Diese Kolumne ist für dich Andrea, die du einer Schülerin angerufen hast, die ihre Arbeit nicht rechtzeitig abgegeben hatte. Sie erzählte dir, dass sie um 17.00 Uhr eingeschlafen und erst später am Abend aufgewacht sei. Kein Vater mehr, die Mutter an der Arbeit, Bruder am Gamen, Nachtessen aus dem Kühlschrank. Völlig allein auf sich gestellt. Sie weinte. Du redetest mit ihr. 20 Minuten lang, sprachst ihr Mut zu, vereinbartest eine Strategie, versprachst, sie am nächsten Tag wieder anzurufen. Dieser Text ist für dich Annemarie. Als Fachlehrerin im Gestalten schicktest du allen deinen Schülerinnen ein Couvert per Post. Darin enthalten, ein Werkauftrag, eine Anleitung, ein persönliches Schreiben und eine kleine Süssigkeit. Deine Intention: Die Schüler zwischendurch einmal vom Computer wegzuholen. Dieser Text ist für dich Fabian. Als die Schulschliessungen beschlossen waren, arbeitetest du als Informatikbeauftragter der Schule über das Wochenende bis tief in die Nacht an der Erstellung von Lernplattformen, bereitetest unsere Laptops zur Ausleihe vor, kreiertest Gebrauchsanweisungen, brachtest uns auf den nötigen Standard und sorgtest für die erste Videokonferenz in unserem Kollegium.
Dieser Text ist für dich, Ursula, die seit vier Jahren pensionierte Lehrerin, du, die sich ohne zu zögern bereiterklärte, deinen ehemaligen Kolleginnen bei ihren immensen Korrekturarbeiten zu helfen. Dieser Text ist für dich Franziska*, Altenpflegerin. Als deine Ärztin dich wegen eines zu hohen Blutdrucks während des Corona-Lockdowns krankschreiben wollte, lehntest du dies ab: «Meine Leute brauchen mich!» Dieser Text ist für dich Oskar, der du auf die Miete eines Ateliers verzichtet wolltest, weil die Künstlerin Mühe hatte, ihre laufenden Ausgaben zu bestreiten. Dieser Text ist für dich, Verena*, die du dieses Angebot ablehntest mit den Worten, du hättest noch Aufträge, dass du dich aber melden würdest, wenn es nicht mehr ginge. Dieser Text ist für dich Nicolas, der du mit Ruhe und Zuversicht deinen Gartenbaubetrieb weiterführst, du, der mit mir während der Schulhausschliessung die Umgestaltung des Schulhausareals mit Naturwiese und Begegnungsort und die Mitarbeit der Schüler einplantest, ohne zu jammern, ohne zu klagen. Dieser Text ist für dich, Véronique, die mir unbekannte Verkäuferin der Food-Abteilung von MANOR. Du, die du freundlich und aufgestellt für uns Kunden da warst, dir nichts anmerken liessest, hilfsbereit Auskunft gabst ohne eine Spur von Panik. Dieser Text ist für euch, die Kinder der Familie Eggli, die ihr im Lindenquartier den älteren Menschen eine Nachricht in den Briefkasten legtet mit dem Angebot, für sie die Einkäufe zu erledigen. Dieser Text ist für dich Christa, du, die als CEO der Postautobetriebe nach dem Lockdown innert 48 Stunden den gesamten Postautobus-Plan umgestaltet hast, ohne dich ein einziges Mal aufzuregen. Dieser Text ist für dich, Nora, Ärztin in der Intensivabteilung des Inselspitals, die du ruhig und zuversichtlich auf deine Corona-Patienten wartest und keinen Zweifel darüber lässt, dass ihr das schaffen werdet. Dieser Text ist für euch zwei Unbekannte, der eine Migrant, die andere eine ältere Dame, die ihr jeweils auf dem Bänkchen sitzt. Jeden Tag, mit Abstand, wie geheissen. Und wenn ich beim Joggen an euch vorbeirenne, winkt und lächelt ihr mir immer zu. Dieser Text ist für euch, wenige Journalisten, die ihr auf Panikmache, Schuldzuweisungen, Verschwörungstheorien und politische Abrechnungen verzichtet habt und euch auf das besinnt, was euer Beruf verlangt: Berichten, was ist. Dieser Text ist für euch, meine Schülerinnen und Schüler, die ihr jeder für sich, alleine oder von der Familie betreut, tapfer und zuverlässig eure Aufträge zu Hause erledigt und mir Tag für Tag eure wunderbaren Tagebucheinträge schickt. Texte, beseelt von einem Wunsch, dass die Schulschliessung möglichst bald ein Ende findet.
* Diese Namen wurden geändert
Alain Pichard