27. Juli 2024

Quo vadis, Gymnasium? oder Abzocke auf bernisch

Eigentlich eine unfassbare Geschichte aus dem Kanton Bern: Da werden für Maturaprüfungen von den Eltern horrende Gebühren erhoben und, obwohl diese nicht stattgefunden haben, als Aufwandsentschädigung verbucht. Dass es im Kanton Bern überhaupt solche Gebühren gibt, wusste nicht einmal unser Condorcet-Autor Alain Pichard, der doch Kinder hat mit einer Berner Matur in der Tasche.

Alain Pichard:
Es droht der sozialökonomische Filter.

Kurz vor den Ferien meldete sich bei mir eine Mutter einer sehr begabten und fleissigen Tochter. Diese hatte den Sprung ans Gymnasium auf Empfehlung geschafft. Die Familie war sehr stolz, weil soeben auch ihre Zwillinge das FMS-Diplom erhalten hatten (Fachmittelschule). Dieses Diplom erhielten sie ohne die obligate Abschlussprüfung. Denn wie die Maturprüfungen waren auch die FMS-Prüfungen abgesagt worden. Die Schülerinnen nahmen dies relativ locker. Nicht so die Eltern. Diese mussten nämlich für die Prüfung, die gar nicht stattgefunden hatte, eine Prüfungsgebühr von 250 Fr. bezahlen. Das macht für diese Familie mit ihren Zwillingen 500.- Fr. Zu meinem grossen Erstaunen vernahm ich, dass der Kanton Bern seit vielen Jahren für die Matur- und die FMS-Prüfungen eine Gebühr erhebt. Sie blieb lange unverändert. Vor etwa zehn Jahren war sie im Rahmen einer Überprüfung aller Gebühren von 200 CHF auf 250 CHF angehoben worden. Marcel Cuttaz, Generalsekretär der Berner Erziehungsdirektion erklärte gegenüber dem Condorcet-Blog: «Die Gebühren decken so immer noch nicht die vollen Kosten für die Prüfungskommissionen und den Einsatz der Expertinnen und Experten.»

 

Der Kanton Bern: Ziemlich allein

Der Kanton Bern scheint diesbezüglich ein Alleinstellungsmerkmal zu besitzen: Auf Anfrage erklärten unsere Mitarbeiter in den Kantonen Solothurn, Basel, Baselland, Aarau und Zürich, dass es in diesen Kantonen keine solche Gebühr gebe.

Eine weitere Mutter wehrte sich. Sie fragte, ob sie, da diese Prüfungen ja gar nicht stattgefunden hätten, die bereits bezahlten Gebühren zurückerstattet bekomme. Sie erhielt einen abschlägigen Bescheid. Generalsekretär Cuttaz begründete ihn folgendermassen:

«Der Grund dafür, dass auch dieses Jahr die Gebühr erhoben wird, liegt darin, dass das Abschlussverfahren auch dieses Jahr stattfindet. Alle Maturandinnen und Maturanden und FMS-Schülerinnen und -Schüler, welche das Verfahren bestehen, bekommen ein vollwertiges Abschlusszeugnis. Alle Vorbereitungsarbeiten für die Prüfungen erfolgten vor dem Entscheid des Bundesrates vom 29. April 2020. Zudem sind nur die Schülerinnen und Schüler von den Prüfungen dispensiert, welchen aufgrund der Erfahrungsnoten der Maturitätsausweis bzw. der Fachmittelschulausweis ausgestellt werden kann. Die anderen Schülerinnen und Schüler sowie die Absolvierenden der Fachmaturität und der Passerelle müssen zur Prüfung antreten.»

Frau Nancy Bogec, Sachbearbeiterin bei der bernischen Erziehungsdirektion, formulierte es folgendermassen: «Ein grosser Teil der Vorbereitungsarbeiten war also nötig, einige Arbeiten fallen weg, andere kommen in diesem Jahr aber dazu, damit die Prüfungskommission letztlich die Maturitätszeugnisse ausstellen kann.»

Der Schreiber kann sich allerdings noch an eine Zeit erinnern, in welcher die Lehrkräfte auf die Barrikaden gegangen wären, um das Prinzip der Unentgeltlichkeit des Unterrichts zu verteidigen.

Kommentar: Gebühren für etwas zu verlangen, wofür gar keine Leistung erbracht wurde, ist Abzockerei.

Somit bezahlen ca. 2000 Maturandinnen und Maturanden für eine nicht stattfindende Prüfung je 250 Fr.  Aufwandsentschädigung, was fast eine halbe Million Franken in «die Kassen» (in welche?) spült. Der Begriff «Aufwandsentschädigung» ist natürlich nebulös. Eine nicht stattfindende Prüfung hat enorm kostensenkende Konsequenzen. Experten ein- und wieder auszuladen, das Schreiben von Zeugnissen usw. kann doch nicht solch horrende Summen rechtfertigen. Und mit Gebühren andere Prüfungen quer zu subventionieren, ist schlicht gesetzeswidrig. Für Familien mit relativ gutem Einkommen ist das alles zwar bezahlbar, aber nicht nachzuvollziehen. Für Familie H., die für ihre Zwillinge 500 Fr. Prüfungsgebühren bezahlen musste, stellt diese Summe eine deftige finanzielle Belastung dar.

Michael Ritter, Grossrat GLP, Kt. Bern: Motion eingereicht, welche die Gebühr abschaffen soll.

Grundsätzlich sind solche Gebühren für einen Kanton, der von seinen Bürgerinnen und Bürgern ohnehin schon ziemlich hohe Steuern abverlangt, fragwürdig. Das sah auch der GLP-Grossrat Michael Ritter so und lancierte nach Bekanntwerden dieser Vorgänge eine überparteiliche Motion: «Der Regierungsrat wird wie folgt beauftragt, die Gebühren für Abschlussprüfungen an Mittelschulen (Maturitätsschulen, Fachmittelschulen und weitere Schulen, die primär auf den Übertritt an eine Hochschule vorbereiten) abzuschaffen, ggf. vorbehältlich Gebühren bei Prüfungsabmeldungen ohne triftigen Grund.»

Der Besuch eines Gymnasiums belastet die Eltern ohnehin schon zu Genüge. Neben den Lehrmitteln, den Schulreise- und Exkursionskosten erhielt Familie «Zwilling» ein Schreiben des Gymnasiums für die jüngste Tochter, die ab August – wie erwähnt –  ins Gymnasium Biel-Seeland eintritt. Es wurde dringendst empfohlen, für sie einen Laptop anzuschaffen, der den hohen Ansprüchen der Schule entspricht. Markenangaben und detaillierte Anforderungen wurden mitgeliefert: Kostenpunkt 1’400 Fr. Gleichzeitig ist in diesen Tagen in unserem Hochsteuerkanton die erste Rate der Steuern fällig. Irgendwann einmal – wenn dies nicht schon jetzt der Fall ist – setzt ein sozialökonomischer Filter ein, den wir in Sonntagsreden immer wieder wortreich bekämpfen. Der Schreiber kann sich allerdings noch an eine Zeit erinnern, in welcher die Lehrkräfte auf die Barrikaden gegangen wären, um das Prinzip der Unentgeltlichkeit des Unterrichts zu verteidigen,

 

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Endlich – wir sind digital!

Am Dienstag wird der vorzügliche Text von Condorcet-Autor Felix Hoffman (bereits erschienen in der Septemberausgabe des lvb-inform) zum Thema der Digitalisierung aufgeschaltet. Condorcet-Autor Alain Pichard hat ihn bereits gelesen, was ihn zu einer Kolumne inspiriert hat.

«Streulicht» von Deniz Ohde – Eine Buchbesprechung

Condorcet-Autor Georg Geiger beginnt das Jahr 21 mit einem Lesevorschlag! Das Buch von Deniz Ohde: Streulicht kann fast als Romanform der soziologischen Analyse von Aladin El-Mafaalani gelesen werden, ein Buch, das unser Georg Geiger bereits im Juli vergangenen Jahres in unserem Blog vorstellte (https://condorcet.ch/2020/07/mythos-bildung-eine-buchbesprechung/).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert