29. März 2024

Die Schulvorbereitungspflicht ist für offene Gesellschaften unumgänglich

Markus Waldvogel setzt bei der Forderung nach mehr Chancengerechtigkeit und Bildung für alle bei der Familie an. Seiner Ansicht nach könne es der Staat nicht hinnehmen, wenn immer mehr Kinder gar nicht mehr schulfähig sind.

Dr. Markus Waldvogel, pens. Gymnasiallehrer in Biel, Philosoph, Gründer der Philosophietage in Biel

In philosophischen Kreisen gehört es zum guten Ton, sich der Frage, wie es wäre, gebildet zu sein, zu stellen. Mit viel Verve wird über Halbbildung, wahre Bildung und die Ware Bildung gestritten. Dahinter steckt meist ein Bild vom Menschen, der aufnahmefähig, motiviert und «frei» ist, was einengende Traditionen, religiöse Dogmen, familiäre Traumata oder Genderfragen betrifft. Angesichts dieser Voraussetzungen ist es klar, dass das Profil der Allgemeinbildung im Verhältnis zur «blossen» Ausbildung resp. die humanistische Bildung und die grossen Wünsche an die Bildung, wie sie etwa der Lehrplan 21 zum Ausdruck bringt, im Vordergrund stehen. Ins Auge sticht aber, wie wenig die Bedingungen für die Möglichkeit von Bildung und damit auch von Persönlichkeitsentwicklung untersucht werden. In der Presse wurde in den letzten Wochen darüber berichtet, dass laut einer repräsentativen deutschen Studie 40 Prozent der Kinder, die seit 2010 geboren wurden -also die Kinder der sogenannten Generation Alpha- Auffälligkeiten im sprachlichen Bereich, 19 Prozent im motorischen Bereich und 30 Prozent pens. im sozialen Bereich zeigen würden. Das ist traurig. Doch ist es zwingend?

Carl Oechslin (1916-1971) Unternehmer, Denker, Wirtschaftshumanist: Wo das Leben sich frei entfalten kann, sind die Gegenätze auch offen da.

Carl Oechslin schrieb 1958, dass die lebendige Meisterung von Konflikten eine hohe kulturelle Aufgabe sei. «Wo das Leben sich frei entfalten kann, sind die Gegenätze auch offen da. Das Problem besteht darin, sie zu einer … Einheit zu führen und nicht, sie hinter Schein-Lösungen weiterfressen zu lassen … oder aber sie überhaupt zu unterdrücken!» Das geschilderte Phänomen der Scheinlösungen, des vorauseilenden Abfederns von Widersprüchen oder die Scheu vor pointierten Auseinandersetzungen in einer aufs Funktionieren getrimmten Gesellschaft, hat sich natürlich in den letzten 60 Jahren massiv verändert. Wir sind tatsächlich in der globalisierten Welt mehr denn je auf Kompromisse aus. Ob das Scheinlösungen sind, bleibe dahingestellt. Doch wer in offenen Gesellschaften die Schule als Voraussetzung für die Demokratie bezeichnet, muss sich mit Gottfried Kellers «Zu Hause muss beginnen, was im Staate leuchten soll …» (frei zitiert) beschäftigen, weil er sonst entwicklungspsychologische Fakten, was das Aufwachsen und Werden «kleiner Persönlichkeiten» und das Gewicht der ersten Lebensjahre betrifft, schlicht unter den Tisch wischt und Schulen und Kindergärten «von Beginn weg» im Regen stehen lässt.

Die damit verbundene Chance, offen über Wertevermittlung und Demokratie zu reden, wird allerdings oftmals -auch aufgrund berechtigter Ängste- nicht genutzt, gerade weil die Wertekonzepte zwischen Schule und Elternhaus zunehmend divergieren.

Bildung baut auf die Familie.

Das wiegt schwer, weil das demokratische Bildungskonzept immer schon auf Allgemeinbildung ausgerichtet war. Allgemeinbildend meinte ursprünglich „nicht nur die reinen Kulturtechniken betreffend“. Bildung sollte Lesen, Schreiben und Rechnen vermitteln und zusätzlich den Blick in die Welt öffnen. Und das für jedermann. Genauso, wie man bis in die 70er-Jahre die Vielfalt der Presse als Bannwald der Demokratie bezeichnete, hatte die Volksschule (idealerweise) das Fundament der Demokratie sicherzustellen. Dies in engster Zusammenarbeit mit den Familien. Diese Verlinkung blieb von Beginn weg ein Sorgenkind der allgemeinen Schulpflicht. Immerhin konnten die Pädagogen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in wenn auch zweifelhafter Übereinstimmung mit den Werten vieler Elternhäuser agieren. Niemand trauert allerdings den Auswüchsen dieser Zeit nach. Literarisch wurden sie u.a. von Hermann Hesse in „Unterm Rad“, Friedrich Torberg im „Schüler Gerber“ oder Robert Musil in „Der Zögling Törless“ eindrücklich bearbeitet. Die autoritäre Pädagogik hat hierzulande in den letzten Jahrzehnten viel Terrain verloren. Die damit verbundene Chance, offen über Wertevermittlung und Demokratie zu reden, wird allerdings oftmals -auch aufgrund berechtigter Ängste- nicht genutzt, gerade weil die Wertekonzepte zwischen Schule und Elternhaus zunehmend divergieren. Werte können zugegebenermassen nicht einfach so eingefordert, sie dürfen aber keinesfalls ignoriert, überspielt werden.

Die Zivilgesellschaft muss grundsätzlich festlegen, welche ethischen und politischen Werte die Schule zu vertreten hat und sie muss den Lehrpersonen in diesen Fragen den Rücken stärken.

Es braucht eine permanente Auseinandersetzung und deutlich mehr als nur Anknüpfungspunkte wie «Wir wollen, dass unsere Kinder Karriere machen» oder «Bildung verhilft zu Reichtum» oder »Die Schule ist allein für die individuelle Förderung da». Wenn eine verantwortungsvolle Bildung beispielsweise auf gleichberechtigte Geschlechter oder laizistische Werte Gewicht legt, führt das rasch zu derartigen Spannungen mit Kindern und Eltern, dass schulinterne oder kommunale Lösungen nicht mehr ausreichen.  Die Zivilgesellschaft muss grundsätzlich festlegen, welche ethischen und politischen Werte die Schule zu vertreten hat und sie muss den Lehrpersonen in diesen Fragen den Rücken stärken. Damit werden Energien frei für die ureigenste Aufgabe von Schule, nämlich Interessen zu wecken. Schüler*innen, die über ein mathematisches, natürliches, sprachliches oder soziales Phänomen staunen, die sich begeistern lassen, sind vom wichtigsten Virus befallen, den Erziehung und Schule verbreiten kann. Diese „Krankheit“ hat die Nebenwirkung, dass Befallene mehr wissen möchten.

Der Wissensdurst muss gestillt werden. Schulen, die sich mit der Neugier und dem Wissensdrang –auch unter der Last der Verhältnisse- schwertun, verpassen die Erfüllung ihres staatspolitischen Auftrages ebenso, wie wenn sie sich nicht um jene kümmern, die aus soziologischen, pädagogischen oder psychologischen Gründen ihre Bildung nur stolpernd unter die Füsse nehmen.

Bild: Pietro Masztalerz aus Schlaue Bilder, Lappan

Der Wissensdurst muss gestillt werden. Schulen, die sich mit der Neugier und dem Wissensdrang –auch unter der Last der Verhältnisse- schwertun, verpassen die Erfüllung ihres staatspolitischen Auftrages ebenso, wie wenn sie sich nicht um jene kümmern, die aus soziologischen, pädagogischen oder psychologischen Gründen ihre Bildung nur stolpernd unter die Füsse nehmen. Es wäre ein verheerender Irrtum, in diesem Spektrum schwergewichtig entscheiden zu wollen.  Natürlich haben die Schulen auch einen Erziehungsauftrag, primär sind sie aber der Bildung verpflichtet. Keine Schule kann es sich langfristig leisten, andauernd gröbere Abstriche vorzunehmen, wenn es darum geht, auf intelligente, schöpferische und anspruchsvolle Weise zu unterrichten. Das erzieherische Anliegen aber wird sofort, wenn die Eltern resp. die Erziehungsbevollmächtigten damit überfordert sind, zu einer schwergewichtigen und teuren Angelegenheit. (Carlos lässt grüssen). Auf alle Fälle ist es ein gefährlicher Weg, wenn die Gründe für eine beschränkte Schulfähigkeit systematisch nicht analysiert werden. Trotz aller Schulsozialarbeit kann Schule nämlich in sehr vielen schwierigen Fällen nur Feuerwehr spielen. Bei einer Anhäufung von beschränkter Schulfähigkeit liegt nicht ein pädagogisches Malaise vor, sondern ein gesellschaftliches. Dieses nicht beim Namen zu nennen und politisch nicht anzupacken, kann nicht im Interesse der Bürger*innen sein.

Wenn die Anzahl der beschränkt schulfähigen Kinder stetig ansteigt, liegt ein Notstand vor.

Im Interesse der Schulen ist es ebenfalls nicht, mit Notmassnahmen den Betrieb aufrecht erhalten zu wollen. Die Zahl der erschöpften Aussteiger*innen aus dem Lehrberuf spricht da eine deutliche Sprache. Wenn die Anzahl der beschränkt schulfähigen Kinder stetig ansteigt, liegt ein Notstand vor. Diesen zu verdrängen in der Hoffnung, sozial aufgerüstete Schulen würden es richten, ist keine längerfristige Problemlösestrategie. Es gibt eben nicht nur die Schulpflicht. Es gibt auch eine Schulvorbereitungspflicht, die Erziehung eben. Die Haltung, die den Staat fast völlig aus elementaren Fragen der Erziehung heraushalten will, ist historisch gewachsen, nachvollziehbar und sie war während längerer Zeit praktikabel. Aber genauso, wie beispielsweise die allgemeine Schulpflicht eine historische Notwendigkeit war, wird die Schulvorbereitungspflicht -im Interesse aller Beteiligten- eine geschichtliche Tatsache werden. Die westlichen Gesellschaften können es sich nicht mehr lange leisten, ihre Schulen dafür büssen zu lassen, dass Vorschulprobleme politischen, kulturellen und soziologischen Ursprungs nicht als öffentliche Angelegenheit betrachtet werden. Die Kinder mit Lungenkrankheiten in den vom Smog geplagten Grossstädten des 19. Jahrhunderts wären auch nicht gesünder geworden, hätte man in den Schulen mehr Ärzte angestellt. Es ist an der Zeit, Familienpolitik und Bildungspolitik in ihrer jeweiligen Eigenheit zu betreiben, und zwar als mitunter gleich wichtige öffentliche Themen. So ist beispielsweise die tendenziell frühere Einschulung der Kinder nicht mehr als eine sinnvolle Massnahme in Richtung der Persönlichkeitsbildung. Eine massiv intensivierte Elternarbeit wird folgen müssen. Mit dieser steht und fällt jegliches spätere Unterrichtsgeschehen mit allen gängigen Themen wie Allgemeinbildung, Digitalisierung der Schule oder verbesserte Bildungschancen für alle.

Dieser Artikel ist zuerst in den Schaffhauser Nachrichten erschienen (20.11.21)

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Dr. Eliane Perret knüpft an die Ausführungen des Sekundarlehrers Iten an, der sich mit den Ursachen des Lehrkräftemangels beschäftigte (https://condorcet.ch/2022/09/lehrkraeftemangel-falsche-ursachen-verkehrte-schlussfolgerungen/). Auch sie legt den Fokus auf die neoliberalen Reformen der Vergangenheit.

Ein Kommentar

  1. Viele grosse Pädagogen haben seit Jahrhunderten darauf hingewiesen, dass die Schule im Elternhaus beginnen muss und dass der Elternberuf, der schwierigste Beruf der Welt ist. Pestalozzi hat zum Beispiel dafür das Buch «Wie Gertrud ihre Kinder lehrt» geschrieben. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit waren die Lehrer nicht ausgebildet, was man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Das Eltern ausgebildet werden müssen, damit sie ihre Kinder adäquat erziehen können, ist jedoch noch nicht Allgemeingut geworden und man verkennt dabei, dass Eltern unbewusst ihre Kinder so erziehen, wie sie es bei ihren Eltern erlebt haben, auch wenn sie das um keinen Preis möchten. Obwohl wir seit dem 20. Jahrhundert in der glücklichen Lage sind, wissenschaftliche Erkenntnisse über eine gesunde Kindererziehung haben, sind Beispiele, wo der Staat die Schulvorbereitung an die Hand genommen hat, rar: Nach dem ersten Weltkrieg wurden in der Stadt Wien, damals eine Hochburg der Tiefenpsychologie, dreissig von psychologisch geschulten Lehrern und Ärzten geführte Erziehungsberatungsstellen eingerichtet. Elternschulen zur Schulvorbereitung bzw. Kindererziehung müssten ebenso unentgeltlich sein, wie die Schulen. Der Staat hatte im 19. Jahrhundert die Schulpflicht eingeführt, um allen Kindern eine Chance zu geben, obwohl sich viele Eltern dagegen gewehrt haben. Eine Elternschulpflicht hätte das gleiche Ziel, auch wenn wir uns das heute noch nicht vorstellen können.

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