10. Dezember 2024

Michel Foucault: die Entzauberung einer akademischen Ausnahmeerscheinung

Der Condorcet-Blog ist dem Philosophenpaar Sophie und Jean-Marie de Condorcet verpflichtet und seine Autorinnen und Autoren vertreten die Idee der Aufklärung. Deswegen haben wir immer wieder philosophische Beiträge in diesem Blog veröffentlicht. Der nun folgende Beitrag steht schon seit längerer Zeit in unserer «Pipeline». Es ist eine differenzierte Auseinandersetzung um die Diskursanalyse von Michel Foucault. Michel Foucaults Werk, und das macht seine Causa für uns interessant, ist von einer aufklärungskritischen Haltung geprägt. Die plötzlich aufgekommene Debatte um den angeblichen sexuellen Missbrauch von Jugendlichen hat uns dazu bewogen, mit der Veröffentlichung des Beitrags der Zürcher Professorin für forensische Psychologie, Henriette Haas, zuzuwarten. Wir wollten nicht in den Verdacht geraten, uns auch noch an diesem Integritätsdiskurs zu beteiligen. Inzwischen hat sich aber auch Eduard Käser in einem Beitrag («Riesen zur Schnecke machen – weite Teile der Cancel-Culture sind das Symptom einer intellektuellen Misere» 2. Mai 2021) gemeldet. Er plädiert für den «argumentativen Streit im Schlichten von Meinungsverschiedenheiten». Dies ist auch für uns eine Richtschnur. Der nun folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Geltung einer Aussage und nicht mit deren Urheber. Oder um es mit Eduard Käser auszudrücken: «Denken ist eine soziale Tätigkeit. Ein untrügliches Indiz des Denkens ist deshalb die Beobachtung, dass andere auch denken.» Henriette Haas schreibt zum ersten Mal für den Condorcet-Blog.

Henriette Haas, Zürcher Professorin für forensische Psychologie: Diskursanalyse enthält schwere Mängel

Mit der von ihm selber geschaffenen «Werkzeugkiste» wird Michel Foucault, der meistzitierte Autor in den Kulturfächern, derzeit moralisch «dekonstruiert». Es geht nicht mehr um den Gehalt seiner Schriften, sondern nur darum, in welche Machtstrukturen er eingebettet war. Sorgfältiges Analysieren und das Rekonstruieren eines nuancierten Porträts sind nicht mehr nötig, sondern man entscheidet anhand einer Gut-Böse-Schablone: Sollten sich weitere Zeugen für sexuellen Missbrauch finden, wird er zum Paria werden, andernfalls zum Märtyrer. Beides ist falsch.

Unbestritten ist, dass er spannende sozialkritische Themen in origineller Weise aufs Tapet brachte und Themen setzte, die ohne Zweifel relevant sind.

Für Bildungsfachleute und -Interessierte sind m. E. andere Fragen wichtiger: Wer war Michel Foucault und wie steht es um die Wissenschaftlichkeit seiner Diskursanalyse? Zur ersten Frage erfährt man viel in der hervorragend recherchierten Biografie von James Miller.[1] Foucault gilt als Nihilist, es wird ihm u. a. auch vorgeworfen, er verherrliche Gewalt. Von vielen Menschen wird er aber als engagierter Ethiker angesehen und bewundert. Unbestritten ist, dass er spannende sozialkritische Themen in origineller Weise aufs Tapet brachte und Themen setzte, die ohne Zweifel relevant sind – so etwa sich verselbständigende Diskurse und fein verästelte Machtstrukturen.

Die diskursanalytische «Werkzeugkiste» als Ausverkauf des rationalen Denkens

Die Wissenschaftlichkeit der Diskursanalyse von Foucault wurde schon früh hinterfragt.[2] Dabei handelt es sich nicht um ein einheitliches Verfahren. Die von ihm nur vage ausgeführten Ideen wurden von mehreren Interpreten jeweils unterschiedlich umgesetzt (Breeze, S. 494).[3] Eine der Anwendungen, die unter dem Namen «Diskursanalyse» praktiziert wird, stellt ein attraktives Angebot für alle bereit, die rasch und mühelos akademische Erfolge einheimsen wollen. Deren «Anleitung» hat Foucault im Buch «Archäologie des Wissens» skizziert – nämlich als Aufforderung zur Willkür. Der Schriftsteller Daniel Miller nennt diese Vorgehensweise den «Pseudofoucault».[4] Sie kann stringent aus dem echten (wesentlich differenzierteren) Werk Foucaults abgeleitet werden und stellt eine Verdichtung der grössten Fehlleistungen des Philosophen dar. Hier die geistigen Wurzeln des Pseudofoucault: Die mühselige Rekonstruktion des Kontextes qualifizierte Foucault als «liebenswerte, aber verspätete Spielchen von Historikern in kurzen Hosen». Zudem sei es naiv, die Verdienste früherer Diskurse (z.B. der Humanwissenschaften) festzustellen (Foucault, S. 205, 208).[5] Vergangene Akteure strafte er mit dem Satz über „die Illusionen, die diese sich über den Wert und die unsterbliche Würde ihrer Worte haben machen können“ (Foucault, S. 178f). Anstelle logischer Argumente gegen die sorgfältige historische Interpretation der Quellen (Argumente, die er offensichtlich nicht hat), gibt er sie der Lächerlichkeit preis. Demagogisch lenkt er die möglichen Ergebnisse von diskursanalytischen Studien in die von ihm erwünschte Richtung. Für Aussenstehende mag ein bisschen Spott harmlos tönen. Jedoch kann es sich im beinharten akademischen Wettbewerb kein Nachwuchstalent leisten, vor versammelter kulturwissenschaftlicher Gilde in «kurzen Hosen» dazustehen (die Mentor/innen können es ebenfalls nicht).

James Miller, Biograf Michel Foucaults: Rhetorische Täuschungsmanöver?

Breeze (S. 501, 503, 505f) moniert, diese Form der Diskursanalyse enthalte schwere Mängel, sie sei ein Gebastel, das in keiner Art und Weise den Erkenntnissen der pragmatischen Linguistik entspreche. Beliebt ist etwa die selektive Datenauswahl, das cherrypicking, mit dem Quellen, die der These des Autors widersprechen, ganz einfach unterschlagen werden. Foucault und unkritische Benutzer/innen seiner «Werkzeugkiste» weichen der Verantwortung für seriöses akademisches Arbeiten mit rhetorischen Täuschungsmanövern aus (J. Miller S. 18). Dreyfus und Rabinow, zwei bedeutende amerikanische Foucault-Interpreten, halten die Archäologie für „methodologisch gescheitert“; sie sei „jenseits von Seriosität und Bedeutung“ (S. 105, 111).[6] Wie können angebliche Textanalysen der zuständigen Sprachwissenschaft diametral widersprechen und gleichwohl als wissenschaftliches Vorgehen gelten? Dürften dann die empirischen Disziplinen nicht auch eine «postmoderne Statistik» entwerfen, welche den Axiomen der Mathematik widerspricht? Spektakuläre Resultate sind mit Hilfe von logischen Trugschlüssen einfach zu konstruieren und führen zur Wettbewerbsverzerrung.

Die Gesellschaft erwartet nämlich von universitärer Information eine besonders hohe Qualität und ein ausgewogenes Urteil.

Foucault und andere Anhänger des Relativismus und Postmodernismus verfechten die Auflösung der aristotelischen Logik (Pluckrose & Lindsay, S. 77, 79, 83, Dreyfus & Rabinow, S. 111–114, Breeze, S. 500) welche Widerspruchsfreiheit und Faktentreue voraussetzt – der Basis jeder zwischenmenschlichen Verständigung (Art. 53 der Bundesverfassung). Wieder ist zu bemerken, dass keineswegs alle, die sich von Ideen des französischen Charismatikers begeistern lassen, auch das «Gebastel» verwenden. Er hat auch seriöse, gute Arbeiten vorgelegt und es gibt viele Kulturtheoretiker/innen, welche Diskurse linguistisch korrekt analysieren. Sie trennen bewusst den Spreu vom Weizen. Die Redlichkeit und Wissenschaftlichkeit einer Publikation kann nur im Einzelfall mit aufwändiger Prüfung der Quellenlage geklärt werden. Dass dies geschieht, ist dringlich geworden, sonst verlieren die Forschungsanstalten ihre Glaubwürdigkeit. Die Gesellschaft erwartet nämlich von universitärer Information eine besonders hohe Qualität und ein ausgewogenes Urteil.

Foucault gab zu, dass er weder Philosophie noch überprüfbare Wissenschaft betreibe, sondern Sprengstoffproduktion.

Foucault hingegen gab zu, dass er weder Philosophie noch überprüfbare Wissenschaft betreibe, sondern Sprengstoffproduktion.[7] Damit erteilte er die Erlaubnis zum Betreiben der «pseudofoucaultschen» Wettbewerbsverfälschung. Diese Saat ist im letzten Jahrzehnt aufgegangen. Pluckrose und Lindsay haben die beunruhigende Entwicklung an den Hochschulen recherchiert:[8] Die Postmodernisten und Relativisten hätten die seriöse Forschung in den Kulturfächern weitgehend verdrängt. Es sei eine Art Neoreligion entstanden, in der kritisches Denken und echte Diskussionen unerwünscht seien und massiv unterdrückt würden (Pluckrose & Lindsay, S. 198-207, 215, 221, 231f). Damit würden die Anliegen sozialer Gerechtigkeit diskreditiert und der Rechtsextremismus letztlich gestärkt. Anfügen möchte ich, dass die postfaktischen «Werkzeuge» des Pseudofoucault natürlich auch von Gegnern der Chancengleichheit rege benutzt werden. Von wem haben beispielsweise die Trump-Administration und die rechtsideologischen Medien ihr Metier erlernt – wenn nicht von den dezidiert links positionierten US-amerikanischen Professor/innen? Wollen wir unsere Jungen und ihre Lehrer/innen wirklich darin ausbilden?

Fazit

Foucault war ein Pionier der sozialkritischen Geschichtsschreibung. Die Inspiration, die von seinem Werk ausgeht, sollte erhalten bleiben, allerdings begleitet von einer vertieften Auseinandersetzung mit seiner untauglichen «Methodik» der «Archäologie des Wissens».

[1] Miller, J. (2000). The passion of Michel Foucault. Harvard University Press. Original 1990.

[2] Wehler H.-U. (1998). Die Herausforderung der Kulturgeschichte. Beck. (S. 45-95)

Lewis, H. S. (1998). The misrepresentation of anthropology and its consequences. American Anthropologist, 100(3), S. 716-731.
Marti U, Michel Foucault. München. 1988.

[3] Breeze R, (2011). Critical Discourse Analysis and its Critics, Pragmatics; 21(4): S. 493-525.

[4] Miller D, (Dec. 30, 2020). Is Foucault responsible for identity politics?. The Critic Magazine.

[5] Foucault M. (2015/1973). Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. Suhrkamp, S. 205, 208.

[6] Dreyfus, H. L., Rabinow, P., & Foucault, M. (1994). Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Beltz, Athenäum

[7] Droit R-P, Inédit extrait d’une série d’entretiens que Roger-Pol Droit a eus avec Michel Foucault au mois de juin 1975. Le Point 1.7.2004; 1659: S. 82.

[8] Pluckrose H, Lindsay JA, (2020). Cynical Theories: How Activist Scholarship Made Everything about Race, Gender, and Identity—and Why This Harms Everybody. London.

 

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Hinweis: Diese Artikel ist zuerst in der Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland (LVB) erschienen (Juni-Ausgabe 2019).

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