19. März 2024

Ein Plädoyer für die Fächer

Der Genfer Professor Bernard Schneuwly, der bei der Entstehungsgeschichte unseres Bildungsblogs Pate stand und uns allen die Bedeutung des Marquis de Condorcet bewusst machte, stellte uns ein wichtiges Bildungsdokument aus seiner Werkstatt zur Verfügung. Es geht um die Bedeutung der Fächer, die er als Garant für die Universalität der Bildung hält. In einer Zeit, in der Fächer aufgehoben, Kombinationen wie ERG, NMG, RGM die Runde machen und überfachliche Kompetenzen gepredigt werden, setzt Bernard Schneuwly einen deutlichen Kontrapunkt und weist nach, dass damit auch der Bildungsbegriff verwässert zu werden droht.

Bernard Schneuwly, emer. Professor für Pädagogik in Genf. Er war der Gastreferent bei der Gründungsversammlung des Condorcet-Blogs am 18. Mai 2019 in Bern

Der Begriff der Bildung, maßgeblich von Wilhelm von Humboldt entwickelt, und derjenige der instruction, entscheidend vom Marquis de Condorcet definiert, prägen bis heute die Schule in deutsch- und französischsprachigen Kulturen. Sobald Bildung/instruction für alle durch öffentliche Institutionen garantiert wird, setzt sich das Schulfach als allgemeines Prinzip der Ordnung schulischen Wissens durch. Ich vertrete die These, dass das Schulfach die sozio-historische Form des modernen Schulsystems darstellt, in der der Begriff „Bildung/instruction“ sich in widersprüchlicher Art und Weise ständig weiterentwickelt hat. Ausgehend von der von Humboldt geprägten Definition von Bildung, die in Condorcets Begriff der „instruction“ gespiegelt wird, diskutiere ich vier Thesen:

1. Der Kanon der Schulfächer bietet Schülern, Humboldts und Condorcets Begriffe zum Teil realisierend, eine „Mannigfaltigkeit von Situationen“ zur Entwicklung von Fähigkeiten.

2. Schulfächer sind Gebilde, die widersprüchliche Erwartungen an Schule integrieren: Bildung als
Entwicklung der eigenen Fähigkeiten, Kontrolle des Denkens und Verhaltens als „governing de soul“; nationale Kohäsion, Auslese und Unterscheidung von Schülern.

3. Die Tatsache, dass die Schulfächer allen Schulstufen gemeinsam sind, macht
es möglich, dass Wissen und Können mehr Schülern zugänglich gemacht werden kann, als dies zuvor der Fall gewesen ist.

4. Schulfächer verbinden globale, universale mit lokalen und regionalen Inhalten und Zielen.

Marquis de Condorcet 1742 -1794: Jedem die Möglichkeit gewährleisten…
Willhelm von Humboldt, 1767 – 1835: Schulfächer sind vielschichtige, historisch gewachsene Gebilde.

1. Einleitung
Seit über 150 Jahren heißen in der deutschen Schweiz die meisten den deutschen Kultusministerien analogen Institutionen „Bildungsdepartement“, und in der französischen Schweiz „départements de l’instruction publique“. Dies verweist auf eine lange Geschichte, die sich in den vielfältigen, zum Teil widersprüchlichen, oft gesellschaftlich umkämpften Bedeutungen dieser beiden Wörter niedergeschlagen hat, die die Diskurse über Schule als hauptsächliche gesellschaftliche Anstalt für die Ermöglichung und Beförderung der Bildung und der instruction beeinflussten. Sie beinhalten zentrale Anliegen, die mit Demokratie und Gleichheit zu tun haben, auch wenn sie zugleich ihr Gegenteil einschließen können. Die Institutionen mit ihren bedeutungsbeladenen Namen entstehen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, ungefähr gleichzeitig mit der Verallgemeinerung der Ordnung des zu lehrenden und lernenden Wissens und Könnens durch Schulfächer.

Schulfächer sind vielschichtige, historisch gewachsene Gebilde.

Diese Gleichzeitigkeit ist mehr als anekdotisch: Bildung und Schulfach, instruction und discipline scolaire stehen seit dem Entstehen der modernen Schulsysteme in einem engen Zusammenhang. In vorliegendem Beitrag bestimme und illustriere ich einige zentrale Aspekte dieses Zusammenhangs. Dafür skizziere ich in einem ersten Schritt den Begriff der Bildung und kontrastierend dazu denjenigen der instruction. Ich zeige dann auf, dass Schulfächer Resultat der Entwicklung der modernen Schulform sind, die sich im 19. Jahrhundert entwickelte und gebe eine erste, allgemeine Definition des Schulfachs, die ich auf der Grundlage einer kurzen Darstellung der Hauptthesen zweier gegensätzlicher Ansätze der Geschichte von Schulfächern vertiefe und präzisiere. Darauf aufbauend beschreibe ich wesentliche Dimensionen des Verhältnisses von Bildung und Schulfach in vier Thesen, die ich in den darauf folgenden Teilen vertiefe und durch Resultate wissenschaftlicher Arbeiten illustriere:

1. Die Organisation in Schulfächer garantiert „Mannigfaltigkeit von Situationen“ (Humboldt), und geht in Richtung des „ganzen Systems menschlicher Kenntnisse“ (Condorcet).
2. In Schulfächern sind zentrale Elemente der Bildung in widersprüchlicher Form aufgehoben. Diese Elemente sind Ausdruck der Multifunktionalität des Schulsystems: Schulfächer sind Kampfplätze.
3. Aus der Veränderbarkeit der Schulfächer ergibt sich die Möglichkeit, mehr Schülern Zugang zu breiterem Wissen zu geben.
4. Das institutionelle Gefäß „Schulfach“ bietet die Möglichkeit, lokale, regionale oder nationale mit universalen Ansprüchen an Bildung zu verbinden.

Bernard Schneuwly, Genf

Den ganzen Teil der Überlegungen von Herrn Schneuwly können Sie hier herunterladen.

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