16. Oktober 2024

Unsere Autorinnen und Autoren empfehlen: Büchertipps zum Jahreswechsel! 1. Teil

Oft sind es die Weihnachtstage und jene danach, die uns Zeit geben, für uns und unsere Gedanken, in wohliger Stille und entspannter Ambiance. Wenig passt dazu besser als ein Buch. Hier bringen wir – wie angekündigt – den ersten Teil unserer Autorinnen- und Autoren-Tipps.

Alain Pichard: Ein pädagogisches Poem.
Eine vergilbte Ausgabe in der Bibliothek von Alain Pichard. Es gibt moderne Ausgaben.

Tipp 1: Makarenko: Der Weg ins Leben

Keine Frage, man muss dieses Buch heute mit einer kritischen Distanz lesen. Es entstand in der frühen Sowjetepoche und reicht bis in die Zeit der stalinistischen Massenmorde. Es ist leidenschaftlich den Idealen der russischen Revolution verpflichtet und hat einen starken kollektiven Ansatz. Trotzdem ist es ein faszinierendes pädagogisches Poem, das gerade in der heutigen Zeit Mut machen kann. Im Jahr 1920 beteiligte sich Makarenko an der Neuorganisation der Schulen als Arbeitsschulen. Im November des Jahres 1920 begann er – in einem vom eben beendeten Russischen Bürgerkrieg zerstörten und von Hungersnot und marodierenden Banden geplagten Gebiet – mit dem Aufbau eines Arbeitsheims für straffällig gewordene Jugendliche, der späteren Gorki-Kolonie, benannt nach dem russischen Schriftsteller Maxim Gorki. Anstelle einer früheren militärisch geführten Jugendstrafkolonie entstand unter seiner Führung die erste koedukative pädagogische Einrichtung dieser Art in der Sowjetunion. Die ersten Zöglinge waren im Krieg verwaiste, verwahrlost aufgegriffene Kinder – junge Diebe, Bandenmitglieder, Kindersoldaten, Kinderprostituierte.

Dieses Buch liest sich leicht, ist gespickt mit vielen spannenden Erzählungen und lässt uns in eine Epoche blicken, in der es – überraschenderweise – auch in der Pädagogik zu Erkenntnissen kam, die auch für unsere Zeit interessant sein könnte. Als junger linker Lehrer hat mich dieses Buch geprägt wie kein anderes.

Georg Geiger, pens. Gymnasiallehrer, Basel-Stadt. Man weiss nicht, ob man kotzen oder hüpfen soll.

Tipp 2: Svenja Leiber: Kazimira

Ein Frauen-Roman über die Wucht der Geschichte

Die 1975 in Hamburg geborene Svenja Leiber führt die Lesenden durch ein ganzes Jahrhundert, zwei Weltkriege und vier Generationen von Frauen und deren Familien entlang eines der grössten Bernsteinbergwerke der Geschichte an einem abgelegenen Ort am Baltischen Meer. Es beginnt mit der Hauptfigur Kazimira, die mit ihrem Mann aus der Armut findet und sich emanzipiert, über den Horror der Naziherrschaft, den Einmarsch der Sowjets bis zur alleinerziehenden Nadja, die sich 2012 in einem Bernsteinshop über Wasser zu halten versucht.

So wie am Schluss des Romans ein sowjetischer Soldat gesteht, dass er auf Grund der Schönheit des zweijährigen deutschen Flüchtlingsbuben eben diesen ausgewählt und damit gerettet habe und er sich damit schuldig gemacht habe, so wählen die Bernsteingraber die schönsten Steine und verkaufen sie in die ganze Welt. Ein Roman so voller Leben, Leid und Vergänglichkeit, dass man nicht weiss, ob man kotzen oder hüpfen soll.

Tipp 3: Krise und neuer Anfang

Jochen Krautz,Präsident der Gesellschaft Bildung und Wissen: Frischer Mut, zupackende Hände, gemeinschaftliches Zusammenstehen und große Ausdauer.

Als im Juli 2021 das Hochwasser aus meinem Arbeitszimmer abgeflossen war, balancierten wir mit vielen Helfern durch den Schlick und packten die klammen Bücher in Kisten. Dabei fiel mir ein Band entgegen: „Krise und neuer Anfang“ von Otto Friedrich Bollnow, einem bedeutenden geisteswissenschaftlichen Pädagogen der Nachkriegszeit.

Bollnow schreibt nicht über Hochwasser und auch nicht über Corona. Aber er handelt von der Krise der Kultur. Die Kulturkrise mache Kritik notwendig. Kritik sei aber „nicht Ablehnung um jeden Preis, sondern dem ursprünglichen Wortsinne nach der Prozeß der Prüfung und Reinigung, durch den die von außen angebotene Meinung in eine auf freier Stellungnahme beruhende eigene Meinung verwandelt wird.“

Diese Prüfung und Reinigung ermögliche gerade in der Krise eine Rückbesinnung. Das bedeute jedoch nicht die – illusorische – Rückkehr zu vermeintlich besseren Zeiten. Vielmehr gehe es um die „Freilegung des verschütteten Grundes“, also die neu belebende Wiederbesinnung auf Kern und Ursprung der Sache: „Es sind Vorgänge, denen im Verlauf der Gesamtgeschichte die Zeiten der Renaissance entsprechen.“

Dass schulische Bildung und pädagogisches Denken in einer Krise sind, ist weitläufiger Konsens. Dass es, um diese Krise zu bewältigen, einer Wiederbesinnung auf deren tragende Gründe bedarf, ist weniger geläufig. Dabei wäre eben das die Aufgabe der Gegenwart: Den „verschütteten Grund“ der Pädagogik freizulegen, wieder zu gebären (renascere) und für die Gegenwart neu auszulegen.

Die Arbeit nach der Flut machte aber auch klar: Ein solcher Neuaufbau braucht nicht nur verjüngten Geist, sondern genauso frischen Mut, zupackende Hände, gemeinschaftliches Zusammenstehen und große Ausdauer. Und so kann Bollnow Buch nicht nur pädagogische Besinnung anregen, sondern auch pädagogisches Zupacken ermutigen, um Schule aus der Krise heraus zu neuem Anfang zu führen.

 

Roland Stark, ehem. SP-Parteipräsident der Sektion Basel-Stadt, Heilpädagoge: Pflichtlektüre.

Tipp 4: Februar 33

Uwe Wittstock erzählt die letzten Tage der Weimarer Republik als spannendes und erschreckendes Doku-Drama. Adolf Hitler ist schon Reichskanzler, mit Gewalt und Terror verfolgen die Nazis vor den letzten Wahlen am 5. März 1933 KPD und SPD.

Die Literaten sind gefährdet, viele verlassen das Land. Das Buch handelt von der Vernichtung der kulturellen Elite: Carl Zuckmeyer, Thomas und Heinrich Mann, Ernst Toller, Joseph Roth, Ricarda Huch, Else Lasker-Schüler, Alfred Kerr, Bert Brecht, Mascha Kaleko, Alfred Döblin, Ernst Kästner treten auf, aber auch Verklärer wie Gottfried Benn oder Opportunisten wie Oskar Loerke.

Die historische Zäsur Februar 1933: „Packend und beängstigend“, wie Sten Nadolny schreibt, „die Verwandlung Deutschlands in eine Hölle aus Diktatur und Terror.“ Mit einem Wort: Pflichtlektüre.

 

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