23. April 2024

Eine kurze Chronik der 20 Berner Schulreformen: durchzogene Bilanz

Haben wir nun eine “Reformitis” oder nicht? Condorcet-Autor Alain Pichard hat in seinem Kanton Bern rückblickend recherchiert, 20 Reformen herausgepickt, deren Zielsetzungen festgehalten und ihr Ergebnis bewertet.

Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1: Sind das Bildungsinvestitionen?

Das Jahr 1996 darf aus heutiger Sicht als Startpunkt für die einsetzende «Reformitis» in der bernischen Bildungslandschaft bezeichnet werden. In diesem Jahr wurde im Kanton Bern die von der Bevölkerung gutgeheissene 6/3-Initiative umgesetzt, welche den Sekundarschulübertritt von der 4. Klasse auf Ende des 6. Schuljahres verlegte. Die Verschiebung des Sekundarschulübertritts beinhaltete mehrere organisatorische Folgereformen, wie zum Beispiel die Bildung der Oberstufenzentren. Es folgte eine Kaskade von weiteren Neuerungen, deren Sinn und Nutzen stark variierten. Nachfolgend möchte ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben –  die einzelnen Reformen auflisten, ihre Ziele stichwortartig darlegen und ihre Wirkung bewerten.

1. 1996 – Einführung des 6/3 Modells

Ziel: Durchlässigkeit erhöhen, spätere Selektion

Bewertung: überfällige Strukturreform; sinnvoll

2. 1996 – Abschaffung des Beamtenstatus, Einführung der öffentlich-rechtlichen Anstellung

Ziel: flexiblere Anstellungen, Möglichkeit der Entlassung der Lehrkräfte, Abschaffung der Lehrerkategorien

Bewertung: sinnvolle Gesetzesreform mit dem Effekt, dass die Lehrkräfte keine Beamten, sondern öffentlich-rechtliche Angestellte wurden. Die starre 2-Klassen-Gesellschaft der Lehrpersonen (definitiv gewählte vs. provisorisch gewählte Lehrpersonen) wurde abgeschafft.

3. 1996 – Einführung der geleiteten Schulen

Ziel: stringente Führung eines Kollegiums, Definition von Zuständigkeiten und Kompetenzen, bessere Kontrolle der Lehrkräfte, Lehrpersonenwahl neu bei Schulleitung, erweiterte Kompetenzen im pädagogischen Bereich und in der Schlichtung von Konflikten

Bewertung: zwiespältig, einerseits notwendige Effizienzsteigerung, andererseits Gefahr der Fremdsteuerung und Willkür. Wer kontrolliert die Schulleitungen?

4. 1996 – Neugestaltung der Schulaufsicht: Gemeinden können Schulkommissionen abschaffen. Schulaufsicht wird professionalisiert und nicht gewählten Beamten übergeben.

Ziel: modernere betriebswirtschaftliche Führung von Schulen, Teilautonomie, Erhöhung von Karrierechancen für Lehrkräfte, schnellere und professionellere Entscheidungsfindung

Bewertung: grundsätzlich positiv, oft bessere und schnellere Entscheidungen bei Lehrerwahlen und Konflikten, mehr Autonomie für die Schule. Negativ: direkte Kontrolle durch die Träger des Schulwesens nicht mehr möglich, mehr Macht für die Verwaltung

5. 1998 – Einführung von Qualitätsmanagement an den Schulen

Ziel: bessere Unterrichtsqualität und transparente Abläufe

Bewertung: versandete Reform, zu kompliziert und zu kostspielig; wurde eingestellt

6. 1999 – Umgestaltung des 9. Schuljahres

Ziel: die Zahlen zum 10. Schuljahr senken

Bewertung: im Ansatz interessante, aber versandete und konterkarierte Reform. Es gabe mehrere Pilotschulen. Durch die Senkung des Schuleintrittsalters steigen die Zahlen ins 10. Schuljahr wieder, obwohl die Lehrstellensituation derzeit sehr gut ist.

7. 1999 – Bologna-Reform

Umstellung der Universitäten auf ein angelsächsisches Modell von Bachelor und Master-Abschlüssen. Die Leistung der Studierenden wird nach jeder einzelnen Veranstaltung mit Kreditpunkten bewertet, was als einheitliche Währung in Europa dienen soll.

Ziel: die internationale Mobilität erhöhen, die Abbruchquote der Studierenden vermindern und die Studiendauer verkürzen

Bewertung: undemokratisch eingeführt, massive Änderungen im Universitätsbetrieb. Ziele wurden verfehlt.

8. 2002 – Abschaffung der Seminare, Einführung der PH

Ziel: Erhöhung der Ausbildungsqualität und Verbesserung der Umstiegschancen durch eine universitäre Ausbildung

Bewertung: gute Grundabsichten, verheerende Umsetzung. Die PHs haben ein Image- und Qualitätsproblem und wurden zu Playern im Reformprozess.

9. 2003 – Neue Schülerbeurteilung

Ziel: Unter dem Stichwort FLUT sollte die Beurteilung förderorientiert, leistungsorientiert, umfassend und transparent erfolgen.

Bewertung: ein komplettes Desaster. Lehrkräfte sollten pro Schüler Dutzende von Bewertungen in Form von Kreuzchen abgeben. Grosse Proteste und eine imposante Unterschriftensammlung erzwangen den Rückzug der Vorlage. Die Beurteilung wurde überarbeitet und vereinfacht.

10. 2004 – Integrationsartikel

Ziel: Integration von schwächeren und behinderten Kindern in den Regelunterricht

Bewertung: unterschiedliche Umsetzung, holistische Gründe, die sich auf die UN-Erklärung von Salamanca abstützten. Viele Gemeinden schafften die Kleinklassen ab. Unüberlegte und zu ambitionierte Reform.

11. 2009 – Obligatorischer Kindergarten ab 4 Jahren, Harmos-Vereinbarung

Ziel: Erhöhung der Chancengerechtigkeit, Verbesserung der Sprachkompetenz für Migrantenkinder

Bewertung: sehr umstritten, für viele Kinder zu früh, teilweise grosser Widerstand, unterschiedliche kantonale Umsetzung

12. 2010 – Neue Finanzierung der Massnahmen für die sogenannten Pool1- und Pool2-Kinder

Ziel: die individuelle Betreuung leistungsschwächerer und behinderter Kinder in den Regelklassen garantieren

Bewertung: teuer und ineffizient. Die Pool-Budgets waren in kürzester Zeit aufgebraucht, die im Einzelfall vorgesehene Lektionenzahl musste gesenkt werden.

13. 2008 – Installierung zweisprachiger Schulen auf Ebene Volksschule (Filière Bilingue) und Gymnasien

Ziel: Verbesserung der jeweiligen Landesprachkenntnisse

Bewertung: ein Marketinggag zulasten der Schulen in Brennpunktquartieren; eine staatlich subventionierte Privatschule

14.  2012 bis 2016 – Einführung des neuen Lehrplans

Ziel: Harmonisierung des Schulsystems, Einführung der Kompetenzorientierung, Bildungsmonitoring mittels standadardisierter Tests, neue Stundenpläne, Umwandlung von Schulfächern, Sammelfächer, neue Beurteilung, PISA-Tauglichkeit

Bewertung: Gigantischer Versuch der Umkrempelung ist nur teilweise gelungen und wird von den Lehrkräften unterlaufen. Lehrplan mit über 2200 Kompetenzen wird von vielen als Monstrum empfunden.

15. 2012 – Einführung von Frühfranzösisch und Frühenglisch

Ziel: wurde nie richtig definiert.

Bewertung: Die angestrebte Harmonisierung des Schweizer Schulsystems wird mit dieser Reform in einem entscheidenden Bereich (Fremdsprachen) in ihr Gegenteil verkehrt. Massive finanzielle Investitionen, keine Verbesserung der Fremdsprachenkompetenzen.

16. 2012 – Einführung einer neuen Sprachdidaktik auf konstruktivistischer Basis: Passepartout Lehrmittel

Ziel: mehr Freude am Unterricht, bessere Kommunikation

Bewertung: teures Desaster, fällt in allen relevanten Standard-Checks durch

17. 2016 – Abschaffung des Semesterzeugnisses

Ziel: Entlastung der Lehrkräfte, weniger Noten

Bewertung: schwierig bei der Zuweisung zur Sekundarstufe 1 oder 2, die jeweils im Winter erfolgt. Nicht durchdacht.

18. 2016 – Erneute Beurteilungsreform

Ziel: Anpassung an den kompetenzorientierten Lehrplan, Einführung der Beurteilung von überfachlichen Kompetenzen

Bewertung: wurde nach heftiger Kritik zurückgezogen und als freiwillig erklärt. Charakter dürfe nicht beurteilt werden.

19. seit 2015 – Einführung von Frühförderungskursen.

Ziel: Sprachkompetenz der Migrantenkinder verbessern, Illetristenrate senken

Bewertung: vielfach lokale Umsetzungen, Wirkung umstritten. Mmüsste genau evaluiert werden, wird es aber kaum.

20. Einführung von Tagesstrukturen

Ziel: berufstätige Eltern bei der Betreuung unterstützen, Hausaufgaben in der Schule machen

Bewertung: sinnvolle und nötige Reform

In den Schaltstellen sitzen Experten, die den Herausforderungen des Unterrichts oft nicht gerecht werden.

Bilanz:

Die Reformtätigkeit im Kanton Bern ist durchzogen. Neben durchaus sinnvollen Reformen kam es zu regelrechten Abstürzen, teuren Fehlentwicklungen, fragwürdigen pädagogischen Neuerungen und überhasteten Eingriffen in den Schulalltag. Die direkt beteiligten Akteure in der Bildungslandschaft, Lehrkräfte, Eltern und SchülerInnen, werden regelmässig in den Reformprozessen übergangen. Lehrkräfte mutieren vielfach zu Vollzugbeamten. In den Schaltstellen der Bildungsverwaltung sitzen Experten, die den Herausforderungen der Praxis häufig nicht gerecht werden. Die Reformbestrebungen haben ihre tiefere Ursache in der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung. Die Rolle des Staates hat an Bedeutung gewonnen, immer mehr Stellen im Überbau der Schule haben ein Heer von Planern, Entwicklern, Beratern und Kommunikationsspezialisten entstehen lassen. Eine Allianz von Politik, Verwaltung und «Wissenschaft» hat sich gebildet, der es um Steuerung und vor allem um Auftragssicherheit geht. Das ist oft nicht ressourcenschonend, und es kommt in diesen Kreisen zu heftigen Verteilungskämpfen. Interessant und vielsagend ist die Tatsache, dass den meisten dieser Reformen von unseren beiden Berufsverbänden, Bildung Bern und VPOD, begeistert zugestimmt wurde.

 

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