Und damit befinden wir uns in den 1990-er Jahren, wo das Wort “Integration” noch nicht existierte und man noch glaubte, dass alle Eingewanderten “irgendwann gehen werden.” In Anlehnung an sein eigenes Leben erzählt Behzad Karim Khani die Geschichte eines iranischen Jungen, der mit seinen Eltern aus der Diktatur im Iran ins Ruhrgebiet geflohen ist. Die Mutter ist Soziologin, der Vater Schriftsteller. “Ich bin zehn, wir sind noch kein Jahr hier und leben in einer Siedlung. Nicht spektakulär gefährlich oder dreckig. Zumindest noch nicht. Eigentlich, in der 70-er-Jahre-SPD-Fantasie geboren, sollte die Siedlung etwas sein, das uns zusammenbringen, zu einem ‘Wir’ formen sollte. Untere Unterschicht bis mittlere Mittelschicht und die Kids gehen in dieselbe Grundschule. Das war die ungefähre Idee. Es war, als gäbe es keinen sozialen Sprengstoff.”

Und da tauchen plötzlich spätabends drei Nachbarskinder auf, die klingeln, und einer von ihnen fragt, “ob sie was Persisches zu essen haben können und streckt meiner Mutter eine Mark entgegen.” Und die gebildeten und stolzen Eltern lassen sie rein, machen ihnen etwas warm und schauen ihnen beim Essen zu. Am nächsten Tag aber kein Wort darüber, als wenn nichts geschehen wäre, kein Danke, kein Sorry. Aber am nächsten Abend wieder das Klingeln, die ausgestreckte Mark und am nächsten Tag die gleiche Kälte in der Schule. Und irgendwann spricht einer seine Mutter auf der Strasse an, um zu fragen, was es abends zu essen gebe, als sei sie seine Angestellte. Am Tag darauf wartet der Erzähler vor der Schule, bis der Junge rauskommt. “Er schaut mich an, grinst und ich breche ihm das Gesicht. Vor der gesamten Scheissschule.” Danach ist der junge Iraner der King. “Ich bin der Master of the Universe. Scheiss auf ‘euch’. Scheiss auf Anschluss. Scheiss auf ‘uns’. Scheiss auf SPD.”
Verstummen im Nichts der Plattenbauwohnung
Sein Vater ist noch nicht ganz in sich selbst eingekehrt, aber in dem Nichts der Plattenbauwohnung verstummt er immer mehr: “Mal ist er ein Prophet, der den Berg nicht mehr findet. Mal ein General ohne Armee. Mal ein Gestrandeter auf einer kargen Insel, ein Meer zwischen sich und den anderen und kein Baum, den er fällen, der ihm Boot oder Brücke werden kann.” Die Mutter bleibt weiter an der Uni und der Vater beginnt, Taxi zu fahren und gelegentlich übernimmt er Schichten in einem Kiosk.
Mit zwölf schliesst sich der Junge einer Gruppe von Nachbarskindern an und sie schliessen einen Pakt. “Was dieser Pakt sein soll, wissen wir noch nicht. Für eine Gang fehlen uns die Schnappmesser und für eine Bande die Milchzähne.” Auch der Junge, der die Mutter auf der Strasse angesprochen hatte und der deshalb vom Ich-Erzähler verprügelt wurde, ist mit dabei: “Wir stehen im Kellerflur. Das Licht geht aus und er sagt ‘Kai’ in die Dunkelheit. Ich sage nichts. Manchmal, wenn ich mich frage, warum meine Zärtlichkeit gerade noch ausreicht, um meine Grausamkeit zu begreifen, aber weiter nicht kommt, suche ich die Antwort in dieser kleinen Dunkelheit zwischen uns dreien. In diesen Sekunden, in denen ich ihn hasse und mich schäme. In denen sein Schmerz mir gut tut und er selbst mir leid. In denen ich nicht weiss, ob ich ihn bestrafe oder mich verstecke, aber weiss, dass der Junge mich anschaute und ich den Boden.”
“Unsere Küchen haben keine Aufzüge. In unseren Fluren riecht es. Nach Armut, Majoran und Bockshornklee. Nach Reis und Schmortöpfen. Nach gebratenen Zwiebeln mit Kurkuma. Nach Kinderzimmern mit Etagenbetten und Arbeitslosigkeit. Nach Zimt, Sozialhilfe und Grossfamilien.”
Die Zeit des “Helmut-Kohl-Sozialismus, wo die Post über Jahre vom selben Boten gebracht wird, der nicht nur einen unbefristeten Arbeitsvertrag hat, sondern auch verbeamtet ist”, wird langsam düsterer und die Mittelschicht, die Bausparverträge besitzt und Rechnungen mit Daueraufträgen bezahlt, zieht weg aus der Siedlung. “Wir bleiben also da, und mit uns die einfachen Arbeiter, die Arbeitslosen” und die neu eingezogenen Roma-Grossfamilien, die später in einen Kleinkrieg miteinander geraten und nach abgefackelten Autos und Schüssen in der Nacht plötzlich verschwunden sind. “Unsere Küchen haben keine Aufzüge. In unseren Fluren riecht es. Nach Armut, Majoran und Bockshornklee. Nach Reis und Schmortöpfen. Nach gebratenen Zwiebeln mit Kurkuma. Nach Kinderzimmern mit Etagenbetten und Arbeitslosigkeit. Nach Zimt, Sozialhilfe und Grossfamilien.”
Der Erzähler geht aufs Gymnasium, die anderen auf die Haupt-und Gesamtschule. Auf dem Gymi gibt es neben ihm nur noch ein türkisches Mädchen: “Zu ihr halte ich den grössten Abstand. Es ist einfacher, der eine Ausländer zu sein, als einer der Ausländer, glaube ich.” Die deutschen Kinder schaffen keine zehn Liegestütze, werden von ihren Eltern zur Schule gebracht, glauben bei jedem Test, versagt zu haben, “holen dann aber doch gute Noten und tun überrascht.”
“Gefühleanhalten” und Verschwiegenheit
Das Beste sind hier die Sommerferien: “Kein Stadtteil hat so viel Spass wie wir. Bis auf ein paar Italiener, Polen und Albaner, die in die Heimat fahren, macht hier keiner Urlaub. Wir bleiben alle da, haben frei, die Nachbarschaft ein Feriencamp mit Hunderten von Kindern und Jugendlichen.” Nun beginnt die Pubertät, die Kindheit versiegt unkoordiniert und still: “Unser Planet wird bald Mädchen kennen. Eifersucht, Pickel und Sperma. Wir werden Mercedessterne abbrechen und mit unseren Narben angeben.” Als der Junge erfährt, dass seine Cousine in Teheran überfallen und ermordet wurde, schreibt er seinem Onkel einen pathetischen, selbstbezogenen Brief: “Der Brief ist nicht in der Sprache meiner Familie verfasst, sondern spricht die Sprache der Mörder meiner Familie.” Darin kein Mitgefühl, kein Beileid, keine Trauer: “Ich bin ein pickliger Gewaltclown. Brachial. Dumm. Meine Worte sind Platzpatronen aus viertausend Kilometer Luftlinie.” Wie er erfährt, dass die Ermordete oft von ihm gesprochen habe, steht er da und hat nichts zu sagen: “Weil das erste Gefühl, das käme, Scham wäre, beschliesse ich, kein Gefühl mehr kommen zu lassen.”
“Mein Weiter führt mich nicht nach oben, sondern weg. Ich glaube, dass Trennung ein Gesetz ist.”
Neben dem “Gefühleanhalten” lernt der Pubertierende im Kontakt mit seiner Mutter noch eine neue Superkraft kennen: die Verschwiegenheit. Jeden Tag will ein anderer in der Siedlung, “dass irgendwas endet, beginnt, bleibt, verschwindet, wiederkommt, stirbt, lebt, liebt, gehorcht, funktioniert, fällt oder aufsteht. (…) Jeden Tag macht sich ein anderer lächerlich und dann kommt immer Gewalt. Immer. Ich kenne das.” Und so leben alle in der Siedlung einen Abnutzungskrieg: So etwa Serdar, der Kurde, der von seinem Vater mit dem Gürtel durchgepeitscht wird, oder Dimitri, der mit Serdar umgeht wie ein Metzger mit einem toten Tier. Serdar, der den Erzähler mitnimmt in die Wohnung eines Drogendealers und von diesem als Stricher benutzt wird. Serdar, der später an einer Überdosis Heroin stirbt. Dimitri, der später Geschäftsführer eines Bordells im Industriegebiet Bottrop wird und für ein halbes Jahr wegen Drogendelikten im Knast sitzt.

Auch der Erzähler beginnt zu dealen, legt sich ein Messer zu. Er, der zu seinen Eltern aufschaute, “als ich noch dachte, dass die Dinge besser würden. Und später nicht mehr, als sie blieben, wie sie waren.” Er fliegt auf als Drogenkurier, landet im Gefängnis und wird auf Bewährung verurteilt, während sein Kollege bewaffnete Raubüberfälle begeht und dabei erschossen wird. Nach dessen Tod tätowieren sich die jungen Männer im Viertel Ketten um den Hals mit einem Anhänger dran, auf dem “Yassir” steht.
Mit zwanzig Jahren zieht der Erzähler von zu Hause aus, arbeitet auf Baustellen, in Küchen, und lässt sich nichts anmerken, wenn ihn Dachdecker mit SS-Runen-Tattoos Ali rufen: “Ich gehe, bevor die Geschichten dieses Ortes zu meinen Geschichten werden. Und ich werde dem zufällig Gewachsenen, dem unkontrolliert Wuchernden, das sich mit dem Bleiben zwangsläufig ergibt, immer misstrauen.” Und er weiss, dass seine Wut die Fortsetzung des väterlichen Schweigens ist. Er stellt sich neben seine Wut, neben das Kind, das er mit zehn Jahren war, und neben das Vogelnest, das er im Gebüsch entdeckte und weswegen er von der Nachbarin fremdenfeindlich angeschrien wurde. Und neben die zornige Grausamkeit, mit der er von da an den Jungen der Nachbarin terrorisiert hat. “Mein Weiter führt mich nicht nach oben, sondern weg. Ich glaube, dass Trennung ein Gesetz ist.” Und dabei bleibt offen, ob Schwäne, wie sie der Erzähler im Iran gesehen hat, Zugvögel sind oder auch nicht, so wie die Schwäne im künstlich angelegten See in Bochum…..
Die literarische Qualität eines solchen Romans ist die eine Sache, die Realität dahinter ist eine andere. Und bei dieser Realität finde ich es seltsam, dass oft implizit unterstellt wird, die deutsche (bzw. westeuropäische) Gesellschaft sei schuld daran, wenn
— Islam-fromme Diktatoren Teile ihres Volkes verjagen,
— Flüchtlinge sich in unserer Gesellschaft nicht richtig wohlfühlen,
— Gewalt von Zuwanderern als Erziehungsprinzip eingesetzt wird,
— körperliche Ertüchtigung für wichtiger als Bildung gehalten wird,
— gewaltlegitimierende Männlichkeitskonzepte gepflegt werden,
— mittelalterliche Vorstellungen von Werten gepflegt werden, die für hochindustrialisierte Gesellschaften dysfunktional sind (z.B. Ehre, Jungfräulichkeitswahn), usw.
Eine hochoffizielle Studie hat schon vor längerem dazu einiges ergeben:
https://www.tagesspiegel.de/berlin/jeden-tag-prugel-migranten-und-gewalt-1573015.html
Der vollständige Bericht zu der Studie ist nicht mehr über diesen Link, wohl aber hier erhältlich:
https://tobias-lib.ub.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/65539/bfg_28.pdf
Da finden sich schon in der “Kurzfassung” auf Seite 5 all diejenigen Themen, die im Roman angesprochen werden, und noch viel mehr. Auch die Mehrheitsgesellschaft bekommt ihre Fehleinstellungen im Spiegel vorgehalten, aber eben nicht nur. Mir scheint, es gibt da einige Tabu-Themen, die noch aufzuarbeiten wären. Diese mangelnde “Passung” zwischen Zuwanderern und Mehrheitsgesellschaft mit den jeweiligen Erwartungen ist gewiss etwas, das einerseits in dem Roman glaubhaft thematisiert wird und das andererseits die Wirklichkeit bestimmt — besonders auch in den Schulen.
Eine Ergänzung zu dem letzten Satz: Diese Probleme hätte man seit langem wissen können, hier ein kleines Zitat aus einem Bericht von El-Mafaalani und Toprak (beide mit eigenem Migrationshintergrund), das sehr gut zu dem obigen Erzähler als Gymnasiasten (immerhin!) passt:
“In der Familie wird Gehorsam, Kollektivität und Loyalität gegenüber den traditionellen Werten erwartet, in der Schule Selbstdisziplin, Individualität und Selbstständigkeit. Die Umgangsformen, die gesamte Atmosphäre und die grundlegenden Logiken unterscheiden sich in Schule und Familie derart, dass sich viele Jugendliche in der Schule permanent unwohl fühlen. Daher streben sie danach, so schnell wie möglich die Schulzeit bzw. Lernphasen zu beenden.”
Quelle (Seite 127):
https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=db25b34c-1fa9-18ca-8880-e6dc8e997ed6&groupId=252038