21. Dezember 2024

Der Fall Markus Häni – Mehr Condorcet, bitte!

Das Interview mit dem Lehrer Markus Häni hat in der Redaktion des Condorcet-Blogs Diskussionen ausgelöst. Die Aussagen von Markus Häni widersprachen der Meinung einer Mehrheit der Redaktion. Aber das Selbstverständnis unserer Autorinnen und Autoren, welche sich dem Toleranzgedanken des Aufklärers Jean-Marie de Condorcet und seiner Frau Sophie de Condorcet verpflichtet fühlen, verbietet jede Art von Zensur. Diese Entlassung ist ein Skandal, meint denn auch Condorcet-Autor Alain Pichard. Eine Demokratie müsse so etwas aushalten, und er warnt vor unabsehbaren Konsequenzen.

Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE):
Besonders unseren reformkritischen Kolleginnen und Kollegen müsste dieser Fall zu denken geben.

 

Jean-Jacques Rousseau: la volonté générale – die Freiheit des Einzelnen einschränken

Für Condorcet war die Freiheit des Einzelnen unantastbar. Schon früh setzte sich dieser grosse Denker für die Emanzipation der Frau, die Gleichberechtigung der Juden oder die Befreiung der Sklaven ein. Damit unterschied er sich von seinem unheimlichen Schweizer Zeitgefährten Jean-Jacques Rousseau, der in seiner «Volonté générale» die Freiheit des Einzelnen in einem homogenen Kollektiv aufzuheben anmahnte. Der Historiker Volker Reinhardt erinnert in einem beachtenswerten Artikel im Schweizer Monat «Mehr Voltaire, weniger Rousseau»  (Monatsausgabe Juni 2021) an die heute wieder dominierenden Ideen, dass das aufgeklärte Gebot der Toleranz nicht für die Intoleranten gelten dürfe, dass Nachrichten gefiltert und gegensätzliche Meinungen unterdrückt werden müssten.»

Condorcet, Freund und Weggefährte von Voltaire, meinte hingegen, dass wirklich alles sagbar und publizierbar bleiben müsse, gerade auch das Falsche.

Volker Reinhardt, Historiker, Universität Freiburg: Rousseau hat auf der ganzen Linie gewonnen.

Condorcet, Freund und Weggefährte von Voltaire, meinte hingegen, dass wirklich alles sagbar und publizierbar bleiben müsse, gerade auch das Falsche.

Der Aargauer Kantonsschullehrer Markus Häni hatte sich in seinem Handeln am Ort seiner Berufstätigkeit nie etwas zu Schulden kommen lassen. Im Gegenteil, sein Einsatz für die Sprache Latein, seine Tätigkeit als Bindeglied zwischen der Vindonissa-Stiftung und seiner Schule wurde von der Schulleitung und vielen Kolleginnen und Kollegen gelobt und verdankt. Markus Häni hatte an seiner eigenen Schule nie indoktriniert und sich jederzeit an die behördlichen Vorgaben gehalten. Aber er glaubte an die Grundrechte, die ihm unsere Verfassung gewährte, und trat als Redner an einer – notabene bewilligten – Demonstration auf. Diese Rede ist heute noch auf Youtube zu sehen. Er wandte sich gegen die Maskenpflicht und zweifelte die behördlichen Massnahmen an (siehe Interview: «Es geht nicht nur um die Entlassung eines Lehrers» auf condorcet.ch). Er wurde aufgrund dieser Rede umgehend freigestellt und ist heute entlassen. Das Mitleid mit demjenigen, dem deswegen nun de facto ein Berufsverbot erteilt wird, hält sich in Grenzen. Es herrscht eisernes Schweigen. Reinhardt: «Rousseau scheint heute auf der ganzen Linie gesiegt zu haben.»

Die gegenwärtige Debatte über die Art und Weise, wie sich die Pandemie am ehesten bekämpfen lässt, hat nicht zu einer Freiheit des Diskurses geführt, sondern zu einer ideologischen Polarisierung sondergleichen, die nicht einmal im Kalten Krieg herrschte.

Daniel Goepfert, Gymnasiallehrer, Basel, ehem. Parteipräsident der SP: mit Hänis Meinung nicht einverstanden, aber er muss sie sagen können.

Innerhalb der Redaktion des Condorcet-Blogs gehen die Meinungen über das gegenwärtige Narrativ der Krankheit ebenfalls stark auseinander. Der ehemalige SP-Grossratspräsident und Gründungsmitglied unseres Condorcet-Blogs, Daniel Goepfert, ist in keiner Weise mit den Ideen von Markus Häni einverstanden. Aber er lässt – wie auch die anderen Redaktionsmitglieder – keinen Zweifel darüber gelten, dass es diesem erlaubt sein müsse, seine Meinung frei zu äussern. Hier geht es um die verfassungsmässig garantierten Rechte der BürgerInnen und der öffentlich-rechtlich Angestellten. Die Schulleitung der Kantonsschule Wohlen fordert in diesem Fall nicht nur Folgsamkeit, sondern auch Gesinnungsgleichheit. Das gilt selbstredend nicht für den Einsatz gegen den Klimawandel oder den Kampf gegen Sparmassnahmen in der Bildung. Vorerst nicht! Wo soll das aber hinführen, wenn positiv konnotierte Aktivitäten von der Obrigkeit akzeptiert werden, während der Kampf gegen Coronamassnahmen als böse und verwerflich gilt. Tief blicken lässt auch die Begründung, Herr Häni habe den Bundesrat desavouiert und dem Ruf der Schule geschadet. Das ist gerade auch durch den Umstand, dass die Meinungen der Expertinnen und Experten zu vielen relevanten Aspekten der Pandemie keineswegs einheitlich oder auch nur eindeutig sind, mehr als irritierend.

Besonders unseren reformkritischen Kolleginnen und Kollegen müsste dieser Fall zu denken geben.

Markus Häni: de facto ein Berufsverbot

Besonders unseren reformkritischen Kolleginnen und Kollegen müsste dieser Fall zu denken geben. Es gab viele Berichte, wonach Lehrkräfte während der Lehrplandiskussion von ihren Schulleitungen unter Druck gesetzt wurden. Ein Vorgang, der auch bei der aktuellen KV-Reform gegenüber Zweiflerinnen und Zweiflern wiederholt wurde, und das massiv. Befremdend, aber irgendwie auch bezeichnend ist daher auch das Stillschweigen des aargauischen Lehrerverbandes und des LCH gegenüber seinem Vereinsmitglied.

Wenn diese Entlassung vor dem Verwaltungsgericht durchkommt, dann ist es vorbei mit der Freiheit, die der Philosoph und Aufklärer Jean-Marie Condorcet auch dann vertrat, als die jakobinischen Horden während der Französischen Revolution wüteten. Jean-Marie Condorcet bezahlte für seinen Einsatz für die Freiheit mit dem Leben. Es ist an uns, wieder mehr Condorcet einzufordern.

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Ein Kommentar

  1. Die Angst der Behörden, eine Lehrperson würde wegen skurriler Ansichten Teenager negativ beeinflussen, ist so lange unbegründet, als diese ihre Meinung nicht durch Leistungsdruck (z.B. als Kompetenz) einfordern und durchsetzen kann. Jugendliche ab 12 oder 13 Jahren können sehr wohl einschätzen, wie eine Lehrperson tickt. Nicht auszudenken, was unserem damaligen Mathematiklehrer am Gymnasium heute passieren würde, wenn er verkünden würde, was er 1964 vor der Abstimmung über das Frauenstimmrecht in Basel von sich gab: “Nicht wahr, meine Herren (damit waren wir 13-Jährige gemeint), Frauen gehören nicht in die Politik, die verstehen nichts davon. Ihr Platz ist in der Küche und im Haushalt”. Da war keiner in der Klasse, der diese Ansicht nicht rückständig fand. Im Gegenteil: Jeder bedauerte, dass er noch nicht abstimmen durfte.

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