In den vergangenen Wochen konnte man in verschiedenen Medien lesen, dass insbesondere während der Pandemie viele Jugendliche mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Seit Sars-CoV-2 unser Leben bestimmt, hat sich die Zahl der Jugendlichen, die mit solchen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, laut einer Studie von kanadischen Wissenschaftlern[1], verdoppelt. Man geht davon aus, dass ca. jeder Vierte eine Depression und jeder Fünfte eine generalisierte Angststörung entwickelt. Es wurden dabei in einer Meta-Analyse, in die die Daten aus 29 einzelnen Studien mit ca. 81000 Jugendlichen eingeflossen sind, Kinder und Jugendliche befragt. Hervorgehoben werden kann hier, dass die Jugendlichen in der Hauptsache unter einer sozialen Isolation leiden. Dies bedeutet konkret, dass ihnen vor allem die Kontakte zu Hilfsangeboten von Lehrkräften, Schulpsychologen und Beratern fehlte. Es zeigte sich auch, dass insbesondere Mädchen stärker unter diesen mangelnden Kontakten leiden als Jungen.
Wie könnte nun diesen Defiziten an Unterstützung für diese Jugendlichen begegnet werden. Es erscheint einsichtig, dass es für diese Jugendlichen, die unter Depressionen, oft einhergehend mit Suizid-Gedanken bzw. starken Gefühlen der Angst, bis hin zu Panik-Attacken, direkt und unbürokratisch, quasi im Sinne einer Notfall-Intervention geholfen werden sollte.
Die Dargebotene Hand
Hierfür bietet sich der on-line-Dienst der Dargebotenen Hand an, dies im Sinne von www.143.ch. Wie ist das zu verstehen? Die Dargebotene Hand ist in der Schweiz seit Jahrzehnten Allgemeingut, bzw. als Telefon-Notfall-Linie weitgehend bekannt. Weniger bekannt ist aber, dass die gleiche Institution seit über 10 Jahren auch on-line—Dienste anbietet und dies auf zwei Kanälen: zum einen als Mail-Dienst und zum anderen als Möglichkeit des Chattens.
Der wesentliche Unterschied zum Hilfsdienst, der sich explizit an junge Menschen wendet, nämlich: www.147.ch zum Angebot bei 143 besteht darin, dass die Kontaktaufnahme und die Durchführung des Angebotes zu 100 % anonym ist.
Währenddem das Telefon vor allem von älteren Menschen genutzt wird, verhält es sich bei den beiden Online-Diensten anders. Hier sind es vor allem junge Menschen, die sich einloggen. Das bedeutet, dass sich bereits zwölfjährige melden; die meisten sind wohl (geschätzt) zwischen 16 und ca. 35 Jahre alt. Dabei ist der Einfluss des Gebrauchs des Handys nicht zu unterschätzen. Gemäss meiner Erfahrung von Chat-Beraterinnen und -beratern der Dargebotenen Hand, wird auch auf dem Pausenhof, sogar während des Unterrichts mit 143 gechattet.
Der wesentliche Unterschied zum Hilfsdienst, der sich explizit an junge Menschen wendet, nämlich: www.147.ch zum Angebot bei 143 besteht darin, dass die Kontaktaufnahme und die Durchführung des Angebotes zu 100 % anonym ist und dies auch während der Inanspruchnahme bleibt. Im Unterschied zur Dargebotenen Hand verlangt www.147.ch Login-Daten. So betrachtet könnte man folgern, dass das Angebot bei 143 noch niederschwelliger ist als bei 147 und sich deshalb als Erst-Aufnahme für Jugendliche in Not, besonders eignet[2].
Knatz/Dodier [3]führen folgende Liste von Problemen insbesondere bei Jugendlichen auf, die online immer wieder benannt werden:
- Suizid
- Depressionen
- Ängste
- Posttraumatische Belastungsstörungen
- Essstörungen
- Sexuelle Gewalt
- Mobbing
- Aufschieberitis
Was sind nun die Vorteile einer Online-Erst-Beratung durch www.143.ch?
- Wie bereits erwähnt, ist hier völlige Anonymität gewährleistet. Jugendlichen sollten darauf hingewiesen werden, sich zusätzlich auf der Homepage 147 umzusehen oder sich an die Schul-Sozialarbeiterin zu wenden. Oft ergeben sich “Gespräche” im Mail oder im chat, die konkrete Kontaktaufnahmen vorbereiten und den Jugendlichen die Angst nehmen, sich an eine solche Stelle zu wenden. Vielfach hindern sie daran verquere, ja geradezu falsche Vorstellungen davon, was mit ihnen passiert, wenn sie sich z. B. bei einer Psychologin oder sogar (!) bei einem Psychiater melden. Die Berater können diese Ängste abbauen und sachdienliche Informationen vermitteln. Die vollständige Anonymität einer solchen Kontaktaufnahme über das Internet senkt letztlich die Hemmschwelle, eine Beratungsstelle aufzusuchen (entscheidend z. B. bei sexueller Ausbeutung o. ä.) und bahnt damit den Weg in eine Therapie. Er ist damit Teil eines prozessualen Geschehens.
- Beim Mailen als ein asynchrones Beratungsformat haben sowohl die Jugendlichen wie die Beratenden die Möglichkeit, das Geschriebene mehrfach zu lesen und umzuformulieren. Bei der Dargebotenen Hand Zürich erhalten die Jugendlichen innerhalb von 48 Stunden jeweils eine Antwort-Mail. Manche schreiben immer wieder, so dass sich ein Beratungsprozess entwickelt, der sich über Monate hinziehen kann. So fliessen immer wieder neue Ansichten und erlebte Begebenheiten in das Geschriebene ein. Diese zeitliche Dehnung ermöglicht es – auf beiden Seiten –, sich vermehrt Gedanken zu machen, innezuhalten und vielleicht zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Ein weiterer Vorteil des Mail-Verkehrs besteht darin, dass man zu jeder Tages- und Nachtzeit schreiben kann. Wenn ein Jugendlicher sich Sorgen um den morgigen Tag macht, dann schreibt er eben nachts. Es gibt wohl keine andere Anlaufstelle, der man zu jeder Uhrzeit seine Sorgen und Ängste anvertrauen kann.
Erstaunlich ist immer wieder, dass Jugendliche auch längere Mails schreiben. Sie sind nicht schreibfaul und sie wissen, dass ihre Texte nicht korrigiert, geschweige denn benotet werden. Orthografie und Grammatik interessieren hier niemanden. Schreiben als ein Selbstfindungsprozess steht im Vordergrund und hier auch einmal schreiben zu können, dass einen die eigene Familie ‘über alles nervt’ und man am liebsten tot wäre, kann entlastend wirken.
- Anders verhält es sich beim Chatten. Chats sind eher dem Telefonieren gleichzusetzen. Chatten ist ein verschriftlichtes Gespräch. Meist chatten Jugendliche mittels ihres Handys irgendwo und irgendwann. Das hängt bisweilen von der Dienstzeit der Berater ab, die bei 143 im Chat-Dienst sind. Insbesondere für einsame Jugendliche ist der Chat oft die einzige Anlaufstelle zur Aussenwelt, in der sie ihre Gedanken, Sorgen und Nöte jemandem, also einem Vis-à-Vis, mitteilen können. Sie kommen i.d.R. schnell zum Thema, manchmal zu schnell, und man muss erst etwas bremsen, sie zur Ruhe kommen lassen, um zu verstehen, worum es eigentlich geht bzw. was denn nun die grösste Sorge ist. Deshalb darf man sich von etwas krassen Einstiegsformulierungen weder täuschen noch beirren lassen. Meistens beruhigen sich die Gemüter bald einmal und man gelangt zu einem konstruktiven Gespräch per Netz.
Wie auch beim Mailen weist das Chatten aber eine Verlangsamung des Transportes der Inhalte auf. Knatz & Schumacher[1] weisen darauf hin, dass im Chat nur ca. ein Viertel der Information eines mündlichen Gesprächs vermittelt werden kann. Auch unterscheidet sich der Chat vom Telefon dadurch, dass kein Atmen, kein Stöhnen oder Weinen hörbar wird. Jugendliche helfen sich hierbei aber mit icons, emoticons oder mit ausgeschriebenen Worten, wie: gähn, breitgrins, Stirnrunzeln etc. Auch neuartige Kürzel wie ‘gute n8’ oder ‘cu’ (= see you) sind gang und gäbe. Auch hier gilt, wie beim Mailen, dass Orthografie und Grammatik keine Rolle spielen. Aber: Man kann nicht unterbrechen, d.h. man kann niemandem ins Wort fallen. Chatten braucht demnach mehr Geduld als ein Telefonat. Positiv daran: Man muss erst lesen, was der andere geschrieben hat, erst dann kann man antworten. So schafft auch das Chatten eine Distanz sowohl zum Erlebten wie auch zum Kommunikationspartner. Es ist dem Beratendem überlassen, auf welchen Inhalt er verstärkt eingeht und wo er konsequent nachfragt. Dem Jugendlichen steht es dagenen immer frei, ob er sich spontan oder “höflich” aus einem Chat zurückziehen möchte. Auch dies ist ein Zeichen der Niederschwelligkeit, die solche Online-Kommunikationsformen in sich haben.
[1] Knatz, B. & Schumacher, S.: Mediale Dialogkompetenz – Umgang mit schwierigen Gesprächssituationen am Telefon und im chat. Verlag Springer, Heidelberg 2019
[1] Racine, Nicole, University of Calgary im Fachblatt Jama Pediatrics: Globale Prävalenz depressiver und Angstzunahme bei Kindern und Jugendlichen während COVID-19. Eine Meta-Analyse. Online veröffentlicht am 9.8.2021, doi:10.1001/jamapediatrics, 2021, 2482
[2] Bonfranchi, Riccardo: Selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter. Ritzen – ein Phänomen in der heutigen Sozial- und Heilpädagogik. In: SozialAktuell, Nr. 11, 2018, s. 40/41; auch: www.143.ch/Dokumente/Jahresberichte/Jahresbericht-2018
[3] Knatz, Birgit/Dodier, Bernhard: Mailen, chatten, zoomen: Digitale Beratungsformen in der Praxis. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2021, S. 152