24. Dezember 2024

Berlins «härtester» Schulleiter darf weitermachen

Von einer spannenden Personalie berichtet uns Condorcet-Autor Alain Pichard. Es geht um einen «harten» Schulleiter, um eine in ihrer Wunschprosa gekränkten Bildungsbürokratie und um die alte Frage der Pädagogik: Wieviel Disziplin verträgt es?

Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): Die Bildungsbürokratie ist gekränkt.

Vor 15 Jahren war er berüchtigt für seine drakonischen Strafen, inzwischen bekannt für seinen Erfolg: Die von Michael Rudolph geleitete Friedrich-Bergius-Schule in Friedenau gehört zu den wenigen Berliner Sekundarschulen ohne gymnasiale Oberstufe, die ständig übernachgefragt sind (Tagesspiegel 20.5.20). Die LeserInnen unseres Blogs in der Schweiz werden sich nun fragen, was es mit dem Wort «übernachgefragt» auf sich hat.

Nun, in Berlin können Eltern die Schule, dazu gehören auch staatliche Schulen, in die sie ihre Kinder  schicken wollen, selbst auswählen. Es liegt natürlich auf der Hand, dass in diesem System sozial weniger belastete Schulen mehr Zulauf erhalten als die sogenannten Brennpunktschulen. Und von denen hat es in der deutschen Bundeshauptstadt bekanntlich nicht wenige.

Natürlich hat die Aufnahmekapazität auch bei den «besten» also «nachgefragten» Schulen ihre Grenzen. Irgendwann ist Schluss. Daher der Begrifft «übernachgefragt»!

Hervorragende Performance

Doch kommen wir zurück auf die Friedrich-Bergius-Schule im Berliner Stadtbezirk Friedenau. Ihr Erfolg ist messbar: nicht nur anhand der guten Schülerleistungen und der guten Eckdaten etwa in Bezug auf geringe Schwänzerzahlen und dem massiven Rückgang an Vandalismus und Gewalt, sondern vor allem anhand der hohen Nachfrage – nachdem er 2005 die Leitungsstelle übernommen hatte, waren die Bewerberzahlen sofort rapide von unter 40 auf mehr als 90 Schüler gestiegen. Längst gibt es ständig über 100 Bewerber: Zum elften Mal in Folge war die Schule auch jetzt wieder übernachgefragt. Mit anderen Worten: Michael Rudolph hat mit seiner Crew den Turnaround geschafft.

Die Schule hat so große Defizite, dass sie zu den rund sieben Prozent Problemschulen gehört, die Hilfe von außen bekommen müssen.

Miserabler Inspektionsbericht

Schulleiter Rudolph empfänt die Schülerinnen: An dieser Schule herrschen klare Regeln.

Wie alle Schulen in Berlin muss sich auch die Friedrich-Bergius-Schule einer regelmässigen Inspektion unterziehen. Vergangenes Jahr präsentierte das Inspektionsteam einen Bericht, der vor Negativbotschaften nur so wimmelte und mit dem entsprechenden Fazit endete: Der Sekundarschule wurde ein “erheblicher Entwicklungsbedarf” attestiert. Übersetzt heißt das: Die Schule hat so große Defizite, dass sie zu den rund sieben Prozent Problemschulen gehört, die Hilfe von außen bekommen müssen. Der Inspektionsbericht nannte im Fazit nur zwei Stärken: eine “hohe Identifikation der Lehrkräfte und Eltern mit den Zielen der Schule” sowie ein “von allen Beteiligten anerkanntes Schulleitungshandeln”.

Vernachlässigung des Schulprogramms, der Unterrichtsentwicklung und der Kompetenzorientierung.

Dann aber kommt es knüppeldick: Sechs Schwächen – unter “Entwicklungsbedarf” – werden aufgelistet, darunter die Vernachlässigung des Schulprogramms, der Unterrichtsentwicklung und der Kompetenzorientierung. Zudem verstoße der Schulleiter gegen rechtliche Vorgaben bei der Schulorganisation, etwa dadurch, dass Lehrer weniger Stunden als vorgeschrieben regulär unterrichten, um als feste Vertretungskräfte zur Verfügung zu stehen. Und er lasse zu wenig Partizipationsmöglichkeiten zu.

Konsternierte Eltern

Rundherum rieb man sich die Augen. Die Eltern waren konsterniert, die Lehrkräfte schüttelten den Kopf und der inzwischen im Pensionsalter stehende Schulleiter kommentierte den Bericht mit den galligen Worte: «Folgt man diesen Empfehlungen, könne man die Schule abschaffen.»

Das wiederum empfand die Berliner Schulbehörde als illoyal. „Die Meinungsfreiheit entbindet nicht von der Loyalität gegenüber dem Dienstherrn“, liess sich die Bildungsbehörde verlauten.

Als dann die Behörden den Wunsch von Rudolph, noch ein weiteres Jahr als Schulleiter über seine Pensionierung hinaus wirken zu dürfen, trotz des grassierenden Lehrermangels ablehnten, brach ein Sturm der Entrüstung los.

Ende gut, alles gut?

Als dann die Behörden den Wunsch von Rudolph, noch ein weiteres Jahr als Schulleiter über seine Pensionierung hinaus wirken zu dürfen, trotz des grassierenden Lehrermangels ablehnten, brach ein Sturm der Entrüstung los. Bis ins linke Lager hinein war man sich einig, dass es nicht sein könne, einen so erfolgreichen Schulleiter, der überdies auch noch die Pensionskasse mit seinem Entscheid entlastet, aus dem Amt zu entfernen.

Wie die Berliner Zeitung Tagesspiegel, nun berichtet, kam es kurz darauf zu einem Wechsel an der Spitze der Bildungsverwaltung: «Der Bildungsstaatssekretär Mark Rackles (SPD) räumte seinen Posten. Seine Nachfolgerin Beate Stoffers (SPD) entschied umgehend, Rudolph die Verlängerung einer Beschäftigung zu gestatten – und votierte nun offenbar dafür, ihn ein weiteres Jahr im Amt zu lassen.» (Tagesspiegel 20.5.20)

Ruth Wiederkehr, Schulleiterin, OSZ-Mett-Bözingen: Kein Chaos!
Kurt Neujahr, Schulleiter, OSZ-Mett-Bözingen: Behördliche Weisungen pragmatisch umsetzen.

Der Condorcet-Blog berichtete schon mehrfach über eigenwillige Schulen, welche sich den pädagogischen Modeströmungen von Schreibtischplanern widersetzt und stattdessen eine eigene pragmatische Agenda verfolgt haben. Die beiden Schulleiter Ruth Wiederkehr und Kurt Neujahr am OSZ-Mett-Bözingen in Biel («Hier spüren die Lehrer, dass sie gebraucht werden» https://condorcet.ch/2019/05/die-lehrkraefte-spueren-hier-werde-ich-gebraucht/) haben unter schwierigsten Bedingungen ebenso erfolgreich gewirkt wie die Brennpunktschule Michaela Community School aus dem unterprivilegierten, mehrheitlich von ethnischen Minderheiten bewohnten Londoner Stadtbezirk Brent. Dort war es die charismatische Schulleiterin Katharine Birbalsingh, welche den Behörden vorwarf: «Das heutige Schulsystem hält die Schüler arm» (https://condorcet.ch/2020/02/brennpunktschule-uebertrifft-alle/).

Katahrina Birbalsingh, Schulleiterin Michaela School, London: Die Bildungsforscher sollten auch von uns lernen.

Obwohl die pädagogischen Mittel und die konkreten Massnahmen in allen drei Schulen sehr unterschiedlich angewandt wurden, gab es dennoch fünf Gemeinsamkeiten:

  1. Alle drei Schulen gelten als Brennpunktschulen mit vielen sozial benachteiligten SchülerInnen.
  2. Alle drei Schulleitungen haben ihre eigenen Wege gesucht und sich nicht gescheut, auch bei den Behörden und Bildungswissenschaftlern anzuecken.
  3. Bei allen drei Schulleitungen gilt, es muss Ordnung herrschen, es darf kein Chaos geben, Unterricht muss stattfinden können, Disziplinlosigkeiten und Absentismus werden nicht geduldet.
  4. Die Lehrkräfte aller drei Schulen verlangen etwas von den SchülerInnen und unterrichten nach dem Prinzip: Eine Schule ist dann gut, wenn ihre Schüler etwas lernen.
  5. Alle drei Schulen haben bei den Eltern eine sehr hohe Akzeptanz.

Dagegen stehen hochstehende pädagogische Ziele, oftmals mit massiven Glaubenssätzen behaftet, die ausserhalb der Reichweite von Unterricht stehen. Wie sagte es einmal Frau Birbalsingh im Guardian: «Wir sind bereit, auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu hören und von den Bildungsexperten zu lernen. Ich erwarte aber auch von ihnen, dass sie von der Praxis lernen.»

Das denkt auch Michael Rudolph, den man vor einem Jahr in Wuppertal im Rahmen der «Time for Change»-Tagung treffen konnte. Er fühlte sich wohl unter den “Rebellen”.

Alain Pichard

 

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Eine Erosion des Bildungswesens

Als vor bald 20 Jahren in der Schweiz das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft trat, gab die Bildungspolitik unter dem Stichwort “Inklusion” ein grosses Versprechen ab: Alle Kinder, egal, wie verschieden sie sind, sollen einen Platz in den Regelklassen finden – unabhängig von Lernschwierigkeiten, schulischer Begabung, psychischen Problemen oder Verhaltensstörungen. Die “Inklusion” ist eines der grossen Dogmen der Bildungsreformer. Aber was gut gemeint ist, stösst in der Praxis an Grenzen. Die Sonntagszeitung veröffentlichte vor kurzem einen Bericht eines anonymen Lehrers, der bald eine 9. Klasse aus der obligatorischen Schulzeit entlassen wird. Fazit: Kaum notiert von der Öffentlichkeit, stellen wir eine eigentliche Erosion der Bildungsqualität fest. Opfer sind wie immer die unterprivilegierten Kinder und die Einwanderergeneration. Der Autor ist der Redaktion der Sonntagszeitung bekannt.

Die Problemkinder der Generation Z

Sind Schulkinder unkontrollierbar geworden? Weil es an aktuellen OECD-Studien zur Lage der Lehrer mangelt, hat die Brüssler Tageszeitung „Le Soir“ zehn Experten befragt: Nicht nur die Schüler seien schwieriger geworden. Eine entscheidende Rolle spielten die Eltern. Ein Bericht von Charlotte Hutin.

2 Kommentare

  1. Ich habe 8 Jahre in Berlin unterrichtet, davon 6 an einer Gesamtschule in Spandau, als sogenannte Brennpunktschule ein ähnliches Pflaster wie die Friedrich Bergius-Schule. Die Verhältnisse sind mir also bekannt. Wir hatten auch mit manchen Seltsamkeiten zu kämpfen, z.B. dass die Lehrerausbildner der Sekundarstufe immer Stunden mit dem neuesten didaktischen Schnicksack sehen wollten, die bei diesen Schülern definitiv nicht funktionierten und die solche Lektionen in der Regel boykottierten. In Vorführ- oder Examensstunden mussten wir die Schüler daher um ein Ausnahmeverhalten zugunsten der Referendare bitten, damit diese ihre Prüfungen bestanden. Die Schüler haben zwar gerne mitgespielt, waren aber froh, wenn wir wieder zum “Bandenführerstil” übergingen, sprich: eng geführter Klassenunterricht mit hoher Ausrichtung auf die Lehrperson. Experimentiert wurde immer erst dann, wenn die Bindungen stabil waren und die “Hierarchiefrage” definitiv als geklärt galt. Unsere Schule war von vielen Alt-68ern aufgebaut worden, die alle von ihrem emanzipatorisch-partizipatorischen Ansatz aufgrund des Scheitern bei dieser Schülerklientel abgerückt waren. Das neue und sehr gut funktionierende Credo hiess: Null-Toleranz gegenüber physischer, verbaler Gewalt und Vandalismus, demonstrativer Opferschutz, Disziplin und eine einheitliche Haltung von Lehrerschaft und Schulleitung, die sehr präsent sein musste und es auch war. Es war ein Fest zu erleben, wie gut das funktionierte, wie schnell man so hartgesottene “Halunken” zur Raison brachte und wie sehr die Schülerschaft als Ganzes davon profitierten. Auch für Schüler aus prekären Verhältnissen wurde die Schule ein sicheres “Zuhause”, in dem sie sich beruhigen und lernen können. Nachdem ich die Schule verlassen hatte, wurde der Schulleiter krank und zwei Jahre lang nicht ersetzt. Aufgrund von Sparmassnahmen wurden zudem die Klassengrösse von maximal 30 (eh schon enorm hoch, aber mit klarer Führung machbar) auf bis zu 34 hochgesetzt und die Pflichtlektionenzahl unbezahlt um 2 Lektionen erhöht. Ich habe zwei meiner stabilisten Kollegen, wahre “Felsen in der Brandung”, bald darauf in der Klinik besuchen müssen mit Burnout-Diagnose. Ohne einen Schulleiter wie Michael Rudolph droht das Gleiche der Friedrich-Bergesius-Schule. Apropos Burnout: Als ich 2000 in die Schweiz kam, gab es dieses Phänomen hier nicht. In Deutschland dagegen traf es gut 10 % der Lehrerschaft in manch einer Schule. Inzwischen haben wir hier sogar im Gymnasium die ersten Kollegen mit Burnout-Problematik. Woran das wohl liegen mag?

    1. Eindrücklich, was Yasemin Dinekli schreibt. Sie bestätigt, was unzählige Lehrerinnen und Lehrer beim Einstieg in den Schulalltag erleben. Wer mit schwierigen Klassen gut auskommen und die Schüler fürs Lernen gewinnen will, muss bereit sein, eine klare Führungsrolle zu übernehmen.
      Nicht nur in Berlin, auch bei uns sind viele Studierende für diese Aufgabe nur unzureichend vorbereitet. Die Engagierten merken aber rasch, dass eine gewisse Strenge und pädagogische Festigkeit zur Führung einer Klasse unumgänglich ist. Prägend in dieser Anfangsphase ist das Kollegium im eigenen Haus. Wo ein Lehrerkollegium Mut zeigt und pragmatisch die gestellten Aufgaben löst, läuft es eindeutig besser.
      Leider gibt es mancherorts Schulteams, bei denen brave Anpassung an hierarchische Strukturen mehr zählt als ein offener Dialog über gute Wege in der Pädagogik. Das ist sicher eine unerfreuliche Entwicklung in der Schweizer Schullandschaft. Duckmäusertum passt in keiner Weise zu unserem Demokratieverständnis, das ein starkes Urteilsvermögen seiner Stimmbürgerinnen und Stimmbürger voraussetzt.
      Ein Grund für diese Ängstlichkeit mancher Lehrpersonen mag darin liegen, dass in der aktuellen Pädagogik der Dialog zwischen Theorie und Praxis allzu oft nicht mehr auf Augenhöhe stattfindet. Bedenklich ist, wenn fundierte Kritik von Schulpraktikern missachtet und gehorsames Ausführen hingegen als höhere Tugend eingeschätzt wird. Umso mehr freue ich mich, wenn Lehrerinnen wie Yasemin Dinekli mit einem klaren Urteilsvermögen viel Mut im täglichen Schulbetrieb zeigen und ihrer überzeugenden Linie treu bleiben.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert