16. April 2024

Das Ganze im Blick

Die Teile und das Ganze! In welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Und wie ergeben die zusammengefügten Teile eben dieses gewollte Ganze? Der Wagenlenker von Delphi erinnere an diese bedeutsame Frage, meint Condorcet-Autor Carl Bossard.

Carl Bossard: Der steuernde Blick für das Ganze

Sie hat mich früh fasziniert, diese lebensgrosse Bronzeplastik aus dem antiken Apollon-Heiligtum von Delphi. Die Figur des Wagenlenkers ist uns zwar nur als Bruchstück erhalten. Ein Arm ist abgebrochen. In der Hand hält der junge Mann die Zügel für einen Rennwagen mit dem Viergespann, so deuten die Kunsthistoriker. Der Blick ist konzentriert und in die Ferne gerichtet. Es kann jederzeit losgehen.

Grosse Zusammenhänge oder isolierte Details?

Der Wagenlenker von Delphi ist Fragment einer Gruppe. Die Achsen, Winkel und Masse weisen auf das grössere Ganze hin. Doch dieses grössere Ganze bleibt uns geheimnisvoll verborgen. Genau so geht es vielen von uns. Das grosse Ganze bleibt meist unsichtbar; doch es ist immer wieder mit zu bedenken: Das Handeln im Detail braucht den weiten und breiten Blick fürs Ganze oder negativ formuliert: Das Hineinzoomen ins Detail kann den Blick aufs Ganze versperren.

Sind die Teile aus dem Ganzen herzuleiten oder führen die Teile schrittweise zu einem Ganzen?

Die operativen Teile und das gewollte Ganze: Die Attraktivität einer antagonistischen Gegenüberstellung der Teile und des Ganzen geht zurück in meine Mittelschulzeit. Zu den Themen Geschichte und Geographie stellte sich immer wieder die Frage nach dem Ganzen und nach den Teilen, nach ihrem spezifisch Bedeutsamen und nach einer allfälligen Priorität. Sind die Teile aus dem Ganzen herzuleiten oder führen die Teile schrittweise zu einem Ganzen? Dazu kam die didaktische Frage: Wo war mit dem Lernen zu beginnen: bei den grossen Zusammenhängen oder bei den isolierten Details? Eines habe ich schnell gemerkt: Es gibt kein polarisierendes Entweder-oder; das führt in die Sackgasse. Es gibt nur die Plausibilität des Sowohl-als-auch.

Wie entsteht ein Gesamtbild?

Wie entsteht aus den Teilen ein Ganzes?

Seither meldet sich das Problem immer wieder, und es meldet sich in nahezu allen Lebensbereichen. Zu diesen Bereichen gehören auch Schule und Unterricht, gehört die pädagogisch ewig nagende Frage: „Wie wird bei den Schulkindern aus den einzelnen Mosaiksteinen des schulischen Alltags das Gesamtbild ‚Bildung‘? Wie entsteht aus den verschiedenen Wissens(bruch)stücken das gewollte Ganze, wie bildet sich ein gefestigtes und anwendbares Können?“ Konkret: Ein klug und kohärent formulierter Gedanke ist mehr als ein paar aneinandergereihte Wörter, eine gute Geschichte mehr als hundert orthografisch richtig geschriebene Sätze.

Die Teile sind Grundlage des Ganzen; die Qualität im Kleinen bleibt unerlässlich für das Niveau des Gesamten.

Wie formt es sich?

Pädagogisches Wirken kreist darum vielfach um die Problematik: „Wie kristallisiert sich aus einer Addition von Partikeln ein Ergebnis heraus, das nicht nur mehr als die Summe ist, sondern auch anders als das nur Zusammengefügte? Und wie baut sich Haltung auf, wie formt sich das notwendige kulturell-ethische Orientierungswissen?“

Die Teile sind Voraussetzung des Ganzen

Lehrplan 21: 470 Seiten, 2’300 Kompetenzstufen

Es sind Fragen, die jede Lehrerin bewegt, die jeden Lehrer leitet. Und natürlich auch die kontrastive Frage: „Wie viele Elemente sind zu viel und dem Ganzen abträglich?“ Verantwortungsbewusste Lehrpersonen wissen aus Erfahrung: Die Teile sind Grundlage des Ganzen; die Qualität im Kleinen bleibt unerlässlich für das Niveau des Gesamten. In diesem Sinne wirken die einzelnen Teile laufend auf das Ganze, während das Ganze seinerseits wieder die Teile beeinflusst.

Es ist die Vielfalt wechselseitiger Interdependenzen innerhalb des Ganzen und zwischen den Teilen, die das Ganze ausmacht. Lehrerinnen und Lehrer steuern diese Prozesse. Gleichzeitig stehen sie aber täglich den Anforderungen des Lehrplans 21 gegenüber – einer 470-seitigen Lehrplanliste mit unzähligen Kompetenzen und über 2‘300 Kompetenzstufen.

Immer mehr

Wenn der Lehrplan das Ganze aus den Augen verliert

Nicht umsonst haben sich viele gegen diese Lehrplan-Fülle gewehrt, dies mit dem Argument: „So zerlegt man die Schule […] in ihre Einzelteile – so lange, bis man das Ganze aus den Augen verliert.“[1] Einige verwiesen dabei auf Theodor Storms Märchen „Der kleine Häwelmann“, diesen Buben, der immer „Mehr, mehr, mehr“ schreit. Niemals ist er zufrieden, niemals sagt er: Es ist genug, danke schön, oder gar: Es ist zu viel! Er will immer nur mehr. Am Ende der Geschichte wird der kleine Häwelmann zur Strafe von der Sonne verstossen; er stürzt ins Meer.

Rivalität zwischen den Teilen und dem Ganzen

Kein Kind darf abstürzen; kein Kind darf an einem Zuviel scheitern. Das ist bei der heutigen Überfülle an Themen und Aufgaben und dem ständigen Mangel an (Übungs-)Zeit leicht gesagt. Umso schwieriger ist es für die einzelne Lehrperson, die grossen schulischen Zusammenhänge und damit die Teile und das Ganze im Blick zu haben und gleichzeitig jedem Individuum gerecht zu werden. Das ist ein hoher Anspruch. Er bringt viele an Grenzen.

Gute Lehrerinnen und Lehrer brauchen darum eines ganz besonders: eine geschickte Hand im Operativen und den steuernden Blick fürs Ganze – wie der griechische Wagenlenker von Delphi.

Es gibt – auch in der Schule – kein harmonisches Nebeneinander der Teile und des Ganzen. Das Einzelne und das Umfassende stehen sich, in einer ersten Phase, immer als Rivalen gegenüber.[2] Gute Lehrerinnen und Lehrer brauchen darum eines ganz besonders: eine geschickte Hand im Operativen und den steuernden Blick fürs Ganze – wie der griechische Wagenlenker von Delphi.

[1] Susanne Loacker, Lehrplan 21. Das regulierte Schulkind, in: Beobachter, 17.02.2015.

[2] Robert Holzach (1988), Herausforderungen. Weinfelden: Wolfau Druck Rudolf Mühlemann, S. 187.

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Annemarie Aeschbacher, Lehrerin für textiles und bildnerisches Gestalten, ist eine Kollegin von Condorcet-Autor Alain Pichard am OSZ-Orpund und fleissige Leserin des Condorcet-Blogs. Die beiden schätzen sich, sind aber nicht immer einer Meinung. Das zeigt sich unter anderem auch beim Thema “Fernunterricht”. Mit den Schlussfolgerungen der niederländischen Studie zeigte sich Annemarie Aeschbacher nicht einverstanden und erhebt Einspruch.

Ein Kommentar

  1. Das menschliche Gehirn ist stets bestrebt, Einzelheiten der Erfahrung in ein Ganzes einzubetten, ihnen dadurch Sinn zu verleihen. Wer gewohnt ist, mit den “Mosaiksteinchen” des Wissens refllektiert umzugehen, kann sie mit Fantasie, Logik und Kohärenz zu sinnhaften Einsichten verbinden, wie von Carl Bossard ausgeführt. Manche Menschen kann der Hang zur Sinngebung aber auch auf gehörige Abwege führen, ganze Gedankensysteme können sich aufbauen, welche die Einzelheiten mit Irrtümern, falschen Schlussfolgerungen oder Vorurteilen anreichern. Wenn sich Lehrpersonen aus dem geführten Unterricht verabschieden und nur noch die Rolle des «Coach» einnehmen, besteht die Gefahr, dass sich Lernende in der Sinngebung verirren. Das nötige Korrektiv kann nicht der Computer mit seinen Lernprogrammen leisten, sondern nur die aufmerksam begleitende Lehrperson in aktiver Interaktion mit den Lernenden.

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