Im Leben eines Schulmeisters gibt es manchmal Zufälle, welche weite Wege gehen; danach ist es schwierig, dem Ganzen im Nachhinein eine Absicht zu unterstellen. Als ich im November vergangenen Jahres mit meiner Theaterwahlfachgruppe darüber diskutierte, welches Art von Stück man einstudieren und aufführen wollte, setzte sich nach kurzer Diskussion eine Novelle von Dino Buzzati (1906–1972) durch. Diese Wahl sollte sich als prophetisch erweisen.
1953 schrieb der italienische Schriftsteller den Text «Das Haus mit den 7 Stockwerken», in der eine Krankengeschichte erzählt. Die Rede ist von einem gewissen Giuseppe Corte, «der nach eintägiger Bahnreise an einem Märzmorgen in die Stadt kommt, in der die berühmte Heilstätte liegt, die nachts und aus der Ferne betrachtet einem riesigen Palast gleicht.»
Die Geschichte eines albtraumartigen Abstiegs
Man erfährt nie, um welche rätselhafte Krankheit es genau geht, die auch nur in diesem einen Sanatorium behandelt wird. In einer wunderbar literarischen Sprache beginnt nun eine Geschichte, die in einem Albtraum endet. Das Sanatorium hat 6 Stockwerke, die graduell nach der Schwere der Krankheit unterteilt werden. Corte, nach dem Urteil der Ärzte zu einem äusserst leichten Fall erklärt, wird zunächst im obersten Stockwerk einquartiert. Danach beginnt allerdings ein Abstieg in die unteren Stockwerke, der nie explizit mit einer Verschlechterung seines Zustandes zusammenhängt, sondern immer nur durch eine Verkettung unmöglicher Zufälle und Fehler passiert.
Kafkaesk
Der Leser stößt in dieser Novelle immer wieder auf eine doppelbödige, doppelgesichtige Welt, weswegen man auch mit einer ganzen Reihe von Adjektiven versucht hat, das Werk dieses „Meisters der phantastischen Erzählkunst“ zu beschreiben. Das kann auch für den Deutschunterricht attraktiv sein. Ich gab den Schülern folgende Adjektive zur Recherche und Einordnung:
„übersinnlich – irreal – surreal – symbolisch – allegorisch – metaphorisch – metaphysisch – transzendierend – magisch – existenzialistisch etc.“
Zweifellos kann Buzzati mit Kafka verglichen werden. Aber keine Angst, «Das Haus mit den 7 Stockwerken» ist unglaublich spannend geschrieben und trotz der sehr literarischen Sprache leicht verständlich. Und die Erzählung bietet gerade wegen seiner surrealen Momente breiten Diskussionsstoff.
Verschiedene Interpretationsmöglichkeiten
Ich habe aus dieser Kurzgeschichte eine Theaterversion verfasst. Sie enthält neben der anspruchsvollen Hauptrolle des Herrn Corte 17 weitere Personen, ist also für eine Aufführung mit einer Klasse gut geeignet. Meine Theaterversion folgt allerdings einer anderen Interpretation als der des italienischen Meisters. Sie ist direkter, satirischer und schräger. In meiner Auslegung geht es mehr um Anpassung und Widerstand.
Buzatti fand – getreu seiner anderen Werke («Die Tatarenwüste») –, dass der Held keine andere Möglichkeit habe, als sich seinem Schicksal zu beugen. Handlungsfreiheit entpuppe sich nach Buzatti als Illusion. Der Verleger Klaus Wagenbach schrieb dazu: „Der Einzelne, isoliert, blind für andere, wird zurückgeworfen auf sich selbst, erblindet schließlich sogar gegenüber dem eigenen Schicksal. Er wartet auf das Unerwartete, sein Lebensraum wird die Ungewissheit.“
Man kann diese Erzählung, die bereits 1937 erschien, allerdings auch als eine Parabel auf jene anonymisierte, durchorganisierte Klinikmaschinerie deuten, die durch die Überbewertung aller organisatorisch formaler Effizienz Menschenferne praktiziert. Wie auch immer – und das ist der grosse Wert dieser Geschichte – eröffnet die Surrealität in Buzzatis Erzählung auch Möglichkeiten, das Absurde in Reales umzudeuten.
Ende einer Idee – Geburt einer neuen Idee
Wir legten die Aufführung im Mai 2020 fest. Dann kamen Corona, Schulhausschliessungen, Homeschooling und die Weisungen des Bundesrates. Wir mussten das Projekt begraben.
Ich schickte aber die literarische Vorlage und meine Theaterversion per Post an meine Deutschschüler. Es folgten Interpretationsaufträge, Filmaufnahmen eigener Positionen der Schülerinnen per Threema und eine Lesung im Zoom-Format. Es erwies sich, dass meine Schüler von dem Stück begeistert waren. Somit verteilte ich die Rollen und stellt den Schülerinnen in Aussicht, dass man nach der Wiedereröffnung der Schulen daraus ein Hörspiel machen könnte.
Am 11. Mai erfolgte schliesslich eine zaghafte Wiederaufnahme des Unterrichts. Und als uns weitere Lockerungen in Aussicht gestellt wurden, produzierten wir das Hörspiel. Es ist mittlerweile auf Youtube aufgeschaltet.
Nachdem dann der Bundesrat anfangs Juni noch weitergehende Lockerungen beschlossen hatte, gelang es uns mit dem Theaterpädagogen Daniel Nobs doch noch, eine kleine Theateraufführung auf die Beine zu stellen.
Die Novelle von Dino Buzzati eignet sich bestens für den Deutschunterricht, mit oder ohne Theaterversion. Die Aufführung dauert 35 Minuten.
Deutschaufträge, Theaterversion und Quellenangaben können bestellt werden unter:
Alain Pichard, arkadi@bluemail.ch oder unter der Nr. +41 79 417 96 36.