1. Dezember 2024

Schulische Integration als Bagatellisierung und Trivialisierung von Behinderung

Condorcet-Autor Bonfranchi schreibt, dass viele Kinder im integrativen Setting aus den Schulen in eine HPS übertreten. Dort stellt man bei deren Ankunft erstaunliche Defizite fest.

Riccardo Bonfranchi, Heilpädagoge und Buchautor.

Immer häufiger werden Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung, die zunächst in der Regelschule integriert worden sind, in eine Heilpädagogische Sonderschule (HPS) umplatziert. Meldungen aus den Medien zu diesem Trend decken sich mit meinen Erfahrungen aus meiner heilpädagogischen Beratertätigkeit. Die Gründe dafür liegen offensichtlich in der Bagatellisierung und Trivialisierung von Behinderung im integrativen Konzept.

Vorweg eine Spezifizierung: Wenn hier von Kindern und Jugendlichen mit einer Behinderung gesprochen wird, so sind ausschliesslich diejenigen mit einer geistigen Behinderung, einer Verhaltensauffälligkeit sowie einer starken Lernbehinderung gemeint. Letztere sollen von Kindern mit einer Lernschwäche unterschieden werden. Zu dem Personenkreis von sinnes- und/oder körperbehinderten Kindern und Jugendlichen, werden hier keine Aussagen gemacht.

Seit einiger Zeit stelle ich nun fest, dass immer jüngere Kinder aus dem integrativen Setting in eine HPS übertreten.

Umplatzierungen aus dem Regelunterricht an die HPS habe ich schon vor ca. 10 Jahren festgestellt. Es handelte es sich aber i.d.R. um behinderte Jugendliche aus der Oberstufe, die den Kindergarten sowie die Primarschule integriert absolviert hatten. Erst als es dann um die Frage der beruflichen Eingliederung ging, wurden sie in eine HPS «verlegt». Seit einiger Zeit stelle ich nun fest, dass immer jüngere Kinder aus dem integrativen Setting in eine HPS übertreten. Es betrifft vor allem den Übergang vom Kindergarten in eine Heilpädagogische Primarschule.

Unglaubliche Aussagen

Bemerkenswert sind die Aussagen der Schulischen Heilpädagoginnen über den Stand dieser Kinder, die nun zu ihnen in die Unter- oder Mittelstufe wechseln. Hier einige Beispiele hierzu:

  • Diese Kinder können weniger als ihre gleich stark behinderten Kollegeninnen und Kollegen.
  • Ihre Arbeitshaltung ist oft wesentlich schlechter als die ihrer gleich stark behinderten Mitschülerinnen und Mitschüler.
  • Sie verhalten sich unselbständiger.
  • Sie trauen sich weniger zu, sie sprechen auch weniger.
  • Sie sind unsicherer, verhalten sich häufig passiv, warten erst einmal ab, was passiert.

Eine weitere Auffälligkeit: Treten die Kinder dann in eine HPS ein, können sie ihre Defizite in relativ kurzer Zeit aufholen, trauen sich mehr zu, werden lernbegierig und damit auch zufriedener und glücklicher.

Eine weitere Auffälligkeit: Treten die Kinder dann in eine HPS ein, können sie ihre Defizite in relativ kurzer Zeit aufholen, trauen sich mehr zu, werden lernbegierig und damit auch zufriedener und glücklicher. Aussagen von Eltern dieser Kinder untermauern die Beobachtungen von professioneller Seite. So berichtete mir eine Mutter eines in die HPS umgeschulten Kindes, dass sie es nicht für möglich gehalten habe, dass ihr Kind in so kurzer Zeit lernt, sich selbst die Schuhe anzuziehen und zu binden. Gerade die Fortschritte in lebenspraktischen Bereichen verwundern nicht. An der HPS gehört dies zum Lehrplan, nicht so in der Regelschule.

Fazit: Weil man diesen Kindern im heute üblichen Setting der Integration nicht auf ihrem Niveau begegnet, ihre Bedürfnisse bagatellisiert und trivialisiert, führt sie sogar zu einer Vernachlässigung statt zu der beabsichtigten Förderung der Kinder. Kein Wunder also, dass die Heilpädagogischen Sonderschulen einen regen Zulauf haben. Dies aber nicht deswegen, weil mehr Kinder mit einer Behinderung geboren werden, sondern einfach, weil sie etwas später in eine HPS eintreten.

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4 Kommentare

  1. Diese Beobachtungen widersprechen den Heilpädagogik-Päpsten der Fachhochschulen, die behaupten, dass eine Separierung der betroffenen Kinder in heilpädagogischen Schulen diese generell diskriminiere und ihnen schlechtere Lebens- und Berufschancen verschaffe als wenn sie in Regelklassen integriert würden. Wer die Erfahrungen der letzten Jahre auch nur mit einem Quäntchen Realismus verfolgt hat, müsste schon lange bemerkt haben, dass das Gegenteil der Fall ist. Ricardo Bonfranchis Artikel wird wohl die hermetisch zubetonierten Gehirne der Heilpädagogik-Ideologen mitnichten überzeugen, zum Nachteil der beeinträchtigten Kinder.

  2. Nennen wir das Kind beim Namen: Es wird gespart. Und zwar überall.
    In der Familie, wo billige (Bildschirm)Beschäftigungen von Kindern weniger Betreuungsaufwand bedeuten als wenn Eltern als echtes gegenüber sprechend, fühlend und handelnd anwesend sind und für ein paar Jahre aufs Erwerbsleben verzichten. Die Investition in den Zweitwagen steht über der Investition ins eigene Kind, ein klassisches Spar-Setting, freiwillig.
    Im Bildungssystem, wo HPS-Unterricht mit 7er-Klassen schlicht viel teurer ist als Integration in Regelklassen oder Unterricht in (heute fast gänzlich abgeschafften) 12er-Kleinklassen.
    Wenn nun Familie UND Bildungssystem sparen, geht die Rechnung auch mir würgen und mogeln nicht auf: Bezahlt wird sie von unbeirrt engagierten, aber ausbrennenden Lehrpersonen und…: schlecht gebildeten Kindern.
    Natürlich sind gute Lösungen möglich, aber nicht zum bisherigen Preis (siehe oben). Der wichtigste Ansatzpunkt scheint mir in der Durchlässigkeit zu liegen. Wenn die Klein- oder/und HPS-Klasse gut in eine Schule integriert ist/wird, die Schulformen eine gute Zusammenarbeit pflegen, dann entstehen auf allen Ebenen wieder mehr echte Chancen.
    Eltern wollen Integration v.a. wegen der Teilhabe am Sozialleben Gleichaltriger und zum Vermeiden von Ausgrenzung auch aus Prestigegründen. Das ist verständlich. Lehrpersonen wollen weniger Aufgaben bewältigen müssen, die schlicht nicht zu bewältigen sind. Auch das ist verständlich.

    1. MIchael Bischof ist entgegenzuhalten, dass ja die Gesamtausgaben in der Bildung massiv gestiegen sind. In kaum einem Bereich der Staatsaufgaben wachsen die Ausgaben derart exorbitant, wie in der Bildung. In den letzten 20 Jahren von 16 Milliarden auf heute 34 Milliarden. An und für sich wäre ja genug Geld da. Die Frage ist wohl eher, wie man die Ressourcen einsetzt, wo man die Prioritäten setzt. Das ist auch in einer Zeit, in der das wirtschaftliche Axiom von den begrenzten Ressourcen ausser Kraft gesetzt scheint, immer noch eine entscheidende und wohl auch unbequeme Frage.

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