchblick‘ ist dem Vergleich zwischen der Stellung der Frau in der Schweiz Anfang des 20. Jahrhunderts und heute eine Doppelseite gewidmet. Frauen mussten seit Beginn des 19. Jahrhunderts in den Fabriken arbeiten und «wurden in der Textilindustrie sogar den Männern vorgezogen, da sie gemäss damaligen Frauenbild fügsamer waren und weniger Widerstand leisteten als Männer. Die Unternehmer mussten ihnen ausserdem für die gleiche Arbeit weniger Lohn zahlen.» Die Schüler:innen sollen insbesondere die dadurch entstehende Doppelbelastung für die Frau im Zeitalter der Industrialisierung erkennen, denn auch die Erledigung der Hausarbeit war Sache der Frau. Und dies in einer Zeit, bevor das Aufkommen technischer Hilfsmittel das Führen des Haushalts erleichterte: Lebensmittel mussten auf dem Markt gekauft, Kleidung selbst genäht und ausgebessert werden. Gewaschen wurde von Hand, mit Seife und Waschbrett und politisches Engagement war den Frauen untersagt. «In vielen Bereichen des Lebens waren die Frauen gegenüber den Männern benachteiligt. […] Seit dem 19. Jahrhundert hat sich viel verändert.»
Dass Frauen heute wählen und abstimmen dürfen, bis zu einem gewissen Grad in die Arbeitswelt integriert wurden und sich die Rollenbilder gewandelt haben, wird hier als erreichte Gleichstellung der Geschlechter präsentiert. Die im Begleitband für Lehrende abgedruckte Lösung zur Aufgabe der Beschreibung des Rollenwandels der Frau seit der Industrialisierung lautet: «Heute sind Frauen und Männer gleichgestellt. Sie haben somit die gleichen Rechte und Pflichten wie Männer.» Die bis heute andauernde ungleiche Entlöhnung zwischen den Geschlechtern wird zwar im Begleitband thematisiert, im Lehrbuch für Schüler:innen steht jedoch: «Um die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann durchzusetzen, verfolgt die Regierung in der Schweiz eine Gleichstellungspolitik. Dass für die gleiche Arbeit gleicher Lohn gezahlt wird, ist heute ohnehin selbstverständlich.» Abgesehen davon, dass das schlichtweg nicht stimmt, hätten auch hier weiterführende Diskussionen angestossen werden können: Inwiefern überwindet die Integration der Frau in den Arbeitsmarkt deren Unterdrückung? Weshalb wurde und wird Hausarbeit im Gegensatz Arbeit ausser Haus nicht entlöhnt? Worin wurzelt eigentlich die Unterdrückung der Frau? Ein Geschichtsunterricht, der darauf abzielt, «dass Schüler:innen anhand von Beispielen aus der Vergangenheit allgemeine, über das konkrete Beispiel hinausweisende Einsichten für die Gegenwart und Zukunft gewinnen», müsste diese Fragen stellen. Ansonsten könnte sich die Schülerin von heute eines Tages wundern, weshalb sie, obwohl sie einen ganz ordentlichen Arbeitsplatz besetzt, weiterhin als Frau wie als Mensch sich ausgebeutet fühlt.
Der Durchblick: Umwelt
Zuletzt wird mit dem Thema Umwelt beziehungsweise deren Zerstörung in gleicher Weise verfahren. «Mit der Industrialisierung in Europa im 19. Jahrhundert begann ein Raubbau an der Natur und eine Verschmutzung der Umwelt in zuvor unbekannten Ausmassen.» Die Liste vernichtender Eingriffe in die Natur ist lang: Zerstörung einzigartiger Landschaften durch Abbau und Transport von Rohstoffen, Rodung von Wäldern, Begradigung, Stauung und Verschmutzung von Gewässern, Luftverschmutzung durch ätzende Abgase der Industrie und vieles mehr. Den Schüler:innen wird aufgezeigt, dass dieser rücksichtslose Umgang mit der Umwelt Folge der ungebremsten Industrialisierung war und sich die Situation bis heute in Europa stark verbessert hat. Ein Gemälde aus dem Jahre 1881 zeigt in düsteren Farben eine von rauchenden Schornsteinen geprägte Stadt und soll den Lernenden zeigen, «dass in Europa die Luftverschmutzung damals schlimmer war als heute.» Das «liegt vor allem daran, dass es bessere (aber auch teurere) Technologien gibt und dass strenge Umweltschutzgesetze eingeführt wurden […].»
Dass Industrie- und Schwellenländer aufgrund globaler ökonomischer Zusammenhänge zu billiger Produktion gezwungen sind und auch die westliche Welt weiterhin unter haarsträubenden Bedingungen produziert und konsumiert – all das wird ausgeblendet.
Umweltprobleme gibt’s nur noch anderswo: «Es vergeht kaum ein Monat, in dem nicht über den Smog in Peking berichtet wird.» In enger Verschränkung mit der Hervorhebung des europäischen Fortschritts berichten die Lehrmittel von rückständigen Zuständen in Schwellen- und Entwicklungsländern – das erinnert an das oben erwähnte Beispiel der Kinderarbeit und wirkt fast wie ein Fingerzeig: «Zwar gibt es heute ein grösseres Bewusstsein für den Schutz der Umwelt und entsprechende Gesetze, doch Korruption und Missmanagement – besonders (aber nicht nur) in Schwellen- und Entwicklungsländern – führen dazu, dass der Umwelt auch weiterhin Schaden zugefügt wird.» Über einem Bild des smogverseuchten Peking prangt der abschätzig wirkende Titel: «Nichts gelernt? Industrialisierung auf Kosten der Natur.»
In den Begleitband findet zwar noch die Überlegung Eingang, dass es «ein Stück weit vermessen [wäre], von den Schwellen- und Entwicklungsländern zu verlangen, dass sie Gesetze wie die unseren sofort befolgen müssen», da schliesslich der europäische Wohlstand wesentlich der ungebremsten, nicht durch gesetzliche Rahmenbedingungen eingeschränkten Produktion geschuldet ist. Tiefergehende Gedanken bleiben aber aus. Dass etwa die Ausbeutung von Natur und Mitmensch gewissermassen in der kapitalistischen Produktionsweise angelegt ist; dass Industrie- und Schwellenländer aufgrund globaler ökonomischer Zusammenhänge zu billiger Produktion gezwungen sind und Europa an dieser Produktion auch durchaus ihr Interesse bekundet; dass auch die westliche Welt weiterhin unter haarsträubenden Bedingungen produziert und konsumiert – all das wird ausgeblendet. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil sowohl im Lehrplan 21 als auch in den danach gestalteten Lehrmitteln dem Wunsch nachhaltiges Denken und Handeln zu fördern besonderer Nachdruck verliehen wird.
Rückzug in die bestehenden Verhältnisse
Im ‘Durchblick’ hat der Griff nach der gesellschaftlichen Wurzel sein Ziel verfehlt.
Wohnen, Arbeit, Geschlechterverhältnisse und Umwelt – das sind nur Beispiele dafür, dass es dem ‘Durchblick’ nicht gelingt, die geforderten Bildungsziele zu erreichen. Zwischen den Zeilen des Lehrplans schimmert überall der Wunsch nach der Förderung der demokratischen Selbsttätigkeit, der Schaffung eines mündigen Menschen durch: Jeder soll seiner eigenen Geschichte nachforschen, seinen Lebenszusammenhang verstehen, sich und sein Leben in grössere Zusammenhänge einbetten ohne Spielball anonymer Mächte zu sein. Doch im ‘Durchblick’ hat der Griff nach der gesellschaftlichen Wurzel sein Ziel verfehlt. Die vorhandenen Lebensweltbezüge dienen der Romantisierung des Alltags. Konsequent wird die Gegenwart gegenüber der düsteren Vergangenheit verherrlicht. Manchmal könnte man ja befürchten, dass dort, wo die Gegenwart und die Zukunft für eigenes Handeln zunehmend verstellt und undurchdringbar scheinen, die Interessen sich von ihnen abwenden und sich überschaubaren, harmonischen historischen Gegenwelten zuwenden.
Das aus den Zwängen der modernen Gesellschaft, dem Leiden an sozialer Desintegration und der versperrten Zukunft resultierende Bedürfnis nach sozialräumlicher Verortung wird mittels einfachster, entpolitisierter Lebensweltbezüge befriedigt.
Aber hier stehen wir vor der umgekehrten Gefahr: Vergangenheit wird nicht zum nostalgischen Fluchtpunkt, sondern dient der Darstellung überwundenen Leids und lässt die Gegenwart als Abschluss des historischen Prozesses erscheinen. Oder anders gesagt: Das aus den Zwängen der modernen Gesellschaft, dem Leiden an sozialer Desintegration und der versperrten Zukunft resultierende Bedürfnis nach sozialräumlicher Verortung wird mittels einfachster, entpolitisierter Lebensweltbezüge befriedigt. Nochmals anders: Dieses Lehrmittel befördert den Rückzug in die bestehenden Verhältnisse.
Schön, dass auch solche Elaborate den Weg in den Blog finden. Aber das Einbringen einer triefend linksideologischen Perspektive der gesellschaftlichen Entwicklungen und Verhältnisse mit all den sattsam bekannten Floskeln, die Analyse vortäuschen, in die obligatorische Schulbildung ist das Letzte, was wir brauchen.
Ich finde, dass das Kozept von Herr Iten sehr wohl in das ideologische Konstrukt des Lehrplans 21 passt. Vermutlich geht ihm einfach der “Durchblick” (was für ein Wort!!!) zu wenig weit. Man kann nur erahnen, wie ein Gechichtsbuch aus seiner Feder aussehen würde. Vielleicht sollte er sich einmal den Pinker oder Hans Roslings “Factfulness” zu Gemüte führen. Aber Achtung Lesewarnung! Die Lektüre dieser Bücher könnte festgefahrene Meinungen erschüttern. Und so etwas will Herr Iten vermutlich weder sich, noch den Schülerinnen oder Schülern zumuten.
Dominic Iten stellt in seiner Analyse eine Diskrepanz zwischen Lehrplanzielen und Lehrmittel fest. Dabei zeigt sich einmal mehr, wie unklar und schwurblig die Kompetenzformulierungen im Lehrplan sein können: «Die Schüler:innen setzen sich mit der Komplexität der Welt und deren ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander. Sie erfassen und verstehen Vernetzungen und Zusammenhänge und werden befähigt, sich an der nachhaltigen Gestaltung der Zukunft zu beteiligen.»
Heisst das tatsächlich, dass Lernende eine kapitalismuskritische und umweltaktive Haltung einnehmen müssen? Wer links-grün eingestellt ist, könnte das Ziel so interpretieren. Bei unvoreingenommener, neutraler Lesart, ist diese Interpretation jedoch nicht zwingend. Wer die “Komplexität der Welt” und die “Vernetzungen und Zusammenhänge” verstehen soll, muss sich zunächst einmal mit den objektiv vorliegenden Fakten vertraut machen. Befähigt sein, “sich an der nachhaltigen Gestaltung der Zukunft zu beteiligen”, heisst nicht, dass zwingend ein links-grünes politisches Handeln erfolgen muss. Was genau “nachhaltige Gestaltung der Zukunft” beinhaltet, wird nicht definiert, kann also verschieden und sehr breit ausgelegt werden.
Dem Lehrmittel “Durchblick” darf Iten jedoch durchaus vorwerfen, ein Geschichtsverständnis zu formulieren, das fortschrittsgläubig aus der Finsternis ins Licht führt, d.h. die Gegenwart zu wenig kritisch darstellt oder Entwicklungen als positiv hinstellt, die auch ihre Schattenseiten haben. Dennoch bildet dies keinen wirklichen Gegensatz zu den zitierten Kompetenzzielen, denn dort fehlt ein Ziel, das etwa so lauten könnte: “Lernende können Vor- und Nachteile von Entwicklungen und politischen Massnahmen für einzelne gesellschaftliche Gruppen und die Umwelt benennen.” Ein solches Ziel würde eine wertfreiere Auseinandersetzung mit geschichtlichen Entwicklungen ermöglichen.