«Das Traurige ist, dass wir uns beim Heranwachsen nicht nur an die Gesetze der Schwerkraft gewöhnen. Wir gewöhnen uns gleichzeitig an die Welt selber.» (Gaarder, Sophies Welt, 1993, 12)
Nummer 76 der Zeitschrift Widerspruch trägt den Titel «Jugend – aufbrechen, scheitern, weitergehen». Das Heft fragt nach Lebensrealitäten, Wünschen und Ängsten heutiger Jugendlicher in einer Zeit grosser Ein- und Umbrüche unter dem Vorzeichen multipler Krisen: Klimakrise, Coronakrise, Finanzkrise etc. Krisen sind Situationen der Entscheidung und dies beinhaltet auch das Nachdenken über Möglichkeiten: über das, was kommt und kommen soll, über die Zukunft und ihre Bedeutung für heutige Jugendliche.
Jugend, das ist traditionell der Übergang zwischen zwei Welten: Wir verlassen die Kindheit und werden zu Erwachsenen. Es ist eine Phase, in der Jugendliche aufbrechen, Erfahrungen machen, sich selbst definieren wollen. Mitunter befinden sie sich in einer sensiblen und turbulenten Phase. Die Adoleszenz kann alle bisherigen Sicherheiten über den Haufen werfen und zu mannigfaltigen Bruchlinien führen, im eigenen Körper wie im familiären und sozialen Umfeld (Bischof). Gegenwärtig treffen persönliche Sensibilitäten und Stimmungsschwankungen auf gesellschaftliche Unwägbarkeiten.
Unter Verknappungsbedingungen besteht indessen die Gefahr, dass Jugendliche – bei all ihrer Kreativität und Unbekümmertheit – das Primat des Geldverdienens relativ früh verinnerlichen.
Jugendliche Entwicklungswege lassen sich auch als Wagnis verstehen, Neues wird ausprobiert, es wird viel lustiger Blödsinn gemacht und nebenbei sollen Weichen für die Zukunft gestellt werden. Unter Verknappungsbedingungen besteht indessen die Gefahr, dass Jugendliche – bei all ihrer Kreativität und Unbekümmertheit – das Primat des Geldverdienens relativ früh verinnerlichen. Selbsterkundungen, Umwege und Ausprobieren können riskant werden, denn Fehler oder Misslingen haben mitunter schwer zu korrigierende Auswirkungen. Mit diesem Druck gehen Jugendliche in der Schweiz unterschiedlich um. Gemäss der Juvenir-Studie 2015 berichten 46 Prozent der Lernenden von Stress, Leistungsdruck und Überforderung, der in Schule und Ausbildung entstehe. Noch werden Jugendliche in der Schweiz von keiner Jugendpolitik unterstützt, die über die Bedingungen nachdenken und die Zeit und den Vertrauensvorschuss einfordern würde, die für das Ausbilden von eigenständigen Persönlichkeiten notwendig sind (Düggeli).
Stellenwert der Berufslehre
Schweizer Jugendpolitik müsste auch eine Diskussion um den Stellenwert der Berufslehre umfassen. Sie ermöglicht das praktische und theoretische Erlernen von komplexen Fähigkeiten und Kompetenzen, steht gegenwärtig aber unter dem Druck eines enger werdenden Arbeitsmarktes und einer auf breiter Basis wirksamen Aufwertung akademischer Ausbildungsgänge. Für die Lehre gilt gegenwärtig genau so wenig wie für die vorangehende Schule, dass sie unter humanistischen Vorzeichen der Selbstverwirklichung stehen würde. Stattdessen müssen sich die Bedürfnisse der Subjekte denjenigen des Arbeitsmarktes unterordnen, was auch die individuelle Bewältigung struktureller Problematiken (Diskriminierungen, Weiterbildungsdruck oder ein durch Covid-19 erschwerter Einstieg ins Berufsleben) umfasst (Racine / Ziltener).
Diese doppelte Ausrichtung führt zu Widersprüchen zwischen integrativ gedachten Schulen und den Erfordernissen einer auf Konkurrenz beruhenden Leistungsgesellschaft.
Ökonomisch gerahmter Kompetenzdiskurs
Ein weiteres dem Thema Jugend zugehöriges Feld ist die Bildungspolitik. Mit dem 2004 in einer Abstimmung angenommenen Bildungsartikel wurden das Schuleintrittsalter, die Dauer und die Ziele der Bildungsstufen gesamtschweizerisch harmonisiert. Die Abstimmung stand unter dem Vorzeichen zweier übergeordneter Entwicklungen. Zum einen sind das die Bestrebungen nach Inklusion und Integration, den beiden Leitbegriffen moderner Pädagogik. Folgt man ihnen, so zeigt sich, dass eine frühe schulische Selektion zu einer Benachteiligung unterprivilegierter Schüler*innen führt. Sie bewirkt unterschiedlich förderliche Lern- und Sozialisationsbedingungen entlang von (De-) Privilegierungsfaktoren wie soziale und ethnische Herkunft, finanzielle und kulturelle Ressourcen des Elternhauses oder Geschlecht (Sagelsdorff / Simons). Die andere Entwicklungslinie bezieht sich auf den ökonomisch gerahmten Kompetenzdiskurs, der im Zuge von internationalen Schulleistungs-
Vergleichsstudien, namentlich den PISA-Studien, auf zentrale Prüfungen und Testergebnisse sowie auf eine primäre Anbindung von Bildung an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes setzt. Diese doppelte Ausrichtung führt zu Widersprüchen zwischen integrativ gedachten Schulen und den Erfordernissen einer auf Konkurrenz beruhenden Leistungsgesellschaft (Crain). Letztlich produzieren die Widersprüche auch Bildungsverweiger*innen, die erkennen, dass schulische Anstrengung sich für sie ohnehin nicht lohnt, und deren Rebellion das Schulsystem zu überfordern droht. Immer wieder finden sich unter den Jugendlichen aber auch widerständige Persönlichkeiten, die sich trotz widriger Umstände ihren Weg bahnen, mitunter indem sie die Ränder des Berufsbildungssystems, etwa zahlungspflichtige, berufsbildende Privatschulen, für sich zu nutzen wissen (Preite).
Solche Ordnungen stellen Jugendliche weltweit in Frage, radikaler und risikobereiter als Erwachsene.
Die unsichere Grundstimmung führt aber nicht nur zu Ängsten und Ohnmachtserfahrungen. Sie birgt auch Fragen nach dem Werden und den Möglichkeiten sowie ein grosses Mobilisierungspotential. Nicht nur vor unserer Haustüre erleben wir eine massive Politisierung von Jugend, sondern mehr noch im globalen Massstab. In den letzten Jahren fand dies in weltweiten Protesten Ausdruck. Aufstände, an deren Spitze Jugendliche stehen, erstrecken sich von Chile bis Hongkong, vom Libanon und von Algerien bis Haiti (Zellhuber). Sie richten sich gegen eine Realpolitik, die die Realität, nämlich die Dringlichkeit des Wandels, ignoriert und einer Machbarkeits- und Verwertungslogik verhaftet bleibt. Solche Ordnungen stellen Jugendliche weltweit in Frage, radikaler und risikobereiter als Erwachsene. Wie sähen Gesellschaften aus, die mit weniger Rohstoffverbrauch und ohne Ausbeutung von Mensch und Natur ein gutes Leben für alle ermöglichen würden? Junge Menschen werden in unseren Breitengraden oft für ihre Radikalität belächelt. Es fragt sich jedoch, wie lange noch. Die Worte einer 21-jährigen Klimaaktivistin erinnern daran, dass Grundsätzliches zu verändern ist: «Wir wollen und müssen anecken. Bitten, Fordern und jene Wege gehen, welche die institutionelle Politik anbietet, reicht offensichtlich nicht aus, um echte Veränderung herbeizurufen. Wir brauchen deshalb nicht nur mehr Geschichten und mehr Demokratie, sondern auch mehr Protest.» (Hess)
200 Seiten, 14.8 × 21.0 cm, Broschur. ISBN 978-3-85869-921-3, 1. Auflage
CHF 25.-, EUR 18.-
Zu bestellen unter:
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“Wir brauchen mehr Protest”. Diese Aussage einer Klimaaktivistin, die Julia Klebs zitiert, bringt das Problematische der politischen Aktivitäten der Klimajugend auf den Punkt: Wenn sich die Aktivitäten auf Protest gegen tatsächliche und vermeintliche Klimasünden konzentrieren, werden sie mit der Zeit ergebnislos verpuffen, allenfalls die bereits laufenden klimaheilenden Massnahmen ein wenig stützen. Die Schwäche des Protestierens und des punktuellen Forderns liegt darin, dass beides nicht von einer zündenden gesellschaftsverändernden Idee getragen wird, sondern von einer Art kindlichen Trotz- und Anspruchshaltung: “Ihr Erwachsenen, ihr Politiker, macht doch mal, tut doch mal! Wir wollen Klima, wir fordern Veränderung.”