«Menschen denken nicht in Fakten, sie denken in Geschichten», sagt der israelische Historiker Yuval Noah Harari. Und er fügt bei: «Um das menschliche Denken zu verändern, muss man in der Lage sein, eine alternative Erzählung zu konstruieren.»[i] Der Wissenschafter, bekannt und populär geworden durch «Eine kurze Geschichte der Menschheit», bezieht sich dabei auf Bilder, die wir von der Steinzeit haben: eine extrem gewalttätige Zeit mit vielen Kriegen und Morden. Dieses Bild gelte es zu ändern. Mit Erzählungen, mit Geschichten, findet Harari.
«Ich kann nicht! Ich kann es einfach nicht»
Innere Bilder ändern! Diesen Aufwand braucht es manchmal. Auch in der Pädagogik. Gerne erzählte ich Studienanfängern eine Geschichte, Jorge Bucays Parabel «Der angekettete Elefant».[ii] Vorgelesen habe ich sie jungen Berufsleuten, die sich für ein pädagogisches Studium zur Kindergärtnerin oder zum Lehrer entschieden hatten und einen Vorbereitungskurs bestehen mussten. Fachlich anspruchsvoll, oft nach Jahren der beruflichen Distanz zur Schule. Sie hatten Angst vor dem Fach Geschichte mit den unzähligen Fakten und Jahreszahlen beispielsweise oder vor der Mathematik und ihren logischen Problemen. «Ich kann das nicht! Ich kann es einfach nicht», war ein oft gehörter Stossseufzer. Und der fast resignative Zusatz: «Darum wohl werde ich mit dem Fach meine Mühe haben – und scheitern!»
«Komm, ich erzähl dir eine Geschichte.» So heisst ein leichtfüssiger und lehrreicher Geschichtenband von Jorge Bucay, und so beginnt auch die erste Erzählung. Demian, der junge Mann, weiss, dass er manches nicht kann. Er hat es schmerzlich erfahren; das nagt in ihm. Mit seinen Zweifeln kommt er zu Jorge. Der liebenswürdige, weise Optimist erzählt ihm die erhellende Geschichte vom angeketteten Elefanten.
Angekettet an einen Pflock
Sie geht so: «Als ich ein kleiner Junge war, hat mich der Zirkus fasziniert. Vor allem der Elefant hatte es mir angetan, das Lieblingstier vieler Kinder. Während der Zirkusvorstellung stellte das riesige Tier sein ungeheures Gewicht, seine eindrucksvolle Grösse und seine Kraft zur Schau. Nach der Vorstellung aber und auch in der Zeit bis kurz vor seinem Auftritt blieb der Elefant immer am Fuss an einen kleinen Pflock angekettet.
Der Pflock war allerdings nichts weiter als ein winziges Stück Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief in der Erde steckte. Und obwohl die Kette mächtig und schwer war, stand für mich ganz ausser Zweifel, dass ein Tier, das die Kraft hatte, einen Baum mitsamt der Wurzel auszureissen, sich mit Leichtigkeit von einem solchen Pflock befreien und fliehen konnte. Dieses Rätsel beschäftigt mich bis heute. Was hält ihn zurück? Warum macht er sich nicht auf und davon?
Die Ohnmacht akzeptieren und sich ins Schicksal fügen
Als Sechs- oder Siebenjähriger vertraute ich noch auf die Weisheit der Erwachsenen. Also fragte ich einen Lehrer, einen Vater oder Onkel nach dem Rätsel des Elefanten. Einer von ihnen erklärte mir, der Elefant mache sich nicht aus dem Staub, weil der dressiert sei. Meine nächste Frage lag auf der Hand: «Und wenn er dressiert ist, warum muss er dann noch angekettet werden?»
Vor einigen Jahren fand ich heraus, dass zu meinem Glück doch schon jemand weise genug gewesen war, die Antwort auf die Frage zu finden: Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er schon seit frühester Kindheit an einen solchen Pflock gekettet ist! Ich schloss die Augen und stellte mir den wehrlosen neugeborenen Elefanten am Pflock vor. Ich war mir sicher, dass er in diesem Moment schubst, zieht und schwitzt und sich zu befreien versucht. Und trotz allem gelingt es ihm nicht, weil dieser Pflock zu fest in der Erde steckt. Ich stellte mir vor, dass er erschöpft einschläft und es am nächsten Tag gleich wieder probiert, und am nächsten Tag wieder, und am nächsten… Bis eines Tages, eines für seine Zukunft verhängnisvollen Tages, das Tier seine Ohnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt.
Dieser riesige, mächtige Elefant, den wir aus dem Zirkus kennen, flieht nicht, weil der Ärmste glaubt, dass er es nicht kann.
Als wären wir an Hunderte von Pflöcken gekettet
Dieser riesige, mächtige Elefant, den wir aus dem Zirkus kennen, flieht nicht, weil der Ärmste glaubt, dass er es nicht kann. Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtig er sich kurz nach seiner Geburt gefühlt hat, in sein Gedächtnis eingebrannt. Und das Schlimme dabei ist, dass er diese Erinnerung nie wieder ernsthaft hinterfragt hat. Nie wieder hat er versucht, seine Kraft auf die Probe zu stellen.» Der Erzähler Jorge schweigt vorerst.
«So ist es, Demian», fährt Jorge nach einer Pause fort: «Uns allen geht es ein bisschen so wie diesem Zirkuselefanten: Wir bewegen uns in der Welt, als wären wir an Hunderte von Pflöcken gekettet. Wir glauben, einen ganzen Haufen Dinge nicht zu können – bloss, weil wir sie ein einziges Mal, vor sehr langer Zeit, damals, als wir noch klein waren, ausprobiert haben und gescheitert sind. Wir haben uns genauso verhalten wie der Elefant, und auch in unser Gedächtnis hat sich die Botschaft eingebrannt: Ich kann das nicht, und ich werde es niemals können.»
Geschichten erhellen oft auch Biographisches
Und Jorge schliesst: «Mit dieser Botschaft, Demian, der Botschaft, dass wir machtlos sind, sind wir gross geworden, und seitdem haben wir niemals mehr versucht, uns von unserem Pflock loszureissen. Manchmal, wenn wir die Fussfesseln wieder spüren und mit den Ketten klirren, gerät uns der Pflock in den Blick, und wir denken: Ich kann nicht, und werde es niemals können.»
Genau das haben auch manche Studienanfänger erlebt. Ihr Leben war geprägt von einer Erinnerung an sich selbst und damit eine Person, die manches nicht verstand und manches nicht konnte, Mathematik zum Beispiel oder Deutschaufsätze. Das erzählten sie mir in den Aufnahmegesprächen. Oft mit Tränen in den Augen.
Ausprobieren! Aus ganzem Herzen!
Gemeinsam nahmen wir uns vor, was Jorge dem jungen Demian geraten hat: «Der einzige Weg herauszufinden, ob du etwas kannst oder nicht, ist, es auszuprobieren, und zwar mit vollem Einsatz. Aus ganzem Herzen!» Diese Devise haben wir uns zum Leitsatz gemacht. Manchen hat es geholfen, dieses positive innere Bild. Es hatte Kraft. An der Diplomfeier vier Jahre später erinnerten mich einige an Bucays Geschichte; augenzwinkernd meinten sie: «Das möchte ich auch bei meinen kommenden Schülerinnen und Schülern bewirken.»
[i] Ulrich Schnabel, Wissen Weltgeschichte. Ein Gespräch mit Harari, in: DIE ZEIT, 21.10.2021, S. 36.
[ii] Jorge Bucay (2005), Komm, ich erzähl dir eine Geschichte. Aus dem Spanischen von Stephanie von Harrach. Zürich: Ammann Verlag, S. 7ff.