3. Dezember 2024

Unser System war institutionell noch nie so durchlässig

Peter Aebersold, ehemaliger Lehrlingsausbildner, Fernkurslehrer und Bezirksschulpfleger aus Zürich, ist im Condorcet-Blog kein Unbekannter. Er hat schon zahlreiche Beiträge kommentiert. Auch Peter Aebersold sieht sich zu einer Replik auf Hans Joss veranlasst. Und so erscheint hier nun sein erster Artikel.

Seit 30 Jahren werden die spezialisierten Einrichtungen zur Förderung der schwächeren Schüler abgebaut (von Heilpädagogen geführte Kleinklassen, Einführungsklassen, verschiedene Typen von Sonderschulen usw.). Es wird alles getan, um die angeblich schädliche Selektion vermeiden zu können (schwächere Schüler werden in Regelklassen integriert, Ober- und Realschulen werden in Sekundarschulen unbenannt, Sek C-Klassen werden aufgelöst, der Kindergarten wird zur Schule, Jahrgänge werden durchmischt, schwächere Schüler werden von Lernzielen befreit und erhalten bessere Noten, Noten werden abgeschafft, Schüler kommen in die nächste Schulklasse, auch wenn sie das Jahrgangsziel nicht erreichen und ihre Lücken immer grösser werden, Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder werden ausgebaut usw.). Die Durchlässigkeit der Volksschule war noch nie so hoch. Um Gleichheit herstellen zu können, wird ausgerechnet die Heterogenität gefördert. Ziel ist die Einheitsschule (Regelschule) nach Lehrplan 21, die endlich die Chancengleichheit bringen soll.

Der Anteil schwacher Schüler ist gestiegen

Und das Resultat dieser 30-jährigen Reformen? Der Anteil schwacher Schüler ist massiv gestiegen. Bei Pisa 2015 waren es hohe 20 Prozent und bei Pisa 2018 sind es bereits 24 Prozent aller Schulabgänger, die nach 11 Schuljahren einen Text nicht mehr verstehen können. Die Einführung der kompetenzorientierten Einheits- oder Gesamtschule anstelle des traditionellen Schulsystems erleidet auch in anderen Ländern Schiffbruch, allen voran der einstige Pisa-Sieger Finnland und das deutsche “Musterländle” Baden-Württemberg.

Wem dient diese Entwicklung?

Die Arbeiterbewegung führte einst Elternschulen.

Warum ist das so? Die schulische Selektion sollte ja auch dazu dienen, die schwächeren Schüler zu erfassen und ihnen eine optimale Förderung zukommen zu lassen. Entwicklungsrückstände und entmutigte Kinder können schon im Kindergarten und in der Unter- und Mittelstufe festgestellt werden, lange bevor die schulische Selektion einsetzt. Können die Defizite in dieser Zeit nicht behoben werden, ist die Chance, dass sie in einer nicht selektiven Sekundarstufe (Regel-, Gesamtschule) aufgeholt werden können, verschwindend klein, weil der immer grösser werdende Abstand zu den stärkeren Schülern die schwächeren Schüler tagtäglich immer mehr entmutigt. Nicht die Selektion führt zur Armut, sondern schwache Leistungen und ein tiefes Ausbildungsniveau.

Die “Selektion” beginnt bereits im Elternhaus und hält sich hartnäckig, wenn Eltern ihre Kinder nicht zum Lernen ermutigen, weil sie selbst schwache Schüler waren und glauben, es ihren Kindern vererbt zu haben. Umgekehrt trauen Eltern, die dagegen gute Schüler waren, das normalerweise auch ihren Kindern zu, und sie werden alles unternehmen, um die Kinder schon von klein auf entsprechend zu fördern. Die Schulreformbewegung im Roten Wien hatte deshalb Elternschulen gegründet, um auch bildungsferne Eltern aufzuklären, wie sie ihre Kinder zum Lernen ermutigen können.

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Ein Kommentar

  1. Kleine Anmerkung zur Zahl der Schüler, die nicht lesen können. 24 Prozent liegen unterhalb des Niveaus 2 (von deren 6). Das bedeutet, dass noch wesentlich mehr als 24 Prozent einen Text nicht verstehen können. Zählt man die Schüler in den beiden tiefsten Niveaus zusammen, kommt man auf 47 Prozent – also knapp die Hälfte der gesamten Schülerpopulation.

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