16. Oktober 2024

«Das 20. Jahrhundert ist überall, egal wo ich gehe»

Die 2020 im Rotpunktverlag erschienene Familiengeschichte «Du weisst mich jetzt in Raum und Zeit zu finden – Zwei Frauen zwischen Basel und Moskau» ist ein eindrückliches literarisches Geschichtsbuch an der Schnittstelle zwischen Literatur und Sachbuch und es eignet sich hervorragend für Lehrkräfte, die im Unterricht die Erforschung der eigenen Familiengeschichte zum Thema machen wollen. Condorcet-Autor Georg Geiger stellt es vor!

Georg Geiger, pens. Gymnasiallehrer, Basel-Stadt: Die Rekonstruktion der eigenen familiären Herkunft ist anspruchsvoll.

Es gehörte zu den Highlights meines Geschichtsunterrichtes, wenn jeweils im Lehrplan das Thema «Portrait meiner eigenen Familiengeschichte» auftauchte. Die Schüler*innen gingen meist mit grosser Neugier daran, in Erfahrung zu bringen, woher ihre Familie eigentlich kam und wie weit es sich rekonstruieren liess, wo die Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern überall gelebt, was sie beruflich gemacht hatten, weshalb sie nun gerade in Basel gelandet waren und wie ihr Leben von den politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten geprägt worden war. Man konnte bei jeder Klasse sicher sein, dass das gesamte 20. Jahrhundert sich in diesen familiären Migrationsgeschichten wiederfand: Da war etwa der Vater, der, aus Italien kommend, ohne jegliches Geld zu Fuss in die Stadt St. Gallen wanderte auf der Suche nach Arbeit. Oder der Grossonkel, der als Lokomotivführer in Hitlerdeutschland Menschentransporte durchführen musste. Oder die Grossmutter, die vor den Russen aus Ungarn flüchtete. Manchmal stiessen die Jugendlichen auch auf eine Mauer des Schweigens, die es zu respektieren galt, tauchten doch durch die ungestüm gestellten Fragen plötzlich schwere familiäre Schicksale und Traumatas wieder auf. Und der Austausch über die Familiengeschichten war meist von grossem Respekt vor der Wucht der Geschichte geprägt, von der auch die eigene Familie erfasst wurde.

Die Autorin leistet mit ihrem Buch auf anschauliche und gut nachvollziehbare Weise einen wertvollen Beitrag zur Frage, was es konkret heisst, die eigene Familiengeschichte zu rekonstruieren, Quellenmaterial kritisch einzuordnen und ein Bewusstsein für die Geschichtlichkeit der eigenen Existenz zu entwickeln.

Nicht Rekonstruktion, aber Konstruktion

Über vier Jahre lang ihren Spuren durchs 20. Jahrhundert gefolgt.

«Das 20. Jahrhundert ist überall, egal wo ich gehe.» Mit diesem Satz beendet die 48-jährige Baslerin Beatrice Schmid, die als Gymnasiallehrerin in Lausanne Deutsch und Geschichte unterrichtet, ihre eigene Familiengeschichte. Ihr Buch macht deutlich, wie anspruchsvoll die Rekonstruktion der eigenen familiären Herkunft sein kann, wie schnell man dabei an Grenzen stösst (Schieden etwa in den 30er Jahren in der ACV-Bäckerei in Basel Frauen mit der Heirat automatisch aus dem Arbeitsverhältnis aus?) und wie schwierig es ist, wenn man das Denken und Handeln der eigenen Vorfahren nur noch beschränkt verstehen und nachvollziehen kann oder sogar den Kopf schüttelt über gewisse Handlungen und Denkweisen. Die Autorin leistet mit ihrem Buch auf anschauliche und gut nachvollziehbare Weise einen wertvollen Beitrag zur Frage, was es konkret heisst, die eigene Familiengeschichte zu rekonstruieren, Quellenmaterial kritisch einzuordnen und ein Bewusstsein für die Geschichtlichkeit der eigenen Existenz zu entwickeln.

Ihr Buch liegt an der Schnittstelle zwischen Literatur  und Sachbuch und eignet sich deshalb sowohl für den Deutsch- als auch den Geschichtsunterricht. In einem Brief an die Fachschaften Deutsch und Geschichte meiner Schule umschrieb Beatrice Schmid ihr Vorhaben folgendermassen: «Meine Grosstante Paula verliess als 19-Jährige 1921 ihre Heimatstadt Basel, um am Aufbau der Sowjetunion teilzunehmen. 1937 wurde ihr Mann erschossen, ihre zweijährige Tochter in ein Heim gesteckt und sie in den Gulag verbannt.  Ihre Schwägerin Marie blieb in Basel, engagierte sich für das Frauenstimmrecht und unterstützte eine deutsche Widerstandskämpferin im Zweiten Weltkrieg. In Form einer Familienrecherche gehe ich den Spuren meiner Vorfahrinnen nach und frage mich, wie es zu deren Engagement kam und was davon geblieben ist.»

Anhand der Dokumente, die vor mir liegen und mithilfe der Angaben, die ich über Paula und Marie finde. Sie werden ‘meine Paula’ und ‘meine Marie’ werden.

Béatrice Schmid, Gymnasiallehrerin: Briefe, Fotos und Dokumente der Grossmutter auf dem Dachboden.

An Weihnachten 2015 hatte Beatrice Schmid Briefe, Fotos und Dokumente ihrer Grossmutter Marie und ihrer Grosstante Paula auf dem Dachboden ihres Elternhauses in Basel gefunden: «Über vier Jahre lang bin ich ihren Spuren durchs 20. Jahrhundert gefolgt, in Maries und Paulas Leben eingetaucht und mir neu begegnet», schreibt sie im Prolog. Dabei wird ihr schnell klar, dass der historischen Rekonstruktion enge Grenzen gesetzt sind: «Ein Haufen Dokumente bleibt von einem gelebten Leben. Meine Kenntnisse über die Orte und Geschehnisse sind zu beschränkt, um Paulas und Maries Leben auch nur ansatzweise rekonstruieren zu können.(…) Rekonstruieren eines Lebens geht nicht, doch konstruieren kann ich es. Anhand der Dokumente, die vor mir liegen und mithilfe der Angaben, die ich über Paula und Marie finde. Sie werden ‘meine Paula’ und ‘meine Marie’ werden.»

Und so konstruiert die Autorin und Enkelin etwa ein Gespräch zwischen Paula und ihren Freundinnen und Freunden 1920 bei einer Rheinüberquerung auf der «Schlachthoffähre» darüber, ob man der neu gegründeten Dritten Internationale beitreten soll oder nicht, und kommentiert es mit folgenden Worten: «Ich weiss nicht genau, was diese jungen Leute in jener Zeit umgetrieben hat, was sie dachten und sich erträumten, ob sie für oder gegen den Beitritt der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz zur Dritten Internationale waren.»  Sie bietet mit ihrer expliziten Konstruktion eine mögliche Variante, wie ein solches Gespräch wohl hätte verlaufen können. Denn sie will verstehen lernen, weshalb ihre Grosstante Paula 1920 beschloss, in die Sowjetunion auszuwandern: «Paula hat während des Ersten Weltkriegs in Basel gehungert, und nun geht sie freiwillig in ein Gebiet, wo eine richtige Hungersnot herrscht, bei der Tausende sterben? Ich habe das Gefühl, sie entgleitet mir. Ich kann ihre Entscheidungen immer weniger nachvollziehen.»

Ihr erster Mann Waldi Brubacher gilt als verschollen, ihr zweiter Mann Ferenc Hustzi wurde erschossen, ihre kleine Tochter wurde ihr weggenommen und wuchs vom dritten bis zum zehnten Lebensjahr in Kinderheimen und Waisenhäusern auf. Und doch trat Paula 1958 wieder der Kommunistischen Partei bei.

Das Fremde im Eigenen

 

Ehemann erschossen, Kind weggenommen, Gulag

Noch schwieriger wird es, ihre Grosstante zu verstehen, als diese in den frühen 30er Jahren mit ihrem ersten Mann Ferenc in Moskau ein privilegiertes Leben als Teil des Parteiapparates zu leben schien. Doch schlussendlich wurden die beiden auch Opfer des stalinistischen Terrors. Ferenc wurde am 10. Dezember 1937 als Verräter zum Tode verurteilt: «Das Urteil wurde unmittelbar vollzogen. Paula wird das Jahrzehnte lang verheimlicht.» Ihr selbst wird wegen der Teilnahme an regelmässigen Zusammenkünften von Schweizer Kommunisten in Moskau eine konspirative Absicht unterstellt. Im Juni 1937 wird Bertha Zimmermann verhaftet und im selben Jahr erschossen. Auch ihr Mann Fritz Platten, der 1917 Lenin von Zürich nach St. Petersburg begleitete und ihm so das Leben gerettet haben soll, wird 1938 verhaftet und nach 4 Jahren Lagerhaft an Lenins Geburtstag erschossen. Paula wird am 8. Januar 1938 verhaftet. Ihre zweijährige Tochter Solveigh wird ihr weggenommen und sie verschwindet für mehrere Jahre im Gulag, den sie nur überlebt, weil sie sich dort als medizinische Assistentin habe weiterbilden können. Sie verbrachte 8 Jahre in einem sibirischen Arbeitslager und lebte weitere 10 Jahre dort in der Verbannung. Ihr erster Mann Waldi Brubacher gilt als verschollen, ihr zweiter Mann Ferenc Hustzi wurde erschossen, ihre kleine Tochter wurde ihr weggenommen und wuchs vom dritten bis zum zehnten Lebensjahr in Kinderheimen und Waisenhäusern auf. Und doch trat Paula 1958 wieder der Kommunistischen Partei bei und sie kam im Austausch mit ihren Verwandten in der Schweiz bis zu ihrem Tod 1973 nie auf dieses erlittene Unrecht und die Jahre im Gulag zu sprechen. Nein, sie betonte im Gegenteil immer wieder die Vorteile der Sowjetunion auf den unterschiedlichsten Gebieten. Nur ein geringer Teil der Gulag-Überlebenden hat mit der kommunistischen Bewegung gebrochen. Die Historikerin Ulla Plener erklärt dieses verstörende Verhalten folgendermassen: «Da war das wärmende Gefühl der Zugehörigkeit zu einer grossen weltumspannenden Gemeinschaft und ihre Solidarität. (…) Für viele war diese Partei die ‘Inkarnation des Willens der Geschichte selbst’; es war undenkbar, freiwillig aus ihr auszutreten, und der Gedanke erschreckend, aus ihr ausgeschlossen (‘exkommuniziert’) zu werden.»

Marie und ihr Mann Hans dagegen traten nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes im Oktober 1956 aus der Basler PdA aus. Danach hatte Marie aufgehört, in der «Welt der Frau» Artikel zu veröffentlichen. «Wollte sie für das Organ nicht mehr schreiben? Hat sie nach der verlorenen Abstimmung für das Frauenstimmrecht resigniert?» Auch diese Fragen bleiben unbeantwortet. Der letzte Blick, den die Enkelin Beatrice Schmid auf ihre Grossmutter Marie wirft, berührt durch seine Poesie und Zärtlichkeit: «Über diese Erinnerungen an meine Grossmutter haben sich nun Bilder von Marie gelegt – wie sie nach Oberwil kommt, wie sie mit rotem Faden das Alphabet stickt, wie sie in weisser Schürze in der ACV-Bäckerei arbeitet; wie sie mit Hans Ski fährt, auf dem Schiff vor Jugoslawien die Delfine bewundert, Peterli, meinen Vater, auf dem Schoss hält, im Keller in einem dampfenden Kessel Kleider wäscht, in der Stube einen Brief liest, sich Notizen macht, Artikel schreibt. Ich stelle sie mir vor, wie sie mit sich ringt, kämpft, wie sie einsteht für das, was sie für richtig hält. Und ich denke jedes Mal an sie, wenn ich abstimme oder wähle.»

Georg Geiger

Nachtrag: Beatrice Schmid steht für Lesungen zur Verfügung und kann über den Rotpunktverlag info@rotpunktverlag.ch kontaktiert werden.

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