7. November 2024

Aus der Rubrik: Es war einmal oder wie ein Lehrer die hochtrabenden Pläne eines Bildungsdirektors und seiner ihn verehrenden Fankurve zu Fall brachte.

In unserer Rubrik “Es war einmal” blicken wir 5 Jahre zurück. Damals legte der Bildungsdirektor Bernhard Pulver in einem seiner Hearings eine neue Beurteilung vor. Mit von der Partie der Lehrer Lars Burgunder. Er war der einzige, der nicht applaudierte, sondern an die Presse ging. Damit erledigte er einen von vielen Köpfen sorgsam entworfenes Beurteilungskonzept, in dem nun plötzlich Charakterzüge beurteilt werden sollten.

 

Alain Pichard, frisch pensionierter Lehrer, Mitglied der Condorcet-Redaktion.
Bild: fabü

Mit dem Lehrplan 21 wurde eine erziehungswissenschaftliche Wende vollzogen – weg von klassischen Lernzielen, hin zur Kompetenzorientierung. Dieser Paradigmenwechsel stellte auch die Frage nach der Beurteilung neu. Die Erziehungsdirektion des Kantons Bern legte dazu im Frühling 2016, also vor 5 Jahren wieder einmal ein neues Beurteilungskonzept vor. Es wurde an die Schulen des Kantons verschickt, gleichzeitig mit einer Einladung zu einem öffentlichen Hearing, in der diese bildungsbürokratischen Segnungen einer ausgewählten Lehrerschaft vorgestellt werden sollte. Lars Burgunder wurde von seinem Schulleiter angefragt, ob er an diesen Anlass das Schulhaus vertreten könne. Als er die Entwürfe für eine neue Beurteilung der Schüler und Schülerinnen des Kantons Bern durchlas, standen ihm die Haare zu Berge.

Er sah, dass neu wieder die Kriterien „Pünktlichkeit“, „Ordnungssinn“, und „Höflichkeit“ beurteilt werden sollten, auf einer Skala von 1 – 10, curricular aufbaubar, was hiesse, dass man Höflichkeit quasi in Stufen skaliert erlernen sollte. Und das war noch nicht alles: Dazu kamen noch 12 überfachliche Kompetenzen, wie zum Beispiel „Der Schüler ist in der Lage, Gefühle situationsgemäss auszudrücken“, ebenfalls auf einer Skala von 1 – 10. Der junge Lehrer dachte zuerst an einen Witz. Als er aber merkte, dass das wirklich ernst gemeint war, ging er voller Notizen an das Hearing.

Als er die Entwürfe für eine neue Beurteilung der Schüler und Schülerinnen des Kantons Bern durchlas, standen ihm die Haare zu Berge.

Die 250 Lehrkräfte aus dem ganzen Kanton füllten die Aula des Gymnasiums Lebermatt. Vorne ein gut gelaunter Bildungsdirektor, welcher mit lustigen Sprüchen den Saal erheiterte. Viele anwesende Lehrkräfte empfanden die

Damaliger Erziehungsdirektor Bernhard Pulver: Gute Stimmung

Stimmung denn auch als sehr gut. Für das umstrittene Formular der überfachlichen Kompetenzen standen genau 10 Minuten zur Verfügung. Immer wieder gab es „konsultative Abstimmungen“. Am Schluss einen Riesenapplaus und ein tolles Buffet. Lars applaudierte nicht, er liess auch das Buffet aus und schickte die Formulare mit einem Erlebnisbericht an einen Schulblog. Von dort kam dann die ganze Sache in die Presse.

Und jetzt aufgepasst! Ein etwas zerknirschter Bildungsdirektor gab sich nicht mal eine Woche später selbstkritisch und empfand seine eigenen Papiere als „unausgegoren“.

Dann kommt ein kleiner kritischer Zeitungsartikel in der Zeitung und „schwups“, der verbale Rückzug, das „Sorry“, das „Es war ja nicht so gemeint“. Der ganze Entwurf wurde zur Überarbeitung zurückgezogen.

Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Da entwickeln Experten ein Jahr lang ein neues Beurteilungssystem, da diskutieren Leute, die den Herausforderungen des Unterrichts stets fernbleiben, intensiv über die Ergebnisse, da werden 250 Praktiker zu einer Anhörung eingeladen und verabschieden diesen Entwurf kritiklos, und dann kommt ein kleiner kritischer Zeitungsartikel in der Zeitung und „schwups“, der verbale Rückzug, das „Sorry“, das „Es war ja nicht so gemeint“. Der ganze Entwurf wurde zur Überarbeitung zurückgezogen. Das Papier sei ein Entwurf, das Ergebnis noch unausgegoren, meinte der vorher frenetisch gefeierte Bildungsdirektor Pulver.

Lars Burgunder: Bürgerliches Tugendgeschwafel. So etwas mache ich nie!

Für Lars Burgunder war der Fall klar: Was da vorgelegt wurde, ist bürgerliches Tugendgeschwafel, verpackt in pseudowissenschaftlichem, technokratischem Vermessungswahn. Nie, meinte er, werde er so etwas seinen Schülern antun. Da merkt man auch, aus welcher Ecke dieser junge Mann kam: Er dachte links, arbeitete aber in der Praxis und nicht in den Büros der Bildungsverwaltung. Er verfügte somit noch über die linken Denkreflexe, die einst eine linke Bildungsdiskussion geprägt haben.

Damals begründete uns ein grüner Bildungsdirektor allen Ernstes: „Diese Beurteilung werde von der Wirtschaft verlangt!“ Aufgepasst, nicht ein FDP-Magistrat fordert die Normierung unserer Kinder nach wirtschaftlichen Prinzipien! Es war ein Vertreter der Linken, unterstützt von linken Bildungsfachleuten und begleitet von den Funktionären des Lehrerverbandes!

Was zeigte uns diese Momentaufnahme einer Bildungsdiskussion, in welcher bildungsbürokratische Autisten allen Widerständen zum Trotz ihr Projekt vorantrieben, koste es was es wolle?

Die Schule hat Kämpfer nötig, heute mehr denn je. Es braucht mehr Lars’, denn Mut ist in dieser Anpassungsgesellschaft eine Tugend von grosser Sprengkraft geworden.

Die Beschwörungsformel der Bildungsbürokratie, wonach das Volk nicht über den Lehrplan abstimmen, sondern dies den Experten überlassen solle, erledigt sich wieder einmal von selbst. Die Zahl der Reformruinen, welche uns eine ausser Rand und Band geratene Bildungsbürokratie in die Welt gesetzt hat, wächst und verschlingt Unsummen. Und: Die Schule hat Kämpfer nötig, heute mehr denn je. Es braucht mehr Lars’, denn Mut ist in dieser Anpassungsgesellschaft eine Tugend von grosser Sprengkraft geworden.

 

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Ein Kommentar

  1. Danke für die Erinnerung. Das tollste daran war ja noch, dass anschliessend die Leiterin Pädagogik von Bildung Bern (der offizielle Lehrerinnen/Lehrerverein), die als Mitglied in der Arbeitsgruppe für diese neue Beurteilung sass, nachher behauptete, sie hätte erreicht, dass das Kozept vereinfacht würde. Das war dann wohl eine kühne Verdrehung der Tatsachen.

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